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Philosophie und Gesellschaft
Subsahara-Afrikas postkolonialer Diskurs

Sklavenhandel, Kolonialismus, Rassismus: Die psychischen und sozialen, die politischen und ökonomischen Folgen sind Angelpunkt des Denkens im postkolonialen Diskurs. Dessen Vertreter sind der Historiker Achille Mbembe aus Kamerun und der Ökonom Felwine Sarr aus dem Senegal.

Von Ursula Menzer | 17.02.2019
    Achille Mbembe und Felwine Sarr bei der Eröffnung ihres "Atelier de la Pensee", einem Forum für afrikanische Intellektuelle
    Felwine Sarr und Achille Mbembe bei der Eröffnung der "Ateliers de la Pensée", einem Forum für afrikanische Intellektuelle (dpa / MAXPPP / Elise Fitte-Duval )
    Der französische Afrika-Historiker Raymond Mauny prägte Anfang der 1960er-Jahre im frühen postkolonialen Diskurs den Ausdruck von Afrikas dunklen Jahrhunderten. Inzwischen erheben sich Einwände gegen diese Auffassung. Kulturwissenschaftler und Afrikanologen betonen heute nicht die dunkle, sondern die wiederzufindende Seite des historischen Subsahara-Afrikas. Obwohl Mitte des 21. Jahrhunderts die Mehrheit der Menschen aus Afrika stammen werden, stellt der Historiker und Politologe Achille Mbembe ein bemerkenswertes Desinteresse am Kontinent beziehungsweise an afrikanischen Gesellschaften fest, dessen Ursache er in Rassenvorurteilen erkennt. Das Rassekonzept ist für Mbembe ein Konstrukt des Fantastischen, eine nützliche Fiktion, um den Urmythos der Überlegenheit der sogenannten weißen Rasse und ihre Rechtfertigung in der Welt zu behaupten. Mbembe begreift Rasse als eine autonome Gestalt der Realität, die - obwohl politisch künstlich hervorgerufen und grundlos behauptet - in der Geschichte eine ungeheuerliche Wirksamkeit entfaltete und bis in die Gegenwart hinein wirkt.
    Achille Mbembe, geboren 1957 in Kamerun, besuchte eine katholische Missionsschule, studierte in Frankreich und lehrte in den USA und im Senegal. Zur Zeit ist er Professor am Institut für soziale und ökonomische Forschung an der Universität Johannesburg, Südafrika.
    Ursula Menzer ist promovierte Philosophin, schreibt Literarisches sowie für den Rundfunk, lebt als Autorin und Lektorin in Hamburg.

    Dunkle Jahrhunderte versus goldenes Jahrtausend
    In einem Fernseh-Interview anlässlich der Vorstellung seines Buches "Afrotopia" warnte der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler und Musiker Felwine Sarr, dass das heutige postkoloniale, subsaharische Afrika nicht einfach nur westliche Vorstellungen von Ökonomie, Konsum und politischen Formen der Repräsentation und des Zusammenlebens annehmen sollte. Er plädierte dafür, dass sich Afrika neu erfindet und dabei auf eigene, präkoloniale Erfahrungen von Kultur und Zusammenleben zurückgreift. Sein eindringlicher Appell mutet deswegen so überraschend an, weil er Afrika in eine Reihe mit positiv besetzten Begriffen stellt, die im herrschenden Bewusstsein des Westens üblicherweise nicht zusammen gedacht werden. Sie lauten:
    "Afrika, Geschichte, Gemeinsinn, Demokratie."
    Dieses Erkenntnisinteresse über das präkoloniale Afrika bezieht sich auf einen historischen Zeitraum, der bis heute nur wenig erforscht ist. Zu diesem frühen Afrika schreibt der französische Afrikanologe und Historiker François-Xavier Fauvelle:
    "Es ist nicht zu bestreiten, unsere Aufmerksamkeit richtet sich meistens auf die afrikanischen Zivilisationen der Antike: das pharaonische Ägypten, das meroitische Nubien, das punische oder römische Afrika, Aksum in Äthiopien, dessen überwältigende architektonische Relikte seit langem unsere Vorstellungskraft herausfordern. Vielleicht kennen wir ja auch nur die jüngsten Jahrhunderte besser, oder glauben sie besser zu kennen, die Zeit, als der afrikanische Kontinent, mit Gewalt an das Schicksal der europäischen Mächte gekoppelt, 'entdeckt', dann 'erforscht' wurde von denen, die sich eifrig seiner bemächtigten; als er den Sklavenhandel erlitt, die Kolonisation und schließlich vor den gewaltigen Umbrüchen der Gegenwart stand. Zwischen diesen beiden, uns vergleichsweise besser vertrauten Afrikas, dem antiken Afrika, dessen prunkvolle Rituale weiterhin einer gelehrten Nostalgie Nahrung liefern, und dem modernen Afrika, dessen Sprünge und Erschütterungen ein begehrliches Interesse schüren, erstreckt sich, was man als die 'dunklen Jahrhunderte' Afrikas bezeichnet hat."
    Den Ausdruck von Afrikas "dunklen Jahrhunderten" prägte der französische Afrika‑Historiker Raymond Mauny Anfang der 1960er‑Jahre. Inzwischen erheben sich Einwände gegen diese Auffassung. Wie Felwine Sarr betont auch François-Xavier Fauvelle nicht die dunkle, sondern die wiederzufindende Seite des frühen Afrika. Fauvelle, der die fast ein Jahrtausend dauernde Periode zu seinem Forschungsgegenstand erkoren hat, nennt diese Periode bevorzugt das goldene, nicht das dunkle Jahrtausend. Oder er schreibt neutral vom "Afrika im Mittelalter". Afrika sei nicht so sehr dunkel, als vielmehr vergessen. Für dieses Vergessen gibt er methodische Gründe an, wie die Abwesenheit von Schrift und Texten sowie von ausreichend erhaltenen, archäologischen Objekten. Darüber hinaus benennt er ideologische Gründe und stellt ein bemerkenswertes Desinteresse an afrikanischen Gesellschaften fest, dessen Ursache er in Rassenvorurteilen erkennt.
    Mit der Wende des Mittelalters zur Neuzeit begann der transatlantische Sklavenhandel und beendete damit das sogenannte goldene Zeitalter Afrikas. Am Handel und am Einsatz von Sklaven waren europäische koloniale Großgrundbesitzer sowie staatliche und private Handelskompanien beteiligt. Das profitable koloniale Wirtschaften hatte einen immensen Bedarf an Arbeitskräften. In einer Art Kreislaufsystem wurden die von den Sklaven in den Kolonien erwirtschafteten Erzeugnisse aus den Minen und aus den Kaffee-, Tabak-, Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen nach Europa verschifft. Aus Europa fuhren die Schiffe mit verarbeiteten Gütern und Nahrungsmitteln nach Afrika, aus Afrika mit neuen arbeitsfähigen Sklaven in die Kolonien zurück.
    Geschichte der Sklaverei im postkolonialen Diskurs
    In der einschlägigen Literatur kursieren Schätzungen, dass während der 400 Jahre Sklavenhandel zwischen 10 und 17 Millionen Männer und Frauen des westlichen, zentralen und südlichen Afrikas verschleppt und durch europäische Sklavenhändler in die Karibik, nach Südamerika und später nach Nordamerika transportiert wurden. Michael Zeuske, Spezialist für die Geschichte der Sklaverei, kommt bei seinen Berechnungen auf die Zahl von 12,5 Millionen. Nach seiner Definition sind Sklaven Menschen, deren Körper unter Kontrolle eines sogenannten Sklavenhalters stehen, der sie mit Gewalt ihrer Mobilität und ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt und Leistungen des Körpers abverlangt: Arbeit, Energie, Dienstleistungen, Sex, Reproduktion, Schutz. Unter den härtesten Bedingungen, wie dem transatlantischen Sklavenhandel, wurden sie nicht als Menschen gesehen, hatten nur Objektstatus.
    Für den afrikanischen Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe stellt der Handel mit "Negersklaven" und der überseeischen Plantagen- und Bergbaukolonie das "Taufbecken" der Moderne dar, in dem auch der Rassismus geboren wurde, der bis heute wirkt. In seinem Buch "Kritik der schwarzen Vernunft" schreibt er:
    "Zu den an die Hautfarbe geknüpften Vorurteilen, die aus dem atlantischen Sklavenhandel stammen, und in die Institutionen der Rassentrennung übersetzt wurden (....), zum antisemitischen Rassismus und zum kolonialen Modell der Bestialisierung als minderwertig angesehener Gruppen sind inzwischen neue Invarianten des Rassismus hinzugetreten, vor dem Hintergrund von Mutationen der Hassstrukturen und einer Umgestaltung der Figuren des Intimfeindes."
    Im postkolonialen Diskurs Afrikas liegt der Fokus auf der Versklavung schwarzer Menschen. Der Vollständigkeit halber jedoch sei erwähnt, dass Sklaverei nicht identisch ist mit Negersklaverei, sondern ein so altes Phänomen wie die Menschheit selbst.
    Zeuske bezeichnet Sklavereien als ein anthropologisch-historisch universelles Phänomen. Ein sprachliches Indiz ist das Wort "Sklave", etymologisch von Slawe abgeleitet, das darauf verweist, dass Sklaverei und Handel mit hellhäutigen Sklaven existierte, zum Beispiel auch im antiken Griechenland. Und in den Jahrhunderten vor dem atlantischen Sklavenhandel wurden bereits ostafrikanische Sklaven in die arabische Welt verkauft. Erwähnenswert ist weiterhin, dass weder im östlichen noch im westlichen Afrika der Sklavenhandel ohne die Mitwirkung der afrikanischen Eliten möglich war.
    Nach der Phase des transatlantischen Sklavenhandels war die imperiale Kolonisation des subsaharischen Afrikas durch europäische Großmächte für die Bewohner ein weiterer tiefgreifender Einschnitt, weil sie auf dem eigenen Gebiet erfolgte. Die ansässige Bevölkerung wurde unterworfen, vertrieben, wenn nicht gar ermordet, ihre soziale und kulturelle Identität unterdrückt bis zerstört. Zwar beschloss 1884/1885 die Berliner Konferenz international das Verbot des Sklavenhandels, doch sie legitimierte die Besitzrechte der europäischen Regierungen an den weitgehend gewaltsam eroberten Territorien. Europas Großmächte teilten das damalige Schwarzafrika untereinander auf, beschlossen Handelsfreiheit, installierten Freihandelszonen.
    Europas Rolle
    Ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Zugehörigkeit der Bevölkerung zogen die kolonialen Mächte ihre Grenzen nach eigenen Interessen. Die Vielfalt der einheimischen Sprachen zum Beispiel stand dem Ausbau der kolonialen Institutionen im Wege. Sie wurden als "Buschsprachen" disqualifiziert u nd verboten und den Bevölkerungen wurde die jeweilige europäische Sprache aufgezwungen. Durch die geographische Aufteilung konnten die einzelnen Kolonien gesichert ausgebeutet werden. G roße Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau neuer Bahnstrecken, Straßennetze und Hafenanlagen ermöglichten den Transport vor allem von Rohstoffen für die expandierende Industrie Europas.
    Das koloniale Projekt Europas war von Anbeginn voller Konflikte. Zum einen gab es Konflikte zwischen den Kolonialstaaten selbst, zum anderen zwischen Kolonisatoren und unterworfenen Bevölkerungen sowie zwischen den verschiedenen Ethnien, Sprachen, Religionen.
    Nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Dekolonisation ein. In seinem 2010 erschienenen Essay "Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika" widmet sich Achille Mbembe diesem komplizierten und heterogenen Themenkomplex und stellt fest, dass die "bösen Geister" von Imperialismus und Kolonialismus längst nicht passé sind.
    Als Vordenker der Dekolonisation gelten die Kolonialismus-Kritiker Frantz Fanon, Léopold Sédar Senghor, Aimé Césaire. Sie alle stammen aus französischen Überseekolonien und formulierten während der Befreiungskämpfe, in der Phase der staatlichen Unabhängigkeitsbewegungen und danach ihre politischen, philosophischen und literarischen Schriften. Den Autoren blieb auch die Wechselwirkung der kolonialen Gewalt nicht verborgen indem sie erkannten, dass der herabwürdigende rassistische Blick auch auf die Kolonisatoren selbst zurückschlägt.
    Achille Mbembe zum Beispiel hat sich mit den Aktivisten und Theoretikern der Dekolonisation umfangreich auseinandergesetzt und stellt fest, dass weder das Konzept der anti-kolonialen Gegengewalt noch die identitäre Geschlossenheit der Négritude oder der Nationalismus der panafrikanischen Bewegung eine Lösung für die komplexen Probleme des postkolonialen Afrikas bieten.
    Achille Mbembe wurde 1957 in Kamerun geboren, besuchte ein katholisches Missionsinternat, studierte in Frankreich und lehrte in den USA und im Senegal. Heute ist er Professor am Institut für soziale und ökonomische Forschung der Universität Johannesburg in Südafrika und zählt - neben Felwine Sarr und weiteren Theoretikern - zu den afrikanischen Forschern des Postkolonialismus, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, in einem interdisziplinären Diskurs das postkoloniale Afrika zu denken, neu zu erfinden.
    Das Problem kolonialer Dominanz
    Theoriehistorisch geht der postkoloniale Diskurs auf den amerikanisch‑palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said und sein Buch "Orientalismus" und seine These der "kolonialen Dominanz" zurück. Sie geht von der Annahme aus, dass die ehemaligen Kolonien, obwohl inzwischen politisch unabhängig geworden, weiterhin dem hegemonialen Welt- und Menschenbild westlicher Perspektive unterliegen. Wobei diese Perspektive die intellektuelle Herabsetzung aller nicht westlichen Gesellschaften impliziert.
    Der kongolesische Kulturwissenschaftler Valentin-Yves Mudimbe wendete Ende der 1980er‑Jahre die These der "kolonialen Dominanz" auf den schwarzafrikanischen Kontinent an. In dem übersetzten Titel seines Buches "Die Erfindung Afrikas" spiegelt sich der hohe Anteil des Konstruierten und Projektiven im Narrativ des kolonialen Afrikabildes, wofür auch Mbembe eine Darstellung bietet:
    "'Afrika' und 'Neger' - diese beiden Begriffe stehen in einem Verhältnis gemeinsamer Hervorbringung. Wer von dem einen spricht, denkt unausweichlich auch an den anderen. Der eine verleiht dem anderen die ihm zugewiesene Bedeutung. Wie gesagt, sind nicht alle Afrikaner Neger. Aber wenn Afrika einen Körper hat, wenn es ein Körper ist, wenn es ein ES ist, dann verleiht ihm der Neger diesen Körper - ganz gleich, wo in der Welt er sich befinden mag. Und wenn 'Neger' ein Beiname ist, wenn er DAS ist, so wegen Afrika."
    Die zugespitzte Darstellung scheint fast selbst eine Karikatur europäischer Definition des afrikanischen Kontinents und seiner Bewohner zu sein. Es ist die gegenseitige Verstärkung eines geographischen und eines rassistischen Stereotyps.
    Das Projekt der Dekolonisation, das im postkolonialen Diskurs reflektiert und begleitet wird, ist immer von der praktischen Zielsetzung bestimmt, sich vom umfassenden Zwangsgriff der "kolonialen Dominanz" in allen Bereichen zu befreien: in Bereichen des sprachlichen, kulturellen, sozialen und politischen Lebens sowie in den philosophischen und wissenschaftlichen Texten, die die Referenz Afrika in Anspruch nehmen.
    Ein zentraler Punkt der Dekolonisation berührt die Frage der einheimischen Sprachen, deren Verbot oder Entwertung teilweise bis in die Gegenwart reicht. Die repressive Sprachenpolitik, deren diktatorische Durchsetzung der Kolonialsprachen und der damit einhergehende Textkanon schufen ein unumkehrbares Faktum.
    Exemplarisch für diese Auseinandersetzung steht der kenianische Autor und Literaturwissenschaftler Ngũgĩ wa Thiong’o. Sein Essay aus den 1980er-Jahren trägt den programmatischen Titel:
    "Dekolonisierung des Denkens".
    Ngũgĩ wa Thiong’o wurde 1938 in Britisch-Ostafrika zur Zeit des Mau‑Mau-Aufstandes geboren. Seit seiner Inhaftierung und Verfolgung wegen seines Widerstandes gegen die britische Kolonialpolitik lebt er vorwiegend in den USA, wo er auch lehrt. Er versteht sich als anti‑kolonialer Schriftsteller und setzt sich für die kulturelle Wertschätzung und Bewahrung der einheimischen Sprachen ein. Darüber hinaus plädiert er für eine umfassende postkoloniale Schulreform. Seine Romane verfasst er seit längerer Zeit in seiner Muttersprache Gĩkũyũ.
    Fraglos ist der Modernisierungsimpuls der europäischen Sprachen hoch zu veranschlagen. Das zieht auch Ngũgĩ wa Thiong’o nicht in Zweifel. Nicht nur vereinfachen sie dem Afrika der 2.000 Sprachen die innerafrikanische Kommunikation, sie ermöglichen auch den kommerziellen, medialen, technologischen Anschluss an die Welt, auch ans World Wide Web.
    Doch nicht nur für die alltäglichen oder literarischen Erfahrungen Afrikas, auch für den historischen Ansatz auf die präkolonialen Wurzeln des Kontinents wäre das Verschwinden der einheimischen, alten Sprachen ein schwerwiegender Verlust. Zum Beispiel für die Sprachforschung bilden sie eine gleichsam archäologische Fundgrube zur analytischen Untersuchung sprachlicher Repräsentationen. Für die Weise und Intensität der Zerstörung durch erzwungene kulturelle Hegemonie findet Ngũgĩ wa Thiong’o ein radikales Bild:
    "Die gefährlichste Waffe aber, die der Imperialismus besitzt und tatsächlich täglich gegen diesen kollektiven Widerstand einsetzt, ist die Bombe der Kultur. Die Wirkung einer kulturellen Bombe besteht darin, den Glauben eines Volkes an seine Namen, seine Sprache, seine Umwelt, an das Erbe seines Kampfes, an seine Einheit, an seine Fähigkeiten und schließlich an sich selbst auszulöschen."
    Das Paradox, Afrika neu zu erfinden
    Durch den gesamten postkolonialen Diskurs zieht sich ein Paradox. Nimmt man Edward Saids These der "kolonialen Dominanz" ernst, stellt sich die grundsätzliche, wissenschaftstheoretische Frage: Wie können postkoloniale, afrikanische Denker Afrika neu erfinden ohne der kolonialen und imperialen "epistemischen Gewalt" zu unterliegen - wie Felwine Sarr dies benennt? Wie können kosmopolitische Intellektuelle aus dem ehemaligen Schwarzafrika Afrika denken, die an europäischen oder amerikanischen Universitäten, die das hegemoniale Wissenssystem verkörpern, ausgebildet wurden?
    Eine mögliche, methodische Antwort auf dieses Paradox gibt Achille Mbembe in seinem Buch "Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika". Sie lautet: Dekonstruktion. Speziell die Dekonstruktion essenzialistischer Konzeptionen von Mensch und Natur. Darunter versteht er Analyse und Kritik eines Denkens mit verallgemeinernden Reduktionen von Merkmalen oder Eigenschaften. Also die Analysemethode für Rassismus als einer Form essenzialistischen Denkens.
    In der Tradition des Entfremdungstheoretikers Frantz Fanon analysiert Mbembe die zerstörerischen Wirkungen des Rassismus auf Körper, Seele und Vernunft der involvierten Bevölkerungen. Die Präzisierung des Begriffs "Neger" als rassistisches Konzept, das Entrechtung, Ausbeutung und koloniale Herrschaft legitimiert, kann als seine besondere theoretische Leistung gewertet werden. Insbesondere wird die spezifische Ausprägung der westlichen Philosophie und das in Klassen einordnende Denken kritisiert, das Menschen auf rein äußerliche Merkmale ihrer Erscheinung oder auf Eigenschaften reduziert und diesem Typus oder Muster einen minderen Wert attestiert.
    Bedauerlicherweise reflektiert Mbembe nicht die Allgemeinheit dieses Verfahrens. Dabei entgeht ihm, dass sich in allen Formen der Diskriminierung ähnliche Muster erkennen lassen. Nicht nur "Neger", nicht nur Rassenobjekte, nicht nur chauvinistische Hassobjekte wie Minderheiten oder der jeweils politische Feind, sondern auch Frauen als Geschlechtsobjekte sind als das schlechthin Andere und Minderwertige. Ergebnis einer Konstruktion.
    Die indisch-amerikanische Denkerin des Postkolonialen Gayatri Chakravorty Spivak, die die These der "kolonialen Dominanz" sowohl mit der ökonomischen Systemfrage als auch mit der Rassen- und Geschlechterfrage zusammenführt, hat ihren Zweifel an der "postkolonialen Vernunft". Sie stellt den Diskurs generell und speziell die Kompetenz ihrer privilegierten, akademischen Wortführer in Frage.
    Vom "Schwarzwerden der Welt"
    Das Konzept Rasse scheint in der gegenwärtigen Ägide des globalisierten Kapitalismus eine politische Renaissance zu erfahren. Mbembe interpretiert seine Funktion darin, die Aufmerksamkeit von grundsätzlicheren Konflikten abzulenken, zum Beispiel den Kampf der Geschlechter, insbesondere soll der Kampf gegen ökonomische Ungleichheit kaschiert werden. Tatsächlich sind wir Zeitzeugen, wie seit der Wahl von 2016 in den USA unverhohlen der "White Supremacy", der "weißen Überlegenheit" gehuldigt wird. Unter anderem im Schatten rassistischer Polarisierung bereichert sich die weiße Oberschicht, was bedeutet: Ungleiche Vermögensverteilungen rücken dadurch nicht ins Blickfeld gesellschaftlicher Auseinandersetzung.
    Mit seinem Postulat vom "Schwarzwerden der Welt" begibt sich Mbembe in ein anderes Extrem und löst die soziale Frage der postindustriellen Gesellschaft in der metaphorischen Gestalt des Schwarzen aus. Als Phänomen der Globalisierung stellt er einen Mechanismus der Gegenwart dar, der auch bisher privilegierte Menschen der weißen Mittelschicht überall auf der Welt betrifft, sie gleichsam zu "Negern" macht. Instrumentiert wird dieser Prozess durch imperiale Praktiken, die seines Erachtens an frühere Sklavenlogiken anschließen, auch wenn sie in anderen Erscheinungsformen, sogar in zum Teil äußerst attraktiver Gestalt wie den neuen Medien auftreten.
    Mit dieser Beschreibung werden sicherlich die Ängste vieler Menschen vor der Globalisierung aufgenommen, die durch eine Vormachtstellung der Ökonomie - beispielsweise bei unfairen Freihandelsabkommen - ihre Arbeitsbedingungen, ihren Status, aber auch die Umwelt bedroht sehen. Es ist zu bedenken, ob Mbembes Dystopie vom "Schwarzwerden der Welt" nicht in der drastischen Zuspitzung einer afrozentrischen Weltsicht gipfelt, nämlich in der Totalisierung seines Prinzips "Neger".
    Neben den schmerzlichen historisch-politikwissenschaftlichen Analysen von Sklaverei, Rassismus und Feindschaft in der gegenwärtigen Welt scheinen Felwine Sarrs Überlegungen von einem hoffnungsvollen und pragmatischen Futurismus geprägt. In seinem Buch "Afrotopia", das seit Januar 2019 in deutscher Übersetzung vorliegt, knüpft er an vorkoloniale Formen nachhaltigen Wirtschaftens an. Als Beispiel nennt er zwischenmenschliche Tauschbeziehungen, die von der Fähigkeit gemeinsam zu handeln geprägt sind. Solchem Wirtschaften liegt nicht nur Nachhaltigkeit, sondern auch Solidarität zugrunde, Geld würde dadurch nicht zum Selbstzweck. Sarr betont dabei die sozial wohltätigen Wirkungen der Umverteilung, jenseits staatlicher Regulierungen und Steuerbehörden.
    Neue Abhängigkeiten Afrikas
    Vor diesem Hintergrund kritisiert er die Politik afrikanischer Staaten, die nicht ausreichend ihrem gesetzten Ziel der ökonomischen und mentalen Dekolonisation folgen. Stattdessen begeben sie sich in die Abhängigkeit kreditfinanzierter Großprojekte europäischer - oder noch weitgehender - chinesischer Entwicklungsmaßnahmen im Tausch gegen Ressourcennutzung. Somit stellen sie nicht die Bevölkerung und deren Bedürfnisse in den Mittelpunkt des politischen Handelns, sondern unterwerfen sich ökonomischen Interessen und leisten einer Neokolonialisierung Vorschub.
    Der 1972 geborene Felwine Sarr lehrt an der Universität von Saint-Louis im Senegal. Er ist als Koordinator verantwortlich für die Neugründung der Fakultät für Zivilisationen, Religionen, Kunst und Medien.
    Zusammen mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy gehört er zum Beratungsstab des französischen Präsidenten, der die Umstände geraubter, afrikanischer Gegenstände des kulturellen Erbes und deren Rückgabe untersuchte. Vor kurzem legten sie ihre Studie zur Restitution des afrikanischen Kulturerbes vor, die sicherlich die Restitutionspolitik in weiteren europäischen Ländern mit kolonialer Vergangenheit beeinflussen wird. Der Untertitel des Berichts formuliert einen weit über die kontroversen Rückgabedebatten hinaus weisenden Anspruch:
    "Für eine neue Ethik der Beziehungen".
    "Bei den alten Dogon hatte diese endlose Arbeit des Reparierens und der Reparation einen Namen - Dialektik des Fleisches und des Samenkorns. Die Arbeit der sozialen Institutionen, gegen den Tod des Menschen anzukämpfen und seinen Verfall, das heißt seine Verwesung aufzuhalten. Die Maske war das Symbol par excellence für diese Entschlossenheit der Lebenden, sich gegen den Tod zu verteidigen."
    Aus dieser Szene von Lebenserhaltung und Todeswiderstand destilliert Achille Mbembe eine Ethik des Reparierens und der Reparation. Und sie vermittelt die Ahnung eines verborgenen Wissens um die vitale Funktion der Maske - eines der großen Wahrzeichen des subsaharischen Afrika.
    Von den ehemaligen Kolonialmächten fordert er nicht nur die Aufarbeitung der diskriminierenden, rassistischen Sprache und Politik, sondern konkret auch Wiedergutmachung und Reparationszahlungen - und entwickelt so andere Aspekte von Entschädigung für das subsaharische Afrika.
    Konsequenterweise erwartet Mbembe, dass Afrika die Weltbühne betritt, auch um das müde gewordene Europa abzulösen, das nur noch eine nachlassende Lebenskraft, einen verlorenen Geist repräsentiert. Dem ressourcenreichen, demographisch starken und kreativen Afrika dagegen prognostiziert er eine kraftvolle und glänzende Rolle als Weltakteur.
    Dem befürchteten "Schwarzwerden der Welt" oder der Furcht vor einer globalisierten Feindschaft stellt Mbembe eine Utopie der offenen, kulturell vielfältigen und vielfarbigen Gesellschaft in Freiheit entgegen, in der Subjekte frei zirkulieren. Er stellt sich eine Welt ohne Grenzen vor und meint damit nicht nur, dass die künstlich gezogenen Grenzen der ehemaligen Kolonialmächte verschwinden.
    Dieser Ansatz der Grenzenlosigkeit ist durchaus kritisch zu sehen. Denn sind es nicht Grenzen, die Dissidenten und politische Flüchtlinge letztlich vor grenzenloser Verfolgung schützen? Und sind es nicht Grenzen, die es einem Gemeinwesen und seiner Bevölkerung ermöglichen, sich selbst zu bestimmen?
    Afrozentrisch statt eurozentrisch?
    Der postkoloniale Diskurs und sein Programm der Überwindung kolonialer Strukturen steht im Spannungsfeld einer gravierenden Zweiteiligkeit: afrozentrisch oder eurozentrisch. Das Dilemma ist: Entweder man bleibt rückständig oder man verwestlicht. Entweder man akzeptiert den Verlust des kulturellen und sozialen Ursprungs und verstetigt damit gewissermaßen die Vorherrschaft kolonialer Prinzipien. Oder man verbleibt in der Vormoderne.
    Sowohl Mbembe als auch Sarr versuchen, diesem binären Schema etwas entgegenzusetzen.
    Sarr will explizit an frühe Erfahrungen des genuin Afrikanischen anknüpfen, jedoch präkoloniale Strukturen des Wirtschaftens mit modernen Ideen verbinden, zum Beispiel um der kapitalistischen Profitmaximierung und Entfremdung zu entgehen. Ob dieses Konzept einen zukunftsweisenden Weg oder eine idealistische, letztlich rückwärtsgewandte Utopie formuliert, wird sich erweisen müssen.
    Mbembe glaubt an Universalismus und auch an die positive Kraft der Modernisierung, pariert diese jedoch mit dezidierter Kapitalismuskritik. In provokantem Ton und mit einem stilistischen Synkretismus, den Verschmelzungen von Ideen und Philosophien, kämpft er mit der Gegenaufklärung.
    Über ihre theoretischen Beiträge hinaus bieten Sarr und Mbembe dem postkolonialen Diskurs auch eine organisatorische Arbeitsbasis. So gründeten sie vor zwei Jahren in der senegalesischen Hauptstadt Dakar eine Dependance der südfranzösischen "Werkstätten des Denkens" von Avignon - zusammen mit weiteren Denkern, Schriftstellern und Künstlern aus Afrika. Die Themen, die dort verhandelt werden, sind so aktuell wie ambitioniert und überschreiten bei weitem die Spezialisierung akademischen Expertentums.
    Inspiration, Kreativität und radikales Denken sind gefragt. Kulturelle Hybridisierung löst alles andere als Panik aus. Es geht um Fragen des Erbes und der Erinnerung, Archive des Wissens werden lebendig gehalten. Es geht um Fragen nach dem: Wer‑sind-wir? Und es geht um die Suche nach neuen Formen von Staatsbürgerlichkeit und Verantwortung, um Muttersprachen, nicht zuletzt um ökologische Strategien.
    Als Fazit zeigt sich eine Vielfalt von Aspekten im postkolonialen Diskurs Subsahara-Afrikas: Das Spektrum reicht von der Wiederbelebung historischer Ressourcen über Rassismuskritik bis zu gesellschaftlicher Modernisierung. Wie jeder Diskurs einer Freiheitsbewegung ist er nicht nur ein Konglomerat sprachlicher Sinngebilde, sondern verfügt - so formulierte es Michel Foucault - über das emanzipative Potenzial, eine veränderte Realität hervorzubringen.