Es besitzt seine eigene Pointe, wenn für Heideggers Philosophie Begriffe wie Entbergung, Unverborgenheit oder Lichtung von zentraler Bedeutung sind, während der Philosoph selbst das Geheimnis liebte, die Verschleierung und die List. So hat der "Meister aus Deutschland", wie ihn der Biograf Rüdiger Safranski einst tituliert hat, es etwa selbst bestimmt, dass man seine Notizbücher erst nach Abschluss der Gesamtausgabe veröffentlichen dürfe. Das ist inzwischen passiert - und die "Schwarzen Hefte" haben sich als geeignet erwiesen, die Diskussion um Heidegger neu zu entfachen und seine - ganz im Sinn des Erfinders - frag-würdige Philosophie bis auf Weiteres der zahllosen Fragen für würdig zu befinden.
Martin Heidegger, Sohn eines Mesners aus dem badischen Meßkirch, zählt zu den einflussreichsten und umstrittensten Philosophen des 20. Jahrhunderts. In seiner Philosophie geht es häufig um das Geschick. Er selbst besaß nicht immer großes Geschick - doch im Hinblick auf die die eigene Person betreffende Überlieferung bewies er solches sehr wohl.
Heidegger wusste, wie man sich und sein wegen des Verdachts auf Kontamination durch nationalsozialistisches Gedankengut in Verruf geratenes Denken rettet. Man holt es einfach aus der Zeit heraus und versetzt es ins Überzeitliche. Beispiel für diese Strategie ist sein legendäres "Spiegel"-Interview, in dem der notorische Überbietungsgestus des Philosophen sich unüberbietbar schon im Titel zu Wort meldet: "Nur ein Gott kann uns noch retten."
Heidegger verbot dem "Spiegel" die Veröffentlichung, solange er lebte
Der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister hält dagegen - und kontert diese allzu große Behauptung mit reichlich Kleingeld - womit er sich strikt an die Devise von Heideggers Lehrer Edmund Husserl hält. Der wusste Studenten, die mit großen Ideen gleich hoch hinaus wollten, mit der Aufforderung beizukommen, "Kleingeld zu geben". Hachmeister hat eine genaue und exzellent recherchierte Biografie des "Spiegel"-Interviews geliefert – und gezeigt, was für ein Coup darin gelegen hat, dass Heidegger es dem "Spiegel" verbot, das Gespräch zu publizieren, solange er lebte. So nämlich konnte es zum Mythos und zum Vermächtnis werden.
In Band 16 der Martin Heidegger-Gesamtausgabe, der unter dem Titel "Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges" firmiert, ist es als 253. Eintrag auf 32 Seiten abgedruckt: das sagenumwobene, eine Stunde und 40 Minuten dauernde Gespräch des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" mit Martin Heidegger zu Beginn des Herbstes 1966.
"Am Abend des 22. September 1966 nimmt eine kleine Reisegruppe den Nachtzug von Hamburg nach Freiburg im Breisgau. Dabei sind der einflussreichste deutsche Journalist des maßgebenden 'Nachrichtenmagazins', sein Ressortleiter für 'Geisteswissenschaften', eine junge Fotografin und ein Stenograf. Sie wollen den bekanntesten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts für ein lange und intensiv vorbereitetes Interview treffen."
Wer da anrückt, um in das Rötebuckhaus der Heideggers in Freiburg-Zähringen vorzudringen, das sind Rudolf Augstein, Herausgeber, Georg Wolff, Mitarbeiter und ehemaliger SS-Offizier, die Fotografin Digne Meller Marcovicz und der Stenograf Walter Steinbrecher. Dazu kommt Heinrich Wiegand Petzet, Verehrer und Berater des inzwischen 76-jährigen Philosophen, der zwischen ihm und dem "Spiegel" vermittelt hat. Heidegger erwartet seine Gäste an der Tür des Arbeitszimmers im ersten Stock.
Abneigung gegen lärmende Öffentlichkeit und Journalismus
Schon seit Heideggers Auslassungen über das uneigentliche "Man" in "Sein und Zeit" ist bekannt, dass der Philosoph eine ausgeprägte Abneigung gegen die lärmende Öffentlichkeit und den Journalismus als Ausdruck planetarischer Machenschaften hegt. So ist es für die Leute aus Hamburg wenig verwunderlich, dass sich der Philosoph lange und zäh gegen ein Interview mit der von ihm so apostrophierten Journaille zur Wehr setzt. Dass es dann doch noch zu einem Gespräch mit Augstein und seinen Getreuen kommt, erklärt Hachmeister in seinem Buch "Heideggers Testament" so:
"Aber auf eine seltsame Weise schätzt Martin Heidegger den 'Spiegel', vor allem dessen Herausgeber. Er liest das damals FDP-nahe, nationalliberale Wochenmagazin regelmäßig, die großbürgerliche 'Frankfurter Allgemeine Zeitung' ist ihm dagegen verhasst. 'Von dem erwarte ich noch viel', habe Heidegger über Augstein gesagt ... Enkelin Gertrud erinnert sich, dass ihre Großeltern den 'Spiegel' abonniert hatten: 'Und der wanderte dann über meinen Vater und meinen Onkel. Da wurde abgezeichnet, wer ihn gelesen hatte.'"
Wie Hachmeister zeigt, hatte sich Heidegger im Vorfeld ausgiebig und detailliert über die Themen- und Fragestruktur des Interviews informieren können. So ist er, als die 'Spiegel'-Mannschaft antritt, gut vorbereitet und hat in seinem Arbeitszimmer einiges zurechtgelegt, um die prekären Fragen, die sein Verhältnis zum NS-Staat erhellen sollen, bestmöglich parieren zu können.
Die Begegnung findet kurz nach zehn statt und endet erst gegen ein Uhr - dauert also drei Stunden. Das Tonbandprotokoll jedoch besitzt nur eine Länge von einer Stunde und 40 Minuten.
Man kommt gleich zur Sache. Augstein, dem ein besonderes Interesse an Metaphysik nicht nachgesagt werden kann und der später seine "Heiden-Angst" vor der Begegnung mit dem berühmten Philosophen bekannte, gibt sich ungewöhnlich pädagogisch, fast könnte man sagen: servil. In der von Heidegger autorisierten und in der Gesamtausgabe publizierten Fassung wird die Eröffnungsfrage so wiedergegeben:
"Herr Professor Heidegger, wir haben immer wieder festgestellt, dass Ihr philosophisches Werk ein wenig umschattet wird von nicht sehr lang währenden Vorkommnissen Ihres Lebens, die nie aufgehellt worden sind, weil Sie entweder zu stolz waren oder weil Sie nicht für zweckmäßig hielten, sich dazu zu äußern."
Mehr oder weniger inszeniert
Hachmeister demonstriert nun detailliert, wie der "Spiegel" dem Philosophen auf den Leim geht. Was nach einem Bekenntnisinterview aussieht, ist in Wahrheit eine mehr oder weniger inszenierte Angelegenheit. Der für das Ressort Geisteswissenschaften zuständige Georg Wolff ist ehemaliger SS-Offizier und insofern nicht unbedingt der geeignete Kandidat, um das Gespräch mit Heidegger maßgeblich zu konzipieren und diesem im Hinblick auf die Verstrickung mit dem Nationalsozialismus auf den Zahn zu fühlen. Dass seinerseits der damals 40-jährige Augstein ehemalige NS-Schergen beim "Spiegel" beschäftigt, wenn sie nicht gerade - wie er einschränkt - "einen Juden erschossen" haben, das gründet schlicht in der zynischen Überlegung, dass das Blatt von den Kenntnissen und Kontakten solcher Leute nur profitierten kann.
Wolff kennt die Dokumente, die Heidegger belasten - etwa den Band "Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken" von Guido Schneeberger, in dem dieser unzweideutige Ansprachen des Philosophen etwa an Universitäten im Sommer und Herbst 1933 gesammelt hat. Dennoch macht Wolff von seinem Wissen keinen Gebrauch - selbst dann nicht, als Heidegger von "falschen Darstellungen" spricht, wenn es um Aussagen von Zeitzeugen geht.
"Die Form eines detailliert verabredeten Interviews, in dem Heidegger zunächst einmal Gelegenheit gegeben werden sollte, auf ausgewählte Gerüchte und Einzelheiten in seinem Sinne einzugehen, verhinderte substantielle Fragen und auch das Nachhaken im Sinne der eigenen Recherchen. Mehr noch: Zwar kamen Schneeberger und Habermas im Interview namentlich durchaus vor, wurden aber in der redigierten Fassung - vom 'Spiegel' selbst und noch vor der Übersendung an Heidegger - eliminiert. Eine ernstzunehmende Kritik an Heidegger, durch Subjekte repräsentiert, gab es in diesem Sinne gar nicht, nur die 'Anpöbeleien' und falschen Tatsachenbehauptungen ..."
... die Heidegger während des Interviews seinen Kritikern und Gegnern unterstellt. Lutz Hachmeister geht in seiner Biografie eines Interviews auch den Verästelungen nach, die die Biografien seiner Protagonisten und die Zeitgeschichte überhaupt genommen haben. Zum Beispiel berichtet er, dass Heidegger nach seinem Lehrverbot förmlich frohlockt, als er davon hört, dass ein Philosoph namens Jean-Paul Sartre in Frankreich mit seinem Gedankengut Furore macht. Hachmeister zitiert aus einem Brief Heideggers vom 8. Oktober 1945, den dieser nach der Lektüre von "Das Sein und das Nichts" an Sartre richtet:
"Vor wenigen Wochen erst habe ich von Ihnen und Ihrem Werk gehört. Herr Towarnicki hatte mir freundlicherweise Ihr Werk 'L'être et le néant' hier gelassen und ich habe sofort begonnen, es durchzuarbeiten. Hier begegnet mir zum ersten Mal ein selbständiger Denker, der von Grund auf den Bereich erfahren hat, aus dem heraus ich denke. Ihr Werk ist von so einem unmittelbaren Verstehen meiner Philosophie beherrscht, wie es mir noch nirgends begegnet ist. Ich wünschte sehr, dass wir in eine fruchtbare Auseinandersetzung kommen und dadurch wesentliche Fragen klären."
Trotz Heideggers Bemühungen scheiterte sein Annährungsversuch an den Franzosen. Im großen ganzen offenbart Hachmeisters Buch, wie sehr die "Spiegel"-Leute dem Philosophen bei seinen Beschönigungen, Verfälschungen und Notlügen sekundierten:
"Das war bisher so nicht bekannt. - Das ist schlagend, Herr Professor."
So der Generalbass, den Augstein und seine Mannen gegenüber Heideggers Rechtfertigungsversuchen anschlagen.
Abschließend resümiert der Autor Heideggers Geschicklichkeit, reale Universitätskonflikte und undurchsichtige hochschulpolitische Entwicklungen mit rein subjektiver, entlastender Erinnerungsarbeit zu mischen und so die Erzählungen über sein Wirken in den Jahren 1933/34 zu perpetuieren.
"Für Heideggers Linie in Sachen Vergangenheitspolitik sind nicht so sehr die Streichungen oder irgendwelche gravierenden redaktionellen Eingriffe in das 'Spiegel'-Interview signifikant, sondern eine seit 1945 konsequent durchgehaltene Strategie der Realitätskonstruktion durch Beschönigungen und Retuschen. Hier gilt durchgängig: Für Heideggers Akte des Resistenz oder des 'geistigen Widerstands' gibt es kaum Belege ... Dem stehen seine denunziatorischen Gutachten und die wilden Reden in den 'Lagern' oder universitären Veranstaltungen gegenüber, die sehr gut dokumentiert sind."
Veröffentlichung nach dem Ableben Heideggers
Am 31. Mai 1976 durfte der Spiegel auf dem Titel endlich mit seiner Trophäe groß für sich werben - fünf Tage nach Heideggers Ableben. In einem Brief Heideggers an seine Frau Elfride vom September 1918 spricht dieser recht offen über das, was Hannah Arendt einmal als buchstäbliche Charakterlosigkeit Heideggers moniert hat. In dem Brief heißt es:
"Meine ganze frühere Unsicherheit, Unwahrhaftigkeit und Kasuistik ist die einfache Folge einer hyperkatholischen Erziehung, die ich andererseits immer mit unzulänglichen Mitteln durchbrechen wollte ... letztlich liegt aber alles am katholischen System seiner inneren Unfreiheit - und dem sich fromm gebärdenden Gewissensdespotismus. All das sehe ich heute völlig klar."
Unter diesem Aspekt eines lebenslangen Versuchs, den tief ins Fleisch eingeschriebenen Katholizismus zu überwinden, wird man vielleicht Heidegger noch einmal neu lesen müssen.
Lutz Hachmeister: "Heideggers Testament. Der Philosoph, der 'Spiegel' und die SS", 2014: Propyläen Verlag, 368 Seiten, 22,95 Euro.