Peter Sloterdijk ist der Freistildenker unter den deutschen Philosophen, das zeigt sich sowohl an der Themenwahl als auch an der Art seines methodischen Vorgehens. Mit beidem vermag er gleichzeitig zu überraschen und Zweifel zu wecken. So auch wieder mit seinem neuen Buch "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit". Die Frage, um die es geht, ist hochinteressant, um nicht zu sagen: fesselnd.
Was bewegt die Welt? Wie funktionieren Wandel und Fortschritt? Wie sind wir dort gelandet, wo wir uns heute, gebeutelt von Krisen aller Art, wiederfinden? Sloterdijk sucht Antworten auf diese Fragen nicht in den Bahnen von Herrschafts- oder Gesellschaftsgeschichte. Stattdessen operiert er mit den Begriffen Generation, Erbe und Filiation, im Sinne von Abstammung, deren ernstliche Durchdringung die Kulturwissenschaften, wie er anfangs bemerkt, bislang versäumt hätten.
Als "schreckliche Kindern" bezeichnet Sloterdijk die großen Protagonisten der radikalen Umbrüche, durch welche die Kontinuitäten von Vererbung, Traditionen und Wertesystemen unterbrochen wurden, um etwas völlig Neuem Platz zu machen. Sie verursachten die Zäsuren und Kluften, die er in seiner Terminologie als Hiatus bezeichnet. Sowohl berühmte als auch berüchtigte Leute befinden sich darunter, keineswegs nur aus der seit fünf Jahrhunderten andauernden Neuzeit: Jesus zum Beispiel, der hier als das "das schrecklichste Kind der Weltgeschichte" präsidiert, außerdem die Ödipus-Figur, der Marquis de Sade, Robespierre, Napoleon, der Ökonom John Maynard Keynes einerseits, die Dadaisten andererseits, aber auch historische Gewalttäter des 20. Jahrhunderts wie Lenin, Stalin, Hitler, Mao und etliche mehr. Trotz aller Unterschiede konstatiert Sloterdijk für diese Herrschaften eine große, entscheidende Gemeinsamkeit:
"Sie rückten seit früh-hochkulturellen Tagen ein in die Kohorten der 'schrecklichen Kinder' - all dieser aus der Art Geschlagenen, der Verräter am Herkommen und Totengräber des Habitus, von denen moderne Zeiten behaupten werden, sie hätten die Menschheit vorangebracht. Sie waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe versetzten: in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance bereits in höherer Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer Angriffslust."
Auch mit den "Schrecklichen Kindern der Neuzeit" startet Sloterdijk also erneut eine seiner Attacken auf die vorherrschenden Gemeinplätze der Welterklärung.
Schlüsselfiguren der Weltgeschichte
In mehreren Anläufen durchmustert er die Weltgeschichte nach den von "schrecklichen Kindern" verursachten Umbrüchen. Er beginnt zunächst mit der Aufsteigerin Madame de Pompadour und ihrem geflügelten Wort "Nach uns die Sintflut", dann setzt er erneut bei der Französischen Revolution an, danach beginnt er ein weiteres Mal in der Antike und beim Leben von Jesus. Als Schlüsselfiguren für die letzten zwei Jahrhunderte figurieren unter anderen der Marquis de Sade, Jefferson, Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Ego-Philosoph Max Stirner und die antilinearen Rhizom-Denker Gilles Deleuze und Félix Guattari. Was Sloterdijk mit solchen analytisch durchgearbeiteten Retrospektiven rekonstruiert, ist die Geschichte der fortschreitenden Deregulierung überkommener Ordnungen. Sogar die heutige Entwertung der ökonomischen Zukunft durch die Verschuldung der öffentlichen Hände kommt zur Sprache. Sie liefert für Sloterdijk einen weiteren Beweis für eine seit der Moderne vorherrschende "chronische Drift zu schwindelerregenden Zuständen".
Tatsächlich liegt das ursprüngliche und treibende Motiv für Sloterdijks ausschweifende Argumentation im Krisenbewusstsein der Gegenwart. Denn die "schrecklichen Kinder" sind in seinen Augen verantwortlich für das, so der Untertitel des Buches, "anti-genealogische Experiment der Moderne". Sie sind die Agenten jener Entwicklungen, die in unserer Zeit zum Kulminationspunkt gelangt sind, an dem Vergangenheit und kulturelle Überlieferung nichts mehr gelten. Stattdessen bestimmen Fortschritt und Zukunft den beschleunigten Kurs vollkommen, ohne dass allerdings - und da scharrt der Pferdefuß - daraus heute, trotz so schöner Begriffe wie "Nachhaltigkeit", noch irgendeine längerfristige Orientierung zu gewinnen wäre.
"Niemand hat eine Vorstellung davon, wie kontrollierte Bewegungen bei größeren zivilisatorischen Einheiten auszusehen hätten. Können die beschleunigten, energetisierten und vernetzten Komplexe sich überhaupt anders als im Sturz nach vorn bewegen? Sind sie nicht längst von einer Vielzahl unlenkbarer Driften überwältigt?"
Greifbare Folgerungen aus dieser brisanten, durchaus aufwühlenden Diagnose, die überhaupt erst auf den allerletzten Seiten formuliert wird, bleiben jedoch aus. Stattdessen konzentriert sich Sloterdijk ganz darauf, die Stationen auf dem Weg in die Bodenlosigkeit thesenhaft zu rekonstruieren. Er nennt das eine "psychohistorische und genealogiekritische Untersuchung kultureller Übermittlungsvorgänge".
Unbedingt beeindruckend ist bei alledem die eminente Belesenheit des Autors, erfreulich sind die zahlreichen aphoristischen Prägungen und Bonmots. Der akademische Stil hingegen, obwohl oft schwungvoll, fordert angespannte Aufmerksamkeit.
Stolpernder Fortschritt
Schwerer wiegen jedoch die Zweifel an der Großthese des Buches. Sloterdijk macht die alte Rechnung auf: hier Stillstand beziehungsweise Kontinuität, da historische Bewegung und Sprünge.
"Im 20. Jahrhundert genügen in der Regel zwei aufeinanderfolgende deregulierte Generationswechsel, zuweilen sogar eine einzige Zäsur zwischen Alt und Jung, um eine traditionale 'Kultur', gleichgültig wo auf der Erde, von ihrem Herkommen abzusprengen. Dann wandeln sich Kollektive kurzfristig zu Zeitgenossen der fiebrigsten Aktualität."
Da erhebt sich dann doch immer wieder die Frage: Hätte sich die Menschheit vor dem Stolpern und Stürzen in Richtung Zukunft etwa tatsächlich auf festeren Boden retten können, wenn sie ihre "Problemkinder" besser zu Gehorsam und braver Übernahme des kulturellen Erbguts erzogen hätte? Wohl kaum. Das dürfte auch Sloterdijk klar sein. Was er jedoch attackiert, ist die verbreitete, oft kritiklose Wertschätzung der "schrecklichen Kinder", von denen wir viele für ihr Zerstörungswerk an den Vermächtnissen der Alten als wegweisende Rebellen und Erneuerer verehren. Denn sie seien es, so geht Sloterdijks Pointe, die uns die Malaisen, in denen wir heute stecken, eingebrockt haben. So will er uns postmodernen Zeitgenossen die Lektion erteilen, dass wir mit der besinnungslosen Verehrung von Innovation und Umbruch leichtfertig dabei sind, in unserer Gegenwart jeden Halt, jede Lenkungskraft zu verspielen. Darin liegt das Skandalpotenzial, für das Sloterdijk immer gut ist. Am deutlichsten manifestiert es sich in zahlreichen schmissigen Feststellungen über die Sakramente unserer vermeintlich bestens organisierten Gesellschaften.
"Was man seit dem Aufklaffen des Hiatus die 'Demokratie' nennt, ist in psychopolitischer Sicht zu großen Teilen die Propagierung eines kollektiven Interesses an den Vorteilen der genealogischen Diskontinuität, verbunden mit der - durch deklarierte 'Menschenrechte' abgesicherten - Haltung des Neustarts aus der Lage dessen, der fordern und empfangen darf, ohne notwendigerweise in eigener Person gekämpft und gewonnen zu haben."
An Erregungsstoff für die Wachmannschaften des auf korrekt getrimmten Zeitgeistes fehlt es also nicht. Wer sich dagegen beim Denken nicht primär auf Verbote zu stützen pflegt, kann Sloterdijks "Schreckliche Kinder der Neuzeit" mit manchem Gewinn und einigem Vergnügen als großes Gedankenspiel über die zwielichtigen Seiten aller Fortschritts- und Innovationsbegeisterung lesen. Da lässt es sich verkraften, wenn die Erhellungsbilanz des Ganzen dennoch gemischt ausfällt. Im Detail vermag Sloterdijk zu fesseln und auf dieser Ebene zünden auch seine Provokationen. Insgesamt aber besitzt seine gar nicht so neue Gegenüberstellung von Kontinuität und Umbruch doch nicht so ganz die durchschlagende Erklärungskraft, die er ihr zumessen möchte.
Peter Sloterdijk: "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das antigenealogische Experiment der Moderne"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 490 Seiten, 26,95 Euro.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 490 Seiten, 26,95 Euro.