Er avancierte damit zu den intellektuellen Köpfen der antiautoritären Bewegung in den 1960er-Jahren. Doch Taubes wurde enttäuscht, als die Revolte in Sektierertum und Orthodoxie zerfiel. An seiner messianischen Hoffnung hielt er aber fest. Ein Essay des Historikers und Essayisten Wolfgang Dreßen.
"Wir leben noch im Advent"
Jacob Taubes und der Preis des Messianismus
Von Wolfgang Dreßen
"Auf der Suche nach einem sicheren Exil werden dem Flüchtling von den Behörden eines Staates, der ihn nicht aufnehmen will, auf dem Globus verschiedene andere Staaten gezeigt, in die er ausreisen könne. In ihnen würde er sicher aufgenommen werden. Nach einer kurzen Pause fragt der Flüchtling die Beamten: 'Haben Sie keinen anderen Globus?'"
Der Religionsphilosoph Jacob Taubes erzählte diese Geschichte als Kennzeichen der aussichtslosen Situation nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.
Er wurde 1923 in Wien geboren, überlebte die Nazizeit in der Schweiz. Sein Vater war seit 1936 Großrabbiner von Zürich. Jacob Taubes studierte nach der Approbation zum Rabbiner seit 1943 in Zürich und Basel. Er gehörte zur Generation der Entkommenen, die zwar gerettet waren, aber in dieser Welt nicht ankamen. Sie erkannten die Signatur einer Welt, die Auschwitz ermöglicht und die Gründe für die Zukunft nicht überwunden hatte. Auch deshalb blieben Vergangenheit und Gegenwart grundsätzlich beschädigt. Aber wie Ernst Bloch bestand Jacob Taubes auf der Erlösung aus dem Weltübel.
Bereits während des Ersten Weltkriegs schrieb Ernst Bloch in seinem Buch über den Geist der Utopie, auf das sich Taubes immer wieder berufen wird:
"Keines unserer Gebilde darf mehr selbständig werden, der Mensch darf sich nicht weiter von den Mitteln und falschen Versachlichungen seiner selbst aufsaugen lassen […] Alles menschlich Entfremdete ist wertlos."
Negativ wird hier eine Zukunft entworfen, die nicht allmählich zu erreichen ist, sondern nur durch einen radikalen, Taubes würde sagen, eschatologischen Bruch bisheriger Welt.
"Die Apokalyptik ist revolutionär"
1947 veröffentlichte Jacob Taubes seine Dissertation mit dem programmatischen Titel Abendländische Eschatologie. Der Begriff "Abendland" bedeutet hier einen Raum aussichtsloser Herrschaft, in dem aber zugleich und trotz allem der Bruch mit dieser Herrschaft sichtbar wird. Für diesen Bruch steht die "Apokalypse":
"Die Apokalyptik ist revolutionär, denn sie schaut die Wende nicht in unbestimmter Zukunft, sondern ganz nahe […] das apokalyptische Prinzip enthält in sich eine gestaltzerstörende und eine gestaltende Macht vereinigt. Je nach Situation und Aufgabe tritt eine der beiden Komponenten hervor, keine aber darf fehlen."
Die Abendländische Eschatologie erzählte in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Geschichte der Hoffnung. Denn anderes Leben gegen bisherige Machtgeschichte ist möglich. Gegen das offizielle Christentum der Kirche heißt dies, die Erlösung bleibt im "Noch Nicht", die Erlösung kommt, nicht erst im Jenseits, sondern bereits in der Welt. Das ist die wahre Ankunft des Messias. Wir leben noch im Advent. Und für das Judentum gilt bei Taubes: Diese noch ausstehende Ankunft des Messias ist keine ausschließlich jüdische Erwartung.
Die klassische hellenistisch-römische Welt entwickelte den Machtanspruch ausschließender Vernunft. Nicht diese Opfer einfordernde Götter- und Vernunftgeschichte, sondern der Auszug aus Ägypten, die Befreiung aus der Sklaverei, steht für Taubes am Beginn einer möglichen anderen Welt. Hier beginnt eine Tradition eschatologischer Hoffnung, die Hoffnung auf eine letztgültige Befreiung.
In dieser Hoffnung sah Taubes die messianische Tradition, zu der für ihn auch die Erzählung der Evangelien über Jesus von Nazareth gehörte. Nur eine hoffnungslose Welt wartet nicht mehr auf den Messias. Hoffnung besteht darauf: Der Messias muss und wird kommen.
Jacob Taubes verband in der Abendländischen Eschatologie die Jesusgeschichte mit dem, wie er schreibt, "fahrenden Volk der Wüste", den Sleb:
"An den allgemeinen Fehden der Wüstenstämme nehmen die Sleb nicht teil. Während der Kämpfe sind sie auf dem Kampfplatz als unbeteiligte Zuschauer zugegen und nehmen sich nach dem Gefecht als Ärzte der Verwundeten beider Parteien in gleicher Weise an."
Taubes sah die Nähe der Lehren Jesu zu diesen Handwerkernomaden. Für sie war jedes Leid sofort zu überwinden, wenn alle Menschen in diesem gegenseitigen Frieden leben. Sie stehen bei Taubes dafür, dass immer die Unteren, Entrechteten Träger messianischer Bewegungen waren.
Was folgt aber aus einem Messianismus, der in seiner dringenden und aktuellen Erwartung enttäuscht wird? Eine Erlösung ist nicht in Sicht, das Leiden hört nicht auf, die Welt bleibt, wie sie ist. Die Menschen wenden sich dann von der äußeren Welt ab, für Taubes ein Weg nach Innen:
"Die Eschatologie wendet sich vom weltlichen Endspektakel ab und ist ganz nach innen verlegt als ein großes Drama der Seele."
Die Welt bleibt unerträglich
Mit dieser Individualisierung wird ein Weg eröffnet, um Frieden zu schließen mit der Welt, so wie sie ist. Wenn die Welt schon aussichtslos ist, dann darf um des Friedens willen auch nichts anderes mehr erwartet werden. Dieser Machtfrieden schützt vor den Zumutungen einer Hoffnung, die jetzt gefürchtet wird. Denn Hoffnung bedeute nur Gewalt und Unfrieden.
Noch vor ihrer Anerkennung im Imperium Romanum wird die christliche Kirche deshalb ihren Frieden machen mit der Welt. Ausdrücklich wird jetzt das ganz Andere dieser Welt abgelehnt. Taubes sah eine Abkehr vom bisherigen Messianismus:
"Schließlich beten Christen um den Verzug des Endes, denn wir wünschen es nicht zu erleben, und indem wir um den Aufschub dieser Dinge beten, befördern wir die Fortdauer Roms […] Seit Konstantin wird auch das Imperium Romanum 'heilig' gesprochen. Dieser Zustand gilt seit Konstantins Tagen und wird durch Augustins Gottesstaat ideell, durch Karls Politik praktisch befestigt und endet im christlichen Europa im abendländischen Heiligen Römischen Reich."
Mit dieser Verkirchlichung und Verstaatlichung wurde aber kein endgültiges Ende in einer erstarrten Ordnung erreicht, trotz aller politischen oder kirchlichen Bemühungen. Denn Eschatologie wird für Taubes durch die Verinnerlichung der Hoffnung auch gerettet. Denn die Welt bleibt, gegen alle Friedensbehauptungen, unerträglich:
"Das innerliche Licht […] brennt die Mauern der äußeren Institutionen nieder. Das innerliche Licht wird zur verzehrenden Flamme und wandelt sich in ein Feuer auf Erden […] Die Verkündigung des Reiches Gottes drängt zur Verwirklichung […] Zu Ende geführt wird die […] Geschichtstheologie durch die Theologie der Revolution Thomas Münzers […] die Täufer wollen das Reich Gottes […] auf Erden verwirklichen."
Taubes erinnerte an die messianischen Bewegungen auf christlicher wie auf jüdischer Seite. Sie konnten sich nicht durchsetzen, aber sie konnten die Hoffnung auf den Messias aufrechterhalten.
Schließlich sind die Revolutionen seit dem 18. Jahrhundert aus dieser Hoffnung zu verstehen. Im Kern revolutionärer Politik verbarg sich für Taubes messianische Hoffnung:
"Ist die Geschichte der europäischen Eschatologie das innerste Geschehen der Geschichte, so wird sie instrumentiert durch die Geschichte der europäischen Revolutionen, welche das Außen dieses Innen ist."
Hinter den politischen Ereignissen geschieht theologische Geschichte. Die Politik kann nur erfolgreich sein, wenn sie sich auf diese Theologie stützt. Jacob Taubes kannte Walter Benjamins Schriften 1947 noch nicht, aber er argumentierte in seiner Nähe. Benjamin hatte 1940 in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen das Bild eines Schachautomaten entworfen, der es mit jedem Gegner aufnehmen könne.
Dieser Automat heißt bei Benjamin "historischer Materialismus". Er bleibt siegreich, wenn er heimlich von einem verborgenen Zwerg gelenkt wird, der Theologie. Für Taubes liegt hier die Aufgabe des Messianismus.
Deshalb bezeichnete er die Schriften von Karl Marx als "Heilsökonomie", eine Kritik der menschlichen "Selbstentfremdung":
"Noch im Lärm der Pariser Kommune glaubt Marx, das Ende der bürgerlich-christlichen Welt läuten zu hören. Der lähmende Gang der Revolution in Europa erweckt in Marx keine Zweifel an seiner Prophetie […] Wie die alten Apokalyptiker glaubt Marx, dass man die Phasen der Endgeschichte 'weder überspringen noch wegdekretieren' kann, aber gleich den Apokalyptikern will Marx 'die Geburtswehen abkürzen und mildern'."
Seine Forderung der Praxis unterscheidet Taubes von vielen Vertretern der Kritischen Theorie. Keinen Frieden machen mit dieser Welt, diese unbedingte Forderung wird ihn dagegen mit Herbert Marcuse verbinden. 1954/55, während seiner Gastprofessur in Princeton, hielt Jacob Taubes einen Vortrag über die "Historische Funktion der Vernunft", Max Horkheimer zum 60. Geburtstag gewidmet.
Die geschlossene Herrschaft einer machtbezogenen Vernunft habe eine Welt produziert, in der nichts Anderes mehr möglich sein soll, nicht einmal als Erinnerung oder als Traum von einem anderen Leben.
Noch vor Herbert Marcuse sprach Taubes über eine "große Weigerung". Zunächst sah er diese Weigerung als ein Phänomen der ästhetischen Vorstellungskraft, um sie dann in seinem Vortrag gegen die herrschende Vernunft zu richten:
"So lange die Struktur der Beherrschung eine gegenseitige Anerkennung zwischen den Menschen verhindert, so lange kann Vernunft nur als Instrument der Macht funktionieren, um Mensch und Natur zu unterjochen […] So lange Menschen die Hoffnung auf eine neue Unschuld bewahren, ohne Kompromisse, so lange bewahren diese Illusionen eine höhere Wahrheit, als eine Religion oder eine Wissenschaft, die daran arbeiten, eine solche Hoffnung zu vernichten."
Seit 1966 lehrte Jacob Taubes an der Freien Universität Berlin. Er gründete und leitete das "Hermeneutische Colloquium". Dieser Name war Programm. Gelehrt wurde die Auslegung von Texten, eine niemals abschließende Auslegung. Lehrsätze waren verpönt, gewünscht wurden die noch offenen, nicht abschließbaren Fragen.
Vordenker der 68er
Gegen eine Universitätsdogmatik, die gesicherte und prüfungsrelevant abrufbare Erkenntnisse vermittelte, bestand Taubes auf einem offenen Horizont. Die antiautoritären Studenten in Berlin waren von Taubes fasziniert. Die Diskussionen richteten sich sowohl gegen eine affirmative Universität wie gegen den Marxismus, der auf Lehrsätze reduziert war. Taubes in einer Seminardiskussion im November 1967:
"Nur derjenige kann berechtigtes Eingreifen auf 'wissendes Eingreifen' beschränken, der aufseiten des Gleichgewichts steht, danach das Wissen bemisst und weiß, dass jedes nicht affirmative Eingreifen als 'unverantwortlich', 'unwissend' oder 'blind' disqualifiziert kann: Der auf Änderung Bedachte muss sich also der Legitimität begeben."
Damit war eine Gratwanderung beschritten. Sie war nicht zu vermeiden, soll das Gegebene in Theorie und Praxis nicht bloß verdoppelt, oder schlimmer, perfektioniert werden. Taubes warnte zugleich: Erscheint in der nicht legitimierten Praxis aber nicht die neue menschliche Welt, beschränkt sich Praxis auf Negation und Zerstörung, so bedeutet dies einen Rückfall in die Barbarei.
Für Taubes lag hier ein messianisches Risiko, das aber eingegangen werden müsse. Denn Furcht vor diesem Risiko darf nicht bisherige Geschichte verlängern, die ihre Menschenverachtung gezeigt hat.
Er sympathisierte offen mit dem antiautoritären Flügel der Studentenbewegung, trotz aller Angriffe des Berliner Senats oder der Presse. In einem Prozess gegen die Kommune 1 schrieb er das Gutachten für die Verteidigung.
Die Diskussionen im Hermeneutischen Colloquium durften kein Ende finden und wurden deshalb bis in die Nacht in der Berliner Paris Bar oder einem anderen Restaurant fortgesetzt. Wie niemals zuvor und niemals später glaubte Taubes, in Deutschland den Aufbruch einer jungen Generation zu erleben, die bisherige Geschichte unterbrechen könnte.
Im Juli 1967, kurz nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg, mitten im Aufschwung der antiautoritären Bewegung, leitete Jacob Taubes im überfüllten Audimax der Freien Universität Berlin eine Podiumsdiskussion, an der auch Herbert Marcuse teilnahm. Einleitend stellte Taubes fest:
"Das Novum unserer Situation: die Gesellschaft hat die Möglichkeit, technologisch die Möglichkeit, das menschliche Leben menschlich zu emanzipieren; möglich ist die Abschaffung der Armut und des Elends, möglich ist die Abschaffung zusätzlicher Repression. Das aber wird verhindert von der bestehenden Organisation und Herrschaft. […] Die Kritische Theorie muss […] den Skandal der qualitativen Differenz in sich aufnehmen, wenn sie nicht der Verbesserung der schlecht bleibenden Gesellschaft verfallen will."
Taubes forderte in diesem Zusammenhang einen "homo novus", einen neuen Menschen. Dieses Ziel hat er 1969 in einem Aufsatz über das "Unbehagen an den Institutionen" näher bestimmt:
"Eine neue Identität des Menschen als mündiges Individuum und eine neue Identität der Institutionen als Assoziationen freier Menschen. […] Emanzipation des Menschen vom mythischen Anspruch der Institutionen".
Auf dem 16. Deutschen Soziologentag im April 1968 in Frankfurt am Main hielt Jacob Taubes einen Vortrag mit dem Titel Kultur und Ideologie. In diesem Vortrag und der anschließenden Diskussion vertiefte Taubes seine Institutionenkritik und bezog sie auf die liberale Gesellschaft seiner Gegenwart:
"Es werden bürokratische und staatliche Herrschaftsmechanismen verinnerlicht. Wenn man so die Herrschaft durch außerökonomische Gewalt begründet, kann man sich auf der ökonomischen Ebene liberal geben."
Taubes erinnerte an Max Weber und seine Analyse des "stahlharten Gehäuses" der Industriegesellschaft, aus der es angeblich kein Entrinnen gibt. Für Taubes bedeutete dies die Wiederkehr des Polytheismus und seines Opferkults, eine Regression auf technologisch höchstem Niveau. Er zitierte Arnold Gehlen, der die "Geburt der Freiheit aus der Entfremdung" feierte:
"Es würde mir keinerlei Mühe machen, mir eine Termitengesellschaft vorzustellen, in der sich jedes Individuum frei verhält."
Gehlens Engagement im Nationalsozialismus stand für Taubes in keinem Widerspruch, im Gegenteil. Der Machtanspruch der Institutionen wird erst erreicht, wenn sie so unangefochten sind, dass sie sich liberal geben können. Der Nationalsozialismus war damit keineswegs überwunden. Freiheit wird gewährt, weil sie nicht mehr gefährdet.
Eine anti-institutionelle Strategie beharrt dagegen auf der Möglichkeit des Bruchs gegen dieses von Menschen produzierte Schicksal. Eine solche Strategie steht außerhalb etablierter Politik. Sie erkennt Unterdrückung, wo Freiheit behauptet wird und lässt sich nicht durch die vorgeschriebenen Wege der Machtpolitik von ihren Zielen abbringen. Damit, so erklärte Taubes den versammelten Soziologen, wird der Anarchismus erneut aktuell:
"Wegen der Theorie der Institutionen besitzt die anarchistische Theorie und Strategie heute eine große Aktualität […] Es stimmt zwar, dass die Gruppe, in der sich das revolutionäre Potential kondensiert nicht mehr dieselbe Adresse wie im neunzehnten Jahrhundert hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass das revolutionäre Potential nicht mehr vorhanden ist. Es muss nur durch Transformation wieder herausgebracht werden […]. Aufgabe wäre es, das Element des Opferrituals an der Kultur selber zu durchdringen."
Innerhalb dieser allgemeinen Zwangsfreiheit gibt es keinen vorbestimmten Platz für ein revolutionäres Potenzial. Die anstehende im Kern messianische Aufgabe kann sich auf nichts Gegebenes verlassen. Gegen die geschlossene Welt der Institutionen und ihrer Vernunft bleibt Rebellion im Verständnis der Machtpolitik unvernünftig und im Verständnis der Unterdrückten notwendig.
In seinem Vortrag auf dem Soziologenkongress bezog sich Taubes auf das "Organisationsreferat" von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl. Sie hatten gegen die Institutionen einen "langen Marsch durch die Institutionen" gefordert. Sie forderten Subversion im Herzen des "Imperiums". Dieser "lange Marsch" orientierte sich am Partisanenkrieg in China. Taubes wagte auf dem Soziologentag eine Zuspitzung:
"Das Bündnis der Philosophie mit den Partisanen […] entfesselt die Möglichkeit des Kampfes im Raume der Industriekultur selbst um die Emanzipation des Menschen von seinen Institutionen, d. h. das Geheimnis des 20. Jahrhunderts und der möglichen Revolution dieses Jahrhunderts."
Taubes lehnte Elite ab, betonte aber die Bedeutung einer revolutionären Avantgarde. In einem Interview aus dem Jahr 1982 verdeutlichte er den Unterschied:
"In der Avantgarde Konzeption scheint mir das Gleichheitsprinzip der Menschen und ein Begriff von Wissen durchzuleuchten oder anvisiert zu sein, der an alle gerichtet ist […] während die Elite prinzipiell die Unterscheidung, die unübersteigbare Schranke zwischen der großen Masse und den Wenigen setzt."
Die neue Orthodoxie
Noch 1983 wird Taubes die Studentenrevolte als "das erste Ereignis des deutschen Geistes nach dem Untergang" bezeichnen. Sie sei aber inzwischen "auf die Schiene der Orthodoxie abgefahren".
Denn in den Auseinandersetzungen an der Freien Universität Berlin sah sich Taubes in den 1970er- und 1980er-Jahren zwei Fronten gegenüber. Einerseits einer technokratischen Hochschulreform, entscheidender und enttäuschender für Jacob Taubes war die neue Orthodoxie der Studenten. Sie fielen zurück in einen Staatsmarxismus und stritten mit den herrschenden Institutionen um das Ziel höherer Effektivität:
"Der Seminar-Marxismus hat als akademisch gezähmte Sozialwissenschaft ins linke juste milieu der liberalen Restauration Eingang gefunden. Erst ein sich selbst nivellierender Marxismus konnte sich als sozialwissenschaftliche Methode verstehen. Die Theorie der Krise und die revolutionäre Praxis müssen vom marxistischen Leib der Theorie amputiert werden, um Marxismus als 'Sozialwissenschaft' akademisch salonfähig zu machen."
Messianische Hoffnung war mit dieser Integration aufgegeben. Damit entstand ein Raum, in dem eine neue "Konjunktur des Polytheismus" gefeiert wurde, wie Taubes seinen Aufsatz aus dem Jahr 1983 nannte. Der Protest gegen die integrierte Gesellschaft konnte auch zurückfallen in den regressiven Traum einer opferbereiten Gesellschaft. Dieser Rückfall reiche bis in die Entstehung einer "Neuen Rechten" die ausdrücklich ein neues Heidentum propagiere. Wenn eine befreite Gesellschaft ausgeschlossen ist, bleibt nur die begeisterte Annahme des Opferkults, um sich auch in der Unfreiheit zu Hause zu fühlen. Vor dieser Regression hatte Taubes bereits 1963 gewarnt:
"Jede Kritik der Wissenschaft muss überprüft werden, ob sie die irrationalen Mächte zitiert, den irrationalen Charakter der Ordnung des Seins oder der Existenz beschwört, um durch ihren Zauber den Menschen zu binden, zu entmächtigen und zu entmündigen, oder ob sie den Prozess der Entzauberung weiterführt und gerade die Verflechtung der Wissenschaft mit der irrationalen gesellschaftlichen Praxis der industriellen Gesellschaft aufhellt und so den schwer fassbaren rationalen Schleier ihrer Irrationalität zerreißt."
Wie Günther Anders sah Taubes die "Apokalypse-Blindheit" im verbreiteten Fortschrittsglauben, der nur verbesserte und damit bestätigte. Kritik bleibt auf eine Renovierung der Fassaden beschränkt.
Taubes interpretierte diese Einrichtung im Gegebenen als die Anerkennung einer Welt, die sich "nach Christus" verstand: Der Messias sei bereits erschienen. Nichts Anderes darf mehr kommen, weil alles Entscheidende bereits geschehen ist.
Thomas Hobbes hatte 1651 in seinem Buch über den Leviathan Macht aus diesem Verständnis entwickelt. Hobbes sah allerdings noch die Gefahr des Ausnahmezustands, der nur durch eine Frieden stiftende Macht aufgehalten werden könne. Denn dieser Ausnahmezustand gefährdet die Wahrheit des bereits erschienen Messias'. Die Beherrschung des Ausnahmezustands legitimiert deshalb jede Maßnahme staatlicher Macht.
Der Messias bei Thomas Hobbes stellt die Welt nicht infrage, sondern begründet Herrschaft. "Jesus ist der Christus" bedeutet auch: Dieser Machtfrieden muss mit allen Mitteln bewahrt werden.
Der Jurist Carl Schmitt veröffentlichte 1937 während des Nationalsozialismus seine Aktualisierung des Leviathan, für Taubes eine zugleich verhängnisvolle und einsichtige Interpretation. Es ging Schmitt um die Letztbegründung des Staates. Er garantiere, dass der Ausnahmezustand beherrschbar blieb. In diesem Ausnahmezustand zeigen sich deshalb Notwendigkeit und Legitimität der Macht.
Gerade dieser Ausnahmezustand begründet für Taubes aber im Gegenteil messianische Hoffnung, denn das entscheidende Andere liegt noch in der Zukunft. Taubes wie Schmitt ging es um den Ausnahmezustand, der eine andere Welt ermöglichte oder im Gegenteil die Welt, wie sie ist, bestätigte.
Taubes kommentierte Carl Schmitts Verständnis des christlichen Reichs:
"Reich bedeutet […] die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegenwärtigen Äon aufzuhalten vermag [...] Der Glaube, dass ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt […] Carl Schmitt denkt apokalyptisch, aber von oben her, von den Gewalten; ich denke von unten her. Uns beiden gemeinsam aber ist jene Erfahrung von Zeit und Geschichte als Frist, als Galgenfrist."
Paulus und Anti-Cäsar
Anders als die liberalen Vertreter des Status quo wusste Carl Schmitt um die dauernde Gefährdung der Welt, wie sie ist. Dies verband ihn mit Jacob Taubes, der aber auf der Gegenseite stand. Denn diese dauernde Gefährdung bedeutete für Taubes die messianische Chance einer anderen Welt, für Schmitt dagegen die äußerste Gefahr.
Mit Carl Schmitt war also eine Diskussion über die entscheidenden Dinge möglich, nicht mit den Ausläufern der integrierten Revolte aus den 60er-Jahren, von denen Taubes so viel erwartet hatte.
1980 schrieb Jacob Taubes in einem Brief über die Diskussion mit dem Philosophen Theunissen, in der es auch um die zeitgenössischen sozialen und politischen Alternativbewegungen ging:
"Interessant war Theunissens Versuch, die Alternativbewegungen theoretisch zum Gegenspieler des Hobbesianischen […] Staates zu machen. Ich war […] demgegenüber skeptisch, weil in den Alternativbewegungen mir nichts erscheint, was sozial oder geistig als das 'ganz Andere' zu bezeichnen wäre. Wir […] haben uns geschichtsphilosophisch darauf geeinigt, dass ein Vergleich unserer Epoche mit dem der Spätantike zutrifft, heute ein 'Cäsarismus' der Bürokratie in je verschiedener Ost und West durchherrscht […], dass aber heute kein Paulus in Sicht ist, der dem ganz Anderen, dem Anti-Cäsar, nach dem die Epoche sich sehnt, Bild und Wirklichkeit verleihen kann."
Wenige Wochen vor seinem Tod sprach Taubes im Februar 1987 in Heidelberg vor kleinem Kreis über Paulus, seine letzte Vorlesung. Der Apostel hatte für Taubes gegen das Imperium Romanum eine Rettung des Messianischen geleistet. Um diese Rettung ging es jetzt auch Taubes. Er las aus dem Brief des Apostels an die Römer, an die Menschen im Herzen des Imperiums:
"Denn die Sehnsucht des Geschaffenen wartet auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Söhne Gottes […] Denn wir wissen, dass alles Geschaffene insgesamt seufzt und sich schmerzlich ängstigt bis jetzt […] auch wir seufzen in uns selbst und warten auf die volle Offenbarung der Annahme an Sohnes statt, auf die Erlösung unseres Leibs. Denn nur auf Hoffnung hin sind wir gerettet worden."
Bei Taubes stand diese Hoffnung gegen den Nomos, gegen menschliche Rechts- und Machtordnung. Damit würde jedes Imperium bis in die Gegenwart infrage gestellt:
"Das ist der Anti-Cäsar [...] Nicht der Nomos, sondern der durch den Nomos ans Kreuz Geschlagene ist der Imperator! Das ist ungeheuerlich, und dagegen sind alle kleinen Revoluzzer doch nichtig! Diese Umwertung stellt jüdisch-römisch-hellenistische Oberschicht-Theologie auf den Kopf […] Paulus ist […] universal, […] durch das Nadelöhr des Gekreuzigten, und das heißt: Umkehrung aller Werte dieser Welt."
1982 hatte Taubes die Gemeinde um Paulus mit den Worten des Apostels charakterisiert:
"Nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die Weisen zu Schande mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er zu Schanden mache, was stark ist; und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet."
Die Vorlesung zu Paulus stellte Taubes unter den Titel Galgenfrist, es blieb kaum Zeit, für Taubes nicht persönlich und nicht geschichtlich nach den nicht erfolgten Konsequenzen aus dem Grauen des 20. Jahrhunderts. Taubes galt inzwischen als unzeitgemäß, gerade weil er wusste, was zeitgemäß war.
Mitte der 1970er-Jahre plante Taubes eine Zeitschrift, ihr Titel Kassiber, ein Wort aus der jiddisch-deutschen Gaunersprache. Es stammt aus dem hebräischen "kataw" und bedeutet "Geschriebenes": Texte aus dem Gefängnis der Gegenwart geschmuggelt - in diesem Sinne verstand Taubes seine messianische Philosophie. Zum Tode Herbert Marcuses schrieb Taubes 1979:
"Die Erfahrung von Welt als oberstes 'Zwangssystem' erzwingt im Gegenzug das Postulat vom Sprung und der Sprengungen der Ordnungen dieser Welt."
Dieses Postulat war für Taubes aufrechtzuerhalten, gegen jede Wahrscheinlichkeit, um die Zukunft aus der gegenwärtigen Welt zu retten und damit auch die Menschen, die in der Vergangenheit geopfert wurden.