Immer mehr große Städte in Deutschland müssen in den Krisenmodus schalten, denn in immer mehr Städten wird die entscheidende Marke von 50 Neuinfektionen, gerechnet auf 100.000 Einwohner, überschritten. Die Folge in einigen Bundesländern: Sperrstunden, Maskenpflicht im Freien und Beherbergungsverbote.
Das Beherbergungsverbot enthält auch moralphilosophische Fragen: Es geht um Freiheitsverteilung und ungleichgewichtige Einschränkungen, bestimmte Personengruppen oder Angehörige einer Region werden stigmatisiert und ausgeschlossen. "Einschränkungen der Mobilität bewirken doch nur dann etwas, wenn es große regionale Unterschiede in der Inzidenz gibt", sagt die Tübinger Philosophin Sabine Döring im Dlf. "Mir scheint es so zu sein, dass Reisebeschränkungen zur Ausbruchsphase einer Pandemie passen, in der noch realistische Chancen auf Containment besteht, also auf Eindämmung, aber dass sie nicht viel bringen nach einem halben Jahr, wo nur noch die Abminderung von Folgen möglich ist."
Bundesländer betreiben "föderalen Tribalismus"
Derzeit dürfen Menschen von Mainz nach Köln fahren, aber nicht umgekehrt. "Man fragt sich, warum ausgerechnet Maßnahmen, die die Mobilität zwischen Bundesländern betreffen, von jedem Bundesland einzeln - und dann eben erwartungsgemäß abweichend - beschlossen werden, das scheint ja nicht zielführend zu sein. Das klingt nach föderalem Tribalismus. Was wir aber jetzt brauchen, sind Konsistenz und Nachvollziehbarkeit. Vor allem, wenn die Bevölkerung weiterhin auf behördlichen Maßnahmen vertrauen oder sie sogar aktiv mittragen soll."
Philosophisch gesehen, geht es auch um den innermoralischen Konflikt zwischen dem Richtigen und dem Guten. Und um kollektive Verantwortung. Kann die vorsichtige Rentnerin aus Frankfurt am Main in Kollektivhaft genommen werden für das unverantwortliche Verhalten anderer?
Wohnort begründet nicht Gruppenzugehörigkeit
"Das Quarantäne-Kriterium vom Wohnort ist moralisch irrelevant", sagte Döring. Nehme man als gegeben an, dass Kollektive überhaupt moralisch verantwortlich sein könnten – im Unterschied zu Individuen -, dann müsse zunächst dieses Kollektiv als Gruppe definiert werden. Der Wohnort begründe sicher nicht eine Gruppenzugehörigkeit, denn den suche man sich nicht aus, weil man gern in einem bestimmten "regionalen Kollektiv" Mitglied wäre. "Die historische Phase, in der wir in Stammesgemeinschaften zusammengehaust haben, liegt ja schon etwas zurück. Sippenhaft ist aus moralischer Sicht ein Schlag ins Leere, aber eben auch aus epidemiologischer Sicht."
Framing von Gegensätzen schadet
Mit dem unterstellten Gegensatz zwischen der armen sorgenvollen Rentnerin und den gewissenlosen jugendlichen Hedonisten würden wir uns keinen Gefallen und den meisten Leuten Unrecht tun, so Döring. "Damit werden keine Kollektive begründet, denn mein Alter kann ich mir noch weniger aussuchen als meinen Wohnort." Und selbstverständlich gebe es viele vernünftige junge Leute und auch unvernünftige alte Menschen. Egoismus zu unterstellen, greife zu kurz, so die Philosophin. Bei jungen Leuten gehöre zu einem guten Leben das Treffen von Freunden eben dazu. "Wir sollten nicht 'jung – alt' framen und diese Gegensätze aufbauen."
Es sei jetzt wichtig, dass es wissenschaftlich fundierte, effiziente individuelle und lokale Verhaltensregeln für Orte und Veranstaltungen gebe, an denen Menschen sich treffen. Und die sollten dann auch mit Sanktionen durchgesetzt werden: "Hier zählt dann wesentlich individuelle Verantwortung, und an die appelliert ja die Politik derzeit auch immer wieder."