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Pierre Christin
"Ost-West"

Mit der Science-Fiction-Reihe "Valerian und Veronique" hat der französische Comicautor Pierre Christin einen Klassiker geschaffen. Nun hat er eine Autobiographie vorgelegt, die zugleich eine Reise durch die Welt des Kalten Krieges ist. Ein eindrücklicher und kurzweiliger Ritt durch die Zeitgeschichte.

Melanie Longerich im Gespräch mit Catrin Stövesand |
Jean Claude Mezieres und Pierre Christin vor der Premiere des Films Valerian (2017)
Sein Kindheitsfreund Jean-Claude Mézières (l) spielt in der Autobiographie von Pierre Christin (r) auch eine Rolle. (imago stock&people (Stephen Caillet))
Catrin Stövesand: In seinem Vorwort von "Ost-West" schreibt Pierre Christin, dass er sich eigentlich vorgenommen hatte, niemals eine Autobiographie zu schreiben. Diesen Vorsatz hat er lange durchgehalten. Jetzt mit 81 Jahren hat er es doch gemacht. Warum?
Melanie Longerich: Es muss ihn dann doch gereizt haben. Eigentlich ist Christin gegen jede Art der Verherrlichungsmechanismen – das jedenfalls schreibt er im Vorwort. Und das ist ja dann doch ziemlich bescheiden dafür, dass Christin eben den französischen Comic – später auch die längere Variante, die Graphic Novel, so entscheidend geprägt hat. Was ja gar nicht so einfach ist, denn als Szenarist, also als der Autor, der beim Comic für die Geschichte und die Texte zuständig ist, steht man ja eher nicht im Rampenlicht.
Stövesand: Christin hat ja mit vielen sehr bekannten Zeichnern zusammengearbeitet, richtig?
Longerich: Mit Enki Bilal, Jacques Tardi oder auch Annie Goetzinger. Und natürlich wie hier mit Philippe Aymond. Die beiden arbeiten schon lange gut und eng zusammen – und harmonieren gut, obwohl Aymond 30 Jahre jünger ist. Und das ist ja gerade bei einer Autobiographie wichtig, diese Harmonie, die Anliegen des Autors müssen ja rüberkommen. Und Aymond schafft das wirklich grandios, denn er kann je nach Ort und Stimmung Stil, Farbgebung komplett wechseln.
Reisender zwischen den Systemen
Stövesand: Der Titel Ost-West lässt ja jetzt vermuten, dass es nicht nur rein um seine Autobiographie geht, sondern auch um die ideologischen Gegensätze zwischen Kapitalismus und Kommunismus, richtig?
Longerich: Christin, 1938 geboren, verwebt seinen eigenen Lebenslauf mit der politischen Lage seit dem Zweiten Weltkrieg. Er hat das in seinem Vorwort so formuliert:
"Ich habe eine Periode durchmessen, in der Frankreich, mitunter rückwärts, vor dem Hintergrund eines heute quasi unvorstellbaren generalisierten Optimismus in die Moderne abglitt. Und das beiderseits des ‚Eisernen Vorhangs‘, der zwischen kapitalistischen Ländern und kommunistischen Regimen gefallen war: Die ‚Wohlstandsgesellschaft‘ im Westen gegen die ‚strahlende Zukunft‘ im Osten. Amerika, wo ich oft meine Koffer abgestellt habe, begeisterte mich und stieß mich sogleich ab. Die Länder des Ostens, die ich oft bereist habe, zogen mich an und bekümmerten mich. Damals war es sehr ungewöhnlich, beide gleichzeitig zu frequentieren, so breit, wie die ideologischen Gräben waren. Dennoch habe ich genau das gemacht, in der Regel an Bord von heruntergekommenen Rostlauben, um in Frieden zu hausen und mir meine eigenen Gedanken machen zu können."
Stövesand: Das muss man sich also vorstellen als eine Art Roadmovie durchs eigene Leben – und die Zeitgeschichte?
Longerich: Ja, aber ein ziemlich ramponiertes Roadmovie, denn offensichtlich hat Christin von Anfang an kein gutes Auge bei der Auswahl seiner Rostlauben. Die erste geht schon nach wenigen Seiten kaputt. In Salt Lake City, als er dabei war, die benachbarten Canyons zu erkunden. Das war 1965 und Christin hatte gerade eine Professur für französische Literatur an der University of Utah angenommen. Das Ersatzmodell bricht dann fünf Seiten später auseinander. Da hat er gerade seinen Kindheitsfreund Jean-Claude Mézières wieder getroffen, den er während des Zweiten Weltkrieges im Luftschutzbunker kennenlernte. Mézières zeichnete Comics – nahm sich aber gerade eine Auszeit als Cowboy. Die beiden brauchten Geld – und da fragt Mézières ihn, ob er nicht Lust habe, die Texte für einen kurzen Comic zu schreiben, den er an das damals sehr angesagte französische Jugendmagazin Pilote schicken wollte. Das gibt es zwar heute nicht mehr, aber bis Ende der 90er Jahre brachte Pilote viele berühmte Comic-Serien, -Zeichner und -Autoren heraus. Asterix wurde zum Beispiel extra für den Start entwickelt. Und Goscinny, also der Szenarist von Asterix, war zu dieser Zeit auch Chefredakteur bei Pilote. Und der zeigte Christin dann eben auch, wie ein Szenarist arbeitet. Vor ihm gab es ja diesen Beruf gar nicht.
Kritische Distanz und Blick für den Alltag
Stövesand: Später sind Christin und Mézières dann ja europaweit bekannt geworden mit ihrer Science-Fiction-Comicserie Valerian und Veronique, die wurde ja auch vor einiger Zeit von Luc Besson verfilmt …
Longerich: "Genau, bei der ging es, wie übrigens oft bei Christin - bei allen fremden Galaxien und Zeitreisen - auch immer um gesellschaftspolitische Themen, um ausbeuterische Systeme, gegen die sich die vermeintlich Schwächeren behaupten müssen. Christin - der ja später einen Lehrstuhl für Journalismus an der Universität von Bordeaux leitet, schafft es mit kritischer Distanz, und einem Blick auch für die kleinsten Details des Alltags die Stimmung einzufangen. Er ist immer auf der Suche nach der Wirklichkeit, das bunt glitzernde plakative Amerika, das, wo er sein Buch startet, das interessiert ihn nicht, reicht ihm auch nicht. Aber das unbekümmerte Leben auf Kredit der Amerikaner zum Beispiel schon, auch Rassendiskriminierung in den 60er Jahren und Vietnamkrieg. Seine Beobachtungs- und Beschreibungsgabe ist aber besonders im zweiten Teil seiner Autobiographie gut zu erkennen, als er verfolgt, wie in den Ländern des Realsozialismus kafkaeske Mechanismen wirken und walten.
Nur das eigene Bild zählt
Stövesand: Was hat ihn am Osten gereizt?
Longerich: Christin wollte ergründen, wie der Teufel aussieht, der in auf seinen Reisen im Westen immer wieder an die Wand gemalt wurde. Und der Entschluss dazu entwickelte sich nach seiner Rückkehr nach Frankreich. Christin ging ja als Professor nach Bordeaux. Wenig später beginnt der Mai ´68, als wie er schreibt, ‚das Feuer entflammt, das unter dem bleiernen Mantel des ausgehenden Gaullismus schwelte‘. Er schildert die Studentenunruhen, aber auch das Durcheinander in der Professorenschaft. Es wurde gestritten, nicht nur zwischen rechts und links, sondern vor allem die Linken untereinander stritten heftig. Die einen solidarisierten sich mit dem Prager Frühling, die anderen wollten keine Konflikte mit der großen Schwester in Moskau provozieren. Und da wollte Christin sich selbst ein Bild machen.
Er reist also mit einem alten Renault von Wien, über Budapest, Bukarest, die bulgarische Goldküste bis nach Istanbul und zurück durch Polen. Er trifft Freunde von Freunden, allesamt desillusioniert – die einen findig eingerichtet im System, die anderen testen die Dehnbarkeit der Grenzen. Später reist er dann auch nach Moskau, ins Wendedeutschland, nach Tschernobyl.
Stövesand: Melanie, was würdest Du sagen, ist das jetzt eher ein rasantes Zeitdokument oder ist es doch eher für Graphic Novel-Fans gemacht?
Longerich: Wer die französische Comicszene kennt, der hat in der Erzählung natürlich viele zusätzliche Aha-Erlebnisse. Aber das ist absolut keine Voraussetzung. ‚Ost-West‘ ist auch so ein eindrücklicher – und äußerst kurzweiliger Ritt durch die Zeitgeschichte. Und in diesen Tagen absolut geeignet, um sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, wie rasant sich die Welt seit 30 Jahren verändert hat.
Pierre Christin: "Ost-West. Eine Biographie", illustriert von Philippe Aymond,
Carlsen Verlag, 144 Seiten, 22 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.