Denn mit dem Unterscheiden fängt auch die Dummheit an. Frauen werden ausgeschlossen, noch immer, das ist Alltag. Das Ausschließen ist ein historisches Erfolgsmodell, könnte man sagen und Frauen hatten nun mal nicht das Sagen. Die Neuzeit aber hat die Unterschiede nivelliert. Die Demokratien behaupten stolz von sich, sie hätten sie abgeschafft. Alle Menschen sind gleich. Und manche gleicher. Immer noch. Gleicher, weil reicher, eloquenter, gebildeter, weißer, männlicher. Gleicher, weil mächtiger. Martin Zeyn unternimmt eine essayistische Annäherung an ein Denken, das nicht mehr ausschließt. Denn: Gesellschaften funktionieren nur als Ganzes. Ohne auszuschließen.
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Ein Traum.
Virginia Woolf träumte 1929 von einem Zimmer. Von einem eigenen, für sich allein. Ein Raum.
Ein Traum, weil sie eine Frau war. Zimmer gab es zwar vor gut 90 Jahren in Europa für Frauen, aber es waren gewährte, keine eigenen. Kein Raum, kein Platz, das heißt keine Freiheit. Für Virginia Woolf war das Zimmer deswegen nur ein pars pro toto. Das Zimmer stand für einen Platz in der Gesellschaft.
"Ist die Frau Privateigentum?", fragte die polnisch-argentinische Künstlerin Lea Lublin bei einer Performance 1978, also fast 40 Jahre später - so als hätte sich nichts getan, so als sei die Zimmersuche immer noch aktuell. Und heute, im dritten Jahrtausend und 86 Jahre nach Woolf, ist da endlich alles gut? Jetzt, da es Staatenlenkerinnen, Firmenchefinnen und Museumsdirektorinnen gibt und über Gerechtigkeit qua Quote immerhin gestritten wird. Oder gibt es das Ganze, das pro toto immer noch nicht? "Als Frau ekelt der Feminismus mich an", schrieb die Exbloggerin und Jungjournalistin Ronja von Rönne in der Tageszeitung "Die Welt". Sie findet es ganz normal, dass nackte Frauen Produkte bewerben und den Hashtag "Aufschrei", unter dem Frauen bei Twitter über sexuelle Belästigungen berichteten, den findet sie albern. Ist es ein Zufall, dass der Feuilleton der "Welt" mit Männern besetzt ist? Mit Männern, die sich gerne und ausführlich über den Feminismus lustig machen. "Ich bin keine Feministin, ich bin Egoistin." So fängt der Artikel von Rönnes an. Da hat sie recht. Da bekommt sie recht. Wenn sie so auftreten, dann bekommen Frauen Recht. Ihren Artikel bebildert die Seite Welt.de mit einem Mann im Peniskostüm, der ein Plakat trägt: "Habt euch mal nicht so, ihr Muschimäuse."
Steht das Zimmer wirklich in der Gesellschaft? Vielleicht mittendrin, aber immer noch mit Wänden, für die eine viel Kraft, Talent und Glück braucht, um sie zu überwinden?
Keine Unterschiede machen
Ein Essay von Martin Zeyn
Mit dem Unterscheiden fängt das Denken an, behauptete der noch junge Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Und hatte natürlich Recht. Aber genauso hatte er unrecht. Denn mit dem Unterscheiden fängt auch die Dummheit an. Pars pro Toto. Wir nehmen Teile für das Ganze. Bestimmte Teile. Das heißt, wir missverstehen Teile als das Ganze.
Pro Toto. Als Ganzes. Für das Ganze. Gesellschaften funktionieren nur als Ganzes. Ohne auszuschließen.
Was nicht stimmt. Leider. Frauen auszuschließen ist normal. Was sogar für die Fantasie gilt, also das Reich des Träumens, in dem Ausprobieren und Abweichen erlaubt sind. Das Matriarchat fristet ein kümmerliches Dasein im Amazonen-Mythos. Zur Erinnerung: Frauen, die herangeritten kommen, um vor Troja hingemetzelt zu werden. Seither sind sie auf Tempelfriese gebannt, zum Zeichen ihrer ewigen Niederlage. Das Patriarchat hingegen hält sich für einen Naturzustand nicht nur in den Dax-Vorständen und im Feuilleton der Tageszeitung "Die Welt". Ausschluss ist die Norm. Eine, die benützt wird, weil sie nützt. Weil sie Dinge billig macht, weil sie Arbeit und Denken verbilligt durch eingespielte Abläufe. Das Ausschließen ist ein historisches Erfolgsmodell, wenn man das so sagen will. Und Frauen hatten nun mal nicht das Sagen.
Die Neuzeit aber hat die Unterschiede nivelliert. Die Demokratien behaupten stolz von sich, sie hätten sie abgeschafft. Alle Menschen sind gleich.
Und manche gleicher. Immer noch. Gleicher, weil reicher, eloquenter, gebildeter, weißer, männlicher. Gleicher, weil mächtiger.
Eindeutigkeit. Leider überall.
Okay. Wir sind nicht alle gleich. Aber nicht alle Unterschiede machen ungleich, führen sofort eine Hierarchie ein. Was ist zum Beispiel mit meinem Fingerabdruck? Die Linien sind einzigartig. Aber kann wegen dieses Unterschieds irgendein Polizist auf der Welt sagen, wie gebildet ich bin, wie weiß, wie sexuell normiert? Total unterschiedlich und total ununterscheidbar. So mag ich Unterschiede.
Aber sind Unterschiede so? Benutzen wir sie so? Die Romanistin Barbara Vinken hat in einem Deutschlandfunk-Interview erzählt, dass - im Unterschied zu früher - heute die Grenzen zwischen den Geschlechtern fest gefügter seien. Ihr Sohn wolle nur eines, männlich erscheinen. A sein. Und nicht B, wie etwas anderes, wie eine Frau. Vor allem aber nicht AB, also schwul. Warum wird - wieder, immer noch - auf den Schulhöfen schwul wie ein Brandzeichen gebraucht? Der homosexuelle, der verweiblichte Mann als Nicht-Mann, Nicht-A, obwohl doch da unten etwas hängt, ein deutlich erkennbares, also primäres Geschlechtsmerkmal. Das ist die Angst von heute: ein Mann zu sein, und trotzdem doch keiner zu sein, ein durchgestrichener Mann, ein geradezu sinnentleertes Wesen. Wischiwaschi. Es lebe die Eindeutigkeit. Nicht nur auf den Schulhöfen. Leider überall.
Ja wirklich? Die Schriftsteller Jörg Albrecht und Thomas Meinecke lassen Figuren, die sich nur wenig von ihren Autoren unterscheiden, erzählen, wie sie es genossen haben, als junger, gerade so halbfertiger Mann für eine Frau gehalten zu werden. Sie fühlten sich nicht herabgesetzt, sie sahen ihren Status nicht bedroht, nein, sie haben es genossen, ein Mann zu sein, der weiblich bis zur Unkenntlichkeit sein konnte, ein Mann, der die Freiheit hatte, wie eine Frau auszusehen. Das war nicht nur ein Traum. Das ist eine Freiheit gewesen.
Heute aber eine Drohung. Oder gleich Conchita Wurst, so glamourös, das er nicht wie von dieser Welt erscheint, nicht von den Schulhöfen dieser Welt.
A sein. Bloß nicht AB sein. Vielleicht gerade noch A und B sein. Bi. So heißt das. Bisexuell. Männer und Frauen sexuell attraktiv finden. Könnte ja auch normal sein, also mehrheitsfähig. Tut niemandem weh. Der Schriftsteller Hubert Fichte, der erst schwul war und dann sein Coming In erlebte, als er die Fotografin Leonore Mau kennenlernte. Um dann davon zu erzählen, dass es 1960 zwar schon Schwule gab, am Rande, neben den Heteros in der Mitte der Gesellschaft, aber Bi ging nicht. Das war nicht vorgesehen. Bi musste nicht erfunden werden, aber es war noch nicht sagbar.
Eine Transe. Ein Erfolg.
Der 1924 geborene US-amerikanische Schriftsteller Truman Capote hat einmal gestanden, er habe als junger Mann geglaubt, zu 10 Prozent homosexuell zu sein und zu 90 Prozent heterosexuell, aber jetzt sei er überzeugt, es wäre genau umgekehrt. Das klingt aufklärerisch. Verträumte Sexualität, die erst spät ihr Ziel findet. Das sagt viel über die Zeit, in der er lebte, in der es besser war, zu 90 Prozent normal zu sein. Mindestens 90 Prozent.
Nur wofür brauchte Capote diese Zahlen? Begehrte er jemanden zu 90 Prozent? Schnitt er aus einer Person 10 Prozent heraus? Warum fehlen da Wörter? Gibt es tri sexuell, quadro-sexuell, pi-sexuell, e=mc²-sexuell? Nein. Gibt es nicht. Aber warum nicht? Warum dulden wir von der Skala 0 bis 100 nur die 0 und die 100. Warum soll es nur die geben? Warum nicht 23? 71? 53?
Der Bart von Conchita Wurst im flamboyanten Abendkleid mit atemabschnürender Taille ist 53. Ist Zirkus. Ist Attraktion. Transitiv. Ein Übergang. Eine Transe. Ein Erfolg.
Warum aber ist Conchita Wurst die Ausnahme? Wieso wird Conchita Wurst mit dem Personalpronomen "sie" gekennzeichnet? Doch nicht, weil er Roben und Perücken trägt. Denn das hieße, dass sich mit der Kleidung das Geschlecht ändern ließe... und das kann ja nicht sein.
Intersexualität ist selten, aber so selten auch wieder nicht.
A und B. So klar wie im Genetikunterricht in der Schule. So klar wie die Mendelsche Vererbungslehre. So klar wie die Blütenfarbe der Erbsen, entweder weißblühend oder violett. Ein einziges Gen, das über eine Eigenschaft bestimmt. Das menschliche Genom besteht aber aus zweimal 23 Chromosomen. Die setzen sich aus vier Basen zusammen - quasi die Speichermodule der Erbinformation. In jedem Chromosom gibt es gut 200 Millionen Basenpaare. Gut, nicht alle sind angeschaltet, das heißt nicht alle geben ihre Informationen weiter. Aber die schiere Zahl macht deutlich, warum kein Mensch dem anderen gleicht. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Kombinationen, zu viele Unterschiede. Eine Art, gewiss, aber eine exorbitant hohe Zahl an Varianten innerhalb dieser Art.
Nicht sauber, nicht rein, sondern ich bin eine Mischung aus zweimal 200 Millionen Basenpaaren, in denen eine Menge an alten Informationen herumspukt. Also: Warum dieser Drang nach Eindeutigkeit selbst da, wo er überdeterminiert und zwanghaft wirkt? Warum etwas Schwankendes festlegen? Warum nicht nur ein Drittes neben A für männlich und B für weiblich?
Intersexualität, also die Ununterscheidbarkeit, welches Geschlecht ein Kind hat, ist selten, aber so selten auch wieder nicht. Es gibt, warum auch immer, keine genauen Zahlen. Die Schätzungen weichen stark voneinander ab, manche sprechen von jedem 5000. Kind, andere von jedem 25. Aber die Natur produziert diese Variationen.
Das Zwei in Einem kannte schon die Antike.
Die nicht bestimmte Geschlechtlichkeit ist also keine Erfindung der gender studies, dieses angeblich so hysterischen Diskurses, den nur Juniorprofessorinnen in Orchideenfächern entfachen, die nie einen Lehrstuhl an einer altehrwürdigen Alma Mater bekommen werden. AB ist keine Erfindung des hysterischen Heute. Das Zwei in Einem kannte schon die Antike, ganz ohne Kenntnis der Genetik, denn das produziert die Natur hin und wieder selbst: der Hermaphrodit mit Merkmalen von beiden Geschlechtern in einem menschlichen Körper. Und sie fanden das offenbar attraktiv, die Griechen und Römer. Was wir sehen etwa bei der lebensgroßen Figur des schlafenden Hermaphroditen im Louvre. Eine römische Kopie einer griechischen Statue. Ein nackter Mensch, hingestreckt auf ein zerwühltes Laken. Ein weibliches Becken, zarte Gesichtszüge, ein Busen und zwischen den Beinen hervorguckend - nichts, was das Bild vervollständigen würde, sondern ein Penis. Die Ambivalenz, das A und B, ist hier kein Schreckensbild. Ein schöner Körper, kein grotesker. Kein Monster wie der Minotaurus. Ein Traum. Eine Fantasie. Warum? Warum konnten die Griechen das? Warum können wir nicht auch verträumter, unentschiedener, anders denken, bewundern, begehren? Warum ist dieses Zwei heute weniger als Eins, das überall zu sehen ist?
Fragen. Sehr viele Fragen.
Die eine Antwort suchen.
Die eine Antwort, eine bestimmte, zu erpressen versuchen. Ich versuche es mit einem Bild statt mit Fragen: der Regenbogen. Ein tolles Symbol, das sich die Schwulen da ausgedacht haben, ein Symbol nicht der Abgrenzung, sondern der Übergänge. Sechs Farben, fließende Übergänge, sehr schön und nur temporär. Gebrochenes Licht. Ein Weiß, das all das enthält.
Es gibt sie, die falschen Körper.
Gebrochen. Das ist das Wort. Weswegen es so schwer ist. Etwas bricht. Weswegen ich sagen kann, ich bin froh, ja froh, diesen Kampf nicht in meinem Körper führen zu müssen. Es ist so ungeheuer leicht zu sein wie wenigstens 50 Prozent. Eine Frau. Zu sein wie die anderen 50 Prozent einen gerne hätten. Die Männer. Und so zu bleiben, brav, normal, normgerecht. Und anders zu sein ist nicht nur schwierig, geradezu lästig alle vier Wochen. Es gibt sie, die falschen Körper. Dann ist es ein Kampf, bei dem eine Hälfte zu verschwinden habe, wie beim Topmodel Andrej Pejić. Der aussah wie eine Frau, jedenfalls typisch genug, um neben Männerkollektionen auch Frauenkollektionen vorführen zu dürfen. Pejić entschied sich dann aber, ganz Frau zu werden. Seit 2014 nennt sie sich Andreja. Und ist das wohl auch. Annähernd? Ganz und gar? Genug? Warum konnte sie als Andrej nicht auch Andreja sein?
Aber warum darf sie das nicht? Es sollte doch ihr gutes Recht sein...
Aber will sie es, weil sie es so möchte oder weil es einfacher ist? Weil die Gesellschaft sie dann akzeptiert, ihr nicht mehr nachgeschaut wird, sie unauffälliger wird. Weil sie sich nicht mehr rechtfertigen muss. Denn er sieht nun ganz so aus, wie wir das von Frauen kennen. Wenn sie den Körper einer Frau hinzugewonnen hat, dann ist alles gut. Aber was, wenn sie den Körper eines Mannes aufgeben musste, ohne es zu wollen? Aus dem Er wird ein Sie, das kein Er mehr sein kann. Das hilft bestimmt im Alltag. Aber warum? Wieso genügte es nicht, eine Frau zu spielen, wieso musste der Körper, der Name, das Äußere, also fast alles, wieso musste all das einem, einem einzigen Geschlecht zugeordnet werden? Wegen der Alltagstauglichkeit mutmaßlich, also weil wir damit besser leben können. Weil Andreja Pejić mit ihrer Umwandlung anerkennt, wie ein Körper zu sein habe. Richtig. Und nicht falsch.
Wer liebt schon immer den Richtigen?
Aber vielleicht wurde der Körper von Pejić ja tatsächlich auch falscher. Erwachsener, männlicher. Das Androgyne von 15-, 16-jährigen Männern verschwindet, wenn sie 35 werden. Die Hüfte untypisch schmal. Der Bauchansatz typisch männlich. Der Bart dicht genug, um auch nach gründlicher Rasur sichtbar zu sein. Zu sehr Mann. Kinder verwechseln einen nicht mehr. Nur noch Schwule.
Vielleicht auch gar keine Verwechslung, sondern einfach nur Begehren, das fehlgeht. Was es ja gerne macht auch bei den sogenannten Normalos, was es ja auch bei normativ abgesichertem Hetero-Liebesmanagement gerne tut. Wer liebt schon immer den Richtigen? Eine alte Geschichte. "Und wem sie just passieret,/ dem bricht das Herz entzwei", dichtete Heinrich Heine dazu - und lachte. Weil dann das Herz schneller zusammenwächst oder weil wenigstens niemand fragt, warum es einem so schlecht geht. 90 Prozent Ja und 10 Prozent Nein gibt es überall, jede Ehe kennt das, außer die in Märchen, denen aus Holly- und Bollywood jedenfalls. Und die allermeisten Ehen kennen sogar 53 zu 47 - Liebe für jemanden anderen, für etwas anderes, ein paar Tage, ein paar Wochen. Unser Begehren, wenn es sich nicht auskennt, verursacht Kollateralschäden. "Das ist eine alte Geschichte/ Doch bleibt sie immer neu/ Und wem sie just passieret,/ Dem bricht das Herz entzwei." Ganz Liebe und null Liebe sind die Ausnahme - nicht in unseren Köpfen, nicht im rosaroten Bild der Liebe, aber da draußen. Und deswegen brechen Herzen.
Konfusion gibt es in allen Beziehungen. Komisch, dass wir dennoch Angst davor haben. Oder haben wir etwa Furcht davor, weil wir sie kennen?
So diffundiert anderes Begehren in die Norm.
Die Angst aber lässt nach. Manchmal. Heute wünsche ich mir, wie jede Frau, die Komödien schaut und Berichte über Komödien liest und über Komödien plaudert, wünsche ich mir inniglich einen schwulen Freund. Der ist vielleicht noch nicht ganz so wichtig wie die beste Freundin, aber viel besser als irgendeine Frau. Zum Quatschen. Zum Shoppen. Zum Reden über Sex. Ein AB, das kein A ist und doch über das A etwas weiß, was kein B weiß.
So diffundiert anderes Begehren in die Norm. Das ist gut. Das ist modern. Auch wenn es wie Stehsatz aus dem literaturwissenschaftlichen Seminar klingt. Homosexualität wird normal.
Normal? Und warum sehen wir die nicht nach dem Sex zur Seite rutschen wie Heteros? Warum bleiben die Gangels, die gay angels, engelhafte, schwatzsüchtige Wesen, deren Anderssein nur benannt, aber nicht gezeigt werden darf?
Auch das A-normale versucht der Norm zu genügen. Das ist so. Auch heute. Die Frage ist nur: Warum? Und da stecken wir in einer Sackgasse. Es gibt keine Antwort. Wir haben keine Probanden, die wir in einer zweiten Versuchsreihe ohne eine Moral, eine gesellschaftliche Norm, ohne massenweise reproduzierte Bilder von Geschlechtlichkeit aufwachsen lassen können. Es kann auch sein, dass wir es mit einer anthropologischen Konstante zu tun haben. So ist der Mensch. Er will Eindeutigkeit.
Genug schwarz, um schwarz statt weiß zu sein.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es gibt da so ein paar Ereignisse in der menschlichen Geschichte, die mich zweifeln lassen an anthropologischen Konstanten. Zum Beispiel eine Geschichte von Mark Twain, wenig bekannt, nicht sein bestes Buch: Knallkopf Wilson. Es spielt im Süden der USA, zur Zeit der Sklaverei. Hauptpersonen sind eine Sklavin, deren eigener Sohn sowie das Kind ihres Besitzers. Nachdem die Herrin bei der Geburt des neuen Masters gestorben ist, vertauscht die Nanny die beiden Kinder. Denn sie fürchtet, verkauft zu werden und zu brutalen neuen Herren zu kommen. Sie legt ihren Sohn in die Wiege des Masters und nimmt das fremde Kind als eigenes an.
Wie soll das gehen? Sklaven sind doch schwarz und Herren weiß.
Ja, die Sklavin ist schwarz. Ein 16tel schwarz und damit vor dem Gesetz schwarz und rechtlos und wie ein Objekt veräußerbar. Und ihr Sohn wurde mit einem Weißen gezeugt. Er ist damit noch ein 32tel schwarz. Das ist genug schwarz, um schwarz statt weiß zu sein, genug, um als Sklave leben zu müssen. Ein sehr weißer Neger, aber nach damaligem Recht ganz eindeutig und ohne Zweifel ein Schwarzer. Ab wann wird aus etwas Reinem ein Mischling und ab wann wird aus einem Mischling wieder etwas Reines?
Goldlöckchen und der Schwarze Mann.
Wenn die Out-of-Africa-Hypothese stimmt, wenn die Gattung Homo sich in Afrika entwickelte und von dort aus die Welt besiedelte, dann sind wir vom Genpool her alle Schwarze, nur mehr oder minder gebleichte auf dem Weg in weniger sonnenbeschienene Gefilde. Oder in Zahlen ausgedrückt: Bei ca. 200.000 Jahren Entwicklung ist jede und jeder von uns, noch der strohblondeste und stahlblauäugiste, ein 7.000tel schwarz. Das ist nicht viel, aber in der Logik der Sklaverei heißt das, er ist schwarz, weil er ein bisschen schwarz ist. Und damit versklavbar. Eine verquere Logik, gewiss. Aber ab wann ist diese Logik nicht mehr verquer? Ab wann ist etwas gleich, ab wann ungleich? Ab wann ist die Aufteilung absurd, ab wann, wie es heißt, natürlich?
Und das ist nicht vorbei. Kein Schnee von gestern. Oder Ruß von gestern. Der DJ und Schriftsteller Thomas Meinecke schrieb einmal von seinem Erstaunen, als er Mariah Carey singen hörte: "I am black and I am proud." Und dass er sich daraufhin genau ein Foto der Sängerin angesehen habe. Hat sich das Bild durch das Bekenntnis verändert? Ist Carey nun eine schwarze Sängerin mit blonden Haaren? Oder war es nur ein Klassiker von James Brown, den Carey da gecovert hat, so wie sie auch andere Lieder nachgesungen hat? Ein Lied oder ein Bekenntnis? Mariah Carey hat in einem Interview einmal davon erzählt, das, wenn sie, ein blondes Mädchen, mit ihrem schwarzen Vater über die Straße ging, Passanten sie angeekelt ansahen. Goldlöckchen und der Schwarze Mann.
Aber es wird noch unübersichtlicher, wenn wir die Mutter hinzunehmen, die, wie Carey sagt, weißeste Person, mit der sie es je zu tun hatte. Die ist nämlich Irin. Und wie nannten englische und natürlich protestantische Agenten die billigen irischen und natürlich katholischen Arbeiter, die sie nach Amerika schafften, mit Arbeitsverträgen, die den Immigranten Rechtlosigkeit als Recht vorgaukelten? Wie nannten sie die unter sich? White Negroes. Weiße Neger.
Unterscheiden macht uns zur Bestie.
"Three-fifths a man", so wurde in den USA ein Sklave berechnet, wenn es darum ging, wie viele Abgeordnete ein Staat stellen durfte. Ein Drei-Fünftel-Mensch. Zwei Fünftel Abzug für die Hautfarbe. Ein Fünftel für Ire. Und wie viel fürs Frausein? Welche Eigenschaft spielt eine Rolle, wenn es darum geht, jemanden auszubeuten, jemanden zu unterdrücken? Sollten wir nicht lieber angesichts der unfassbaren Ungerechtigkeit auf Unterschiede verzichten? Einfach sagen, es sind nur anders geschwungene Linien auf einer Fingerkuppe? Anders wie alles irgendwie anders ist. Aber nicht anders als ich oder Du.
Doch anders. Brutal anders. Anders bis zur Unterdrückung, anders bis zum hate crime, bis zum Mord. Unterscheiden macht uns zur Bestie Mensch. Nicht die Unterschiede. Sondern was wir mit ihnen machen, wofür wir sie gebrauchen, wie wir sie missbrauchen. Kain und Abel. Du Hirte, ich Bauer. Du geliebt, ich verschmäht. Wer so unterscheidet, tötet auch so.
Vielleicht. Komischerweise bevorzugt es der Mensch, wenn er einen Grund nennen kann, um einen Mitmenschen umzubringen. Du schwarz. Ich weiß. Oder wenn als Grund herangezogen wird, dass Frauen eine Mitgift in die Ehe mitbringen müssen, dann genügt das, um weibliche Föten, um neugeborene Mädchen zu töten. Genetisch eine Frau zu sein kann immer noch tödlich sein.
Seltener zu unterscheiden bedeutet also mehr Gerechtigkeit.
Die US-amerikanische Essayistin Rebecca Solnit spricht von einer Pandemie der Gewalt, die allein in den USA mehr Tote hinterlasse als der Krieg gegen den Terror. Frauen, die von Männern getötet wurden. Tausende. Ungezählte. In Indien auf der Straße, in Taxen, in Bussen. In China weibliche Föten.
Richtig, aber das gilt nicht hier, nicht in Europa. Also noch einmal zurück, zurück zum Unterscheiden und zu der Schwierigkeit, was wir wovon unterscheiden: Männer haben ein Y-Chromosom. Genau. Aber warum entscheidet gerade diese genetische Information darüber, wer wir sind? Sind die Unterschiede, die zwischen Männern existieren, nicht größer als der Übergang von einem weiblichen Mann zu einer männlichen Frau? Seltener zu unterscheiden bedeutet also mehr Gerechtigkeit.
Aber wie dieser Sprache die Unterschiede austreiben? All men are created equal. Das Englische redet nicht drumherum. Alle Männer sind gleich, sind also Fünf Fünftel-Menschen. Auch das Deutsche bevorzugt die männliche Form. Natürlich war niemand dabei, als im Deutschen festgelegt wurde, dass die männliche Pluralform, also die Repräsentation des Y-Chromosoms, auch alle Menschen mit doppelten X-Chromosomen-Sätzen beinhaltet. Wir sind zwei Sprecher. Nicht: Wir sind zwei Sprecherinnen. Und natürlich wird sich kein Mann ausgeschlossen fühlen, wenn das Personalpronomen man benutzt wird, um eine nicht bestimmte Personengruppe zu bezeichnen.
Man kann solche Kritik manieriert nennen. Mit gutem Grund.
Mehr Unterschiede statt weniger.
Aber ist es, nur weil die Sprachkritik manieriert erscheint, ist es deswegen auch gleich dumme, haltlose, bloße Rhetorik? Schauen wir uns die Kunstgeschichte an. Die Renaissance entdeckte die Perspektive wieder und professionalisierte sie rasch zu einem Illusionsraum. Zweidimensionale Bilder erschienen dreidimensional. Erscheinen, denn die dritte Dimension ist nämlich nicht da auf der Leinwand, dem Holz oder dem Papier. Der Manierismus folgte der Renaissance. Der Manierismus nahm die Perspektive nicht mehr richtig ernst, er nutzte sie zum Spektakel oder führte sie nur noch vor, etwa im berühmten "Selbstporträt im konvexen Spiegel" von Parmigianino. Ein junger Mann, fast noch ein Jüngling mit Pelzjacke und Rüschenhemd in einem Zimmer mit Holzdecke. Der konvexe Spiegel lässt die Hand im Vordergrund riesig erscheinen, sie ist doppelt so groß wie der Kopf. Die weiße Wand im Hintergrund biegt sich, als wäre die Gerade nie erfunden worden, das Fenster wandert nach oben als wollte es Sonne spielen. Das Bild ist unrealistisch - und realistisch. Beides. Beides mit Recht. Unrealistisch, weil der Raum so nicht aussieht. Realistisch, weil der konvexe Spiegel ihn genau so zeigt. Parmigianino hat die Fehler nicht herausgerechnet, sondern sie betont. Um zu zeigen, wir sehen nicht, was ist, sondern das Sehen ist eine Funktion, etwas das uns hilft, sich in Räumen zu orientieren. Sehen Einäugige nicht die Wirklichkeit, weil sie ohne ein zweites Auge nicht genau abschätzen können, wo ein Objekt sich in der Tiefe befindet? Aber dieser binokulare Raubtierblick, der dafür da ist, etwas zu packen, das sich bewegt, ist nicht der einzige. Er ist ein Modus. Und warum können wir unsere Normen nicht als konvexe Spiegel begreifen, etwas, das Bilder macht, schafft, erzeugt. Und wir sehen die Verzerrungen nicht und glauben, so, wie hier die Welt gespiegelt wird, so sehe sie aus. Oder vielleicht sind es auch keine Verzerrungen - woher sollen wir das wissen. Aber weil wir das nicht wissen, sollten wir die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, wo wir Unterschiede festmachen und Gemeinsamkeiten deklarieren, weil das ziemlich viel Wissen ist, von dem wir nicht wissen, ob es das wirklich ist, deswegen sollten wir zweifeln. Und weniger Unterschiede machen. Aus Menschen keine Teilmenge machen, kein schwarz, Frau oder schwul. Oder die Unterschiede wieder dran geben, so oft es geht. Denn selbst wenn unser Denken das Aufteilen braucht, die Geschichte lehrt, und die ist nicht, war nie eine gute Geschichte, sie lehrt aber, dass Unterscheiden nicht automatisch das Denken verbessert.
So wenig wie Gleichmacherei. Aber auf das A und das B zu verzichten, auf das Mann und Frau, kann ja auch bedeuten, dass wir viel mehr sehen, mehr Unterschiede statt weniger. Kein Nivellieren, sondern ein Erlauben. Freiheit. Einen Traum. Ein Traum, der nicht nur ein eigenes Zimmer verspricht, sondern jeder und jedem dasselbe Recht auf Zimmer zuspricht. Ein Traum. Aber ein schöner.