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Physik-Nobelpreis 2016
Exotische Materie und Phasenübergänge im Flachland

Die Entdeckungen der künftigen Physik-Nobelpreisträger 2016 hätten laut Königlich Schwedischer Akademie "Fortschritte für das theoretische Verständnis der Mysterien von Materie gebracht" und "neue Perspektiven für die Entwicklung innovativer Materialien geschaffen". Ralf Krauter erläutert die Bedeutung und die Chancen der Arbeiten von Thouless, Haldane und Kosterlitz.

Wissenschaftsjournalist Ralf Krauter im Gespräch mit Uli Blumenthal |
    Ein IGBT-Modul (insulated-gate bipolar transistor; Bipolartransistor mit isolierter Gate-Elektrode) von Infineon
    Für die Halbleiterindustrie könnte die Arbeit der Nobelpreisträger ganz neue Möglichkeiten eröffnen (dpa picture alliance)
    Uli Blumenthal: Was ging Ihnen durch den Kopf, als diese drei Namen fielen?
    Ralf Krauter: Mist, wer ist das denn. Ganz ehrlich: Ich hatte diese drei Namen vorher nie gehört. Was aber auch damit zusammenhängt, dass Theoretische Physik abstrakt ist und man sich als Wissenschaftsjournalist oft eher für die handfesteren Themen interessiert, weil die leichter zu vermitteln sind. Die drei ausgezeichneten sind alle theoretische Physiker. Sie stammen alle ursprünglich aus Großbritannien, forschen aber schon seit Jahren in den USA.
    David Thouless, der eine Hälfte bekommt, an der University of Washington in Seattle. Duncan Haldane an der Uni Princeton und Michael Kosterlitz forscht an der Brown University in Providence. Sie bekommen den Preis dafür, dass sie mathematische Modelle entwickelt haben, mit deren Hilfe sich die Geheimnisse exotischer Materiezustände entschlüsseln lassen.
    Blumenthal: Exotische Materiezustände: Was verstehen Physiker darunter?
    Krauter: Ja alles, was einem bei so einem Experiment im Labor eben dazu bringt, die Stirn zu kräuseln, weil man erstmal nicht damit gerechnet hatte. Beobachten kann man sowas zum Beispiel, wenn man die Elektronen in einem Festkörper, die sich ja normalerweise in drei Dimensionen bewegen, in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt, sodass sie sich nur noch in einer Ebene bewegen können.
    Klaus von Klitzing zum Beispiel, der deutsche Physiker aus Stuttgart, der hat 1980 nicht schlecht gestaunt, als er bei einem Experiment mal geschaut hat, wie sich die elektrische Leitfähigkeit eines ultradünnen tiefgekühlten Metallfilms ändert, der zwischen zwei Halbleitern steckt, wenn man ein starkes Magnetfeld anlegt. Das Überraschende war nämlich: Diese extremen Bedingungen - tiefe Temperatur und starkes Magnetfeld - führten dazu, das sich die Leitfähigkeit dieses dünnen Metallfilms sprunghaft veränderte, nicht kontinuierlich, wie man das eigentlich erwartet hätte.
    Die Physiker sprechen in diesem Kontext von einem Phasenübergang, weil sich Materialeigenschaften dabei ähnlich grundlegend ändern, wie wenn Wasser vom flüssigen in den festen Zustand übergeht. Klaus von Klitzing bekam für die Entdeckung dieses sogenannten Quanten-Hall-Effektes 1985 den Physik-Nobelpreis. Und die theoretischen Arbeiten der heute Ausgezeichneten haben unter anderem geholfen zu verstehen, was bei diesem Experiment, das heute in jedem Schulbuch steht, wirklich passiert.
    "Es geht um Quantenflüssigkeiten und Wirbel, die sich bilden und umher wandern"
    Blumenthal: Wie sieht die theoretische Erklärung aus?
    Krauter: David Thouless und Duncan Haldane haben in den 1980er-Jahren eine neue Theorie der elektrischen Leitfähigkeit in Festkörpern ausgefeilt, deren Basis topologische Überlegungen waren, bei denen geometrische Eigenschaften von Objekten eine Schlüsselrolle spielen. Sie haben dabei aufgebaut auf Überlegungen, die David Thouless und Michael Kosterlitz zehn Jahre früher bereits in Birmingham angestellt hatten. Die Details sind kompliziert, es geht da um Quantenflüssigkeiten und Wirbel, die sich bilden und umher wandern.
    Das Entscheidende: Diese Theorie erklärte genau das, was Klaus von Klitzing beobachtet hatte. Dass nämlich bei hohem Magnetfeld und tiefen Temperaturen merkwürdige Quanteneffekte auftreten, die zu sprunghaftem Verhalten führen. Duncan Haldane hat später dann noch einen draufgelegt und 1988 gezeigt: In Halbleitern müssten ähnliche Effekte auch ohne Magnetfeld auftreten. Und über 25 Jahre später, 2014, ist es Forschern erstmals gelungen, diese Vorhersage mit ultrakalten Atomen zu belegen.
    Vision von Quantencomputern
    Und das zeigt: Die mathematischen Konzepte, Stichwort "topologische Phasenübergänge", deren Entwickler heute ausgezeichnet wurden, haben der Festkörperphysik ganz neue Möglichkeiten eröffnet und eine Fülle neuer Experimente angestoßen, bei denen exotische Materialien hergestellt und untersucht werden. Der Oberflächenphysiker Professor Martin Wolf vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin hat mir das vorhin so erklärt:
    "Also im Bereich der Oberflächenphysik oder allgemein der Festkörperphysik gibt es jetzt ein sehr aktives Feld, wo aufgrund von solchen Symmetrie-Überlegungen neue Materialien wirklich vorhergesagt werden, indem man eben die elektronische Struktur analysiert und sozusagen vorhersagt. Und dann kann man wirklich neue Materialien herstellen und muss nicht raten und versuchen, herauszukriegen, was diese Eigenschaften haben, sondern ich kann diese einen."
    Und mit diesen Designer-Werkstoffen, an denen Forscher intensiv tüfteln, verbinden sich eben zum Beispiel Hoffnungen auf kompaktere Computerfestplatten, schnellere Prozessoren, supraleitende Stromkabel und vielleicht irgendwann sogar einmal Quantencomputer.
    Blumenthal: Verzahnung von Theorie und Experiment?
    Krauter: Da sind die Auszeichnungen heute ein hervorragendes Beispiel für diese Verzahnung von Theorie und Experiment. Die Theoretiker entwickeln Modell, die Vorhersagen erlauben, die Experimentatoren dann testen können. Das Ganze ist aber keine Einbahnstraße: Manchmal, wie im Fall von Klaus von Klitzing, haben auch die Experimentatoren die Nase vorn, machen Versuche, deren Ergebnisse sie nicht so recht verstehen und bitten dann Theoretiker um Hilfe. In diesem Fall bei Phasenübergängen im Flachland sozusagen, befruchtet sich das beides gegenseitig.
    "Das Feld der topologischen Isolatoren boomt"
    Blumenthal: Ist der Drops gelutscht?
    Krauter: Im Gegenteil, es geht gerade erst los. Gerade das Feld der topologischen Isolatoren boomt ja. Es ist auffällig zu sehen, wie viele Vorträge es auf den Tagungen der Festkörperphysiker dazu gibt. Da ist Musik drin. Weil die Idee, Materialien fertigen zu können, die Strom nur an ihrer Oberfläche leiten und dadurch fast ohne elektrischen Widerstand - und zwar bei Raumtemperatur, ohne tiefgekühlt werden zu müssen wie konventionelle Supraleiter -, die ist einfach faszinierend.
    Für die Halbleiterindustrie wäre das natürlich klasse, wenn man dieses Potenzial wirklich nutzen könnte. Der limitierende Faktor dort ist ja die Wärmeabstrahlung der immer kleineren Bauteile, verursacht durch deren elektrischen Widerstand. Wenn man den mit topologischen Tricks minimieren könnte, wäre das der Schlüssel zu noch kompakteren und damit leistungsfähigeren Prozessoren.