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Pierre Guyotat: „Koma“
Der Wahnsinn hat Methode

In seinem neuen Buch "Koma" offenbart der französische Autor Pierre Guyotat seine eigene psychische Krankengeschichte. Doch nicht das Autobiografische steht im Vordergrund, sondern der existenzielle Zustand des Außer-sich-Seins und des Schmerzes, den der Autor durchlebt hat.

Von Shirin Sojitrawalla |
    Pierre Guyotat, 7 novembre 2006 !AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT! PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Copyright: SophiexBassouls/Leemage SB_001289_9108 Pierre 7 novembre 2006 date estimated PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxHUNxONLY Copyright SophiexBassouls Leemage SB_001289_9108
    Cruist gewissermaßen durch die Jahrzehnte seines Lebens: Pierre Guyotat gilt als einer der bedeutendsten Erneuerer und Avantgardisten der französischen Literatur (imago / Leemage /Sophie Bassouls)
    Neben der Liebe und dem Tod ist auch der Wahnsinn wie gemacht dafür, um literarisch auszuflippen. Zu denken ist etwa an Nikolai Gogols "Tagebuch eines Wahnsinnigen" oder auch an Rainald Goetz und seinen Psychiatrie-Roman "Irre", an Frank Witzels "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" und natürlich an Thomas Melles autobiografische Erkundung "Die Welt im Rücken". Sein eigenes Verrücktwerden an und vor der Welt dokumentiert auch der französische Schriftsteller Pierre Guyotat in seinem umwerfenden Buch "Koma". Darin verfolgt er seine eigene Erkrankung, seine Erschöpfung, seine schwerwiegende Depression, seine psychotischen Schübe und Halluzinationen. Auch wenn das Erzählte in diesem Falle schon interessant genug scheint, ist es doch die Erzählweise, die dieses Buch über andere erhebt. "Koma" zeichnet aus, wie es geschrieben wurde, streng genommen nämlich gar nicht. Es wird vielmehr: erzählt. Guyotat hat den Text als Audio-Diktat aufgezeichnet, was ihm eine ungeheure Unmittelbarkeit, Lebendigkeit und Authentizität verleiht:
    "Aus diesem Anfang Herbst stattfindenden Hören der Schnittfassung, dessen, was ich im Winter geschrieben habe, dieser Atemanstrengung auf sehr kurzer Distanz – der Anstrengung eines musikalischen Interpreten –, diesem Anhören meiner eigenen Atmung von diesem oder jenem Tag oder von voriger Woche um des Bogens oder der Harmonie willen, dieser Rückkehr von meiner Kehle zu meinem Ohr, dieser orphischen Umkehrung, die wir, er, der mir ein Freund wird, und ich, Stunde um Stunde bewerkstelligen, aus dieser an einem stets gleichen, abgeschlossenen Ort vollzogenen vokalen, mikroskopischen, technischen Dekomposition eines unter freiem Himmel und durch die Operation der schöpferischen Halluzination vollbrachten Akts – gehe ich erschöpft und stark abgemagert hervor."
    So heißt es in diesem Buch, das sich nicht zwischen Tür und Angel lesen lässt. Es braucht ungeteilte Aufmerksamkeit, um der Anstrengung nachzufolgen, mit der Guyotat das Ungreifbare zu greifen versucht. Der Autor schlägt sich nicht nur bis an den Rand seines eigenen Wahnsinns durch, er lotet auch die Grenzen des eigenen Ichs vollständig aus, wobei dieses Ich ihm längst so fremd geworden ist wie eine ausgedachte Figur. Stets ringt der Autor ebenso sehr um die Form seiner Erzählung wie um seinem eigenen psychischen Zustand. Dabei steht nicht der autobiografische Gehalt des Buches im Vordergrund. Es geht vielmehr um eine allgemeingültige Bestandsaufnahme der menschlichen Existenz, die in seiner persönlichen Geschichte verborgen liegt.
    Von der Drangsal im eigenen Kopf
    In kurzen Passagen und Kapiteln irrt das sprechende Ich in seinem Leben umher, vergräbt sich in Vorstellungen des Kindes, das es einst war, erwägt seine Einberufung im Algerienkrieg, windet sich mal in den 1960er Jahren, mal in den 70ern und 80ern. Guyotat cruist gewissermaßen durch die Jahrzehnte seines Lebens, immer auf der Suche nach der großen Trostlosigkeit, die er in all ihren schmerzhaften Möglichkeiten ausbuchstabiert. Die Drangsal in seinem Kopf kleidet er in Worte, die mal sehr zart, mal grausam und hart tönen. Er erinnert sich, rekapituliert und inspiziert sich und sein Leben wie einen Gendefekt. Schonungslos gesteht er sich dabei die eigene Außenseiterposition ein:
    "So viele individuelle, so viele kollektive Leben, aus denen ich ausgeschlossen bin, ich, der ich mich seit meiner Kindheit nicht damit abfinden kann, dass man in der Zeit eines Menschenlebens nicht jedes der Milliarden und Millionen von Geburt an sich ereignenden Menschenleben umschlingen kann, ich, der ich kein beleuchtetes Fenster sehen kann, ohne Bedauern und Wut zu empfinden, nicht einer von denen zu sein, die dort leben – und die da ihre Suppe trinken."
    Die Porosität des Erzählers findet ihren Widerhall in seinen porös wirkenden Satzkonstruktionen. Dabei durchzieht den gesamten Text eine Trauer, die vom eigenen Dasein beflügelt wird. Am Ende des Buches spricht Guyotat einmal von der "Durchquerung des Todes". Gemeint sind seine Krankheit, die Klinikaufenthalte, der immer mal bevorstehende Tod und die Angst davor. Kurz: das ganze vermaledeite Auf und Ab seiner Existenz. Am Ende dieser "Durchquerung des Todes" steht allerdings nicht das Paradies, sondern ganz im Gegenteil eine Entzauberung der Welt, die dem einstmals nervlich Hochgestimmten nun merkwürdig heruntergekommen, blass und eindimensional erscheinen muss. Vieles in dem Buch erinnert an die schon erwähnten großen Krankengeschichten der Literatur. Guyotat erlebt denselben Schmerz, dieselbe Besinnungslosigkeit und Traurigkeit, dasselbe Ungestüm. Es ist ein großes Glück, dass das Buch jetzt auch auf Deutsch zu lesen ist, in der sprachlich einnehmenden Übersetzung von Heinz Jatho.
    "Ende Dezember kann ich, wenn eine Krankenschwester mir den Kopf auf dem Hals festhält, mich an den Bettrand setzen. Durch einen unterirdischen Gang voller Schläuche und Kabel, der unter einem von einer großen Sonne erleuchteten Hof hindurchführt, verlegt man mich von der Intensivstation in die Innere Abteilung. Auf dem Rollstuhl kippt meine Gestalt weg wie eine Schießbudenfigur. Ich bin auf dem Grund eines Gewässers, eines Sees, und was ich vor mir habe, ist die Larve einer Amphibie."
    Individualität als Wesenskern
    Lyrisch dicht beschreibt Guyotat das Außer-sich-Sein und widmet sich dem eigenen Schmerz auf radikale Weise. Die unsagbare Not, die darin zum Ausdruck kommt, hinterlässt einen unvergesslichen, bestürzenden und beglückenden Eindruck. Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan erläuterte kürzlich in einem Interview, dass es keine Hauptströmung in der französischen Gegenwartsliteratur mehr gebe, sondern Individualität ihr herausragendes Merkmal sei. In diese Behauptung fügt sich Guyotats "Koma" geradezu idealtypisch. Den Einfluss des Lebens auf die Sprache denkt er dabei immer mit. Daran, dass es die Verzweiflung ist, die seinem Schreiben zugrunde liegt, lassen er und sein Buch nicht den geringsten Zweifel.
    Pierre Guyotat: "Koma". Aus dem Französischen von Heinz Jatho.
    Diaphanes Verlag, Zürich. 187 Seiten, 24 Euro.