Ihre erste Begegnung erfolgte Anfang der 1980er-Jahre: György Ligeti, der bekannte Komponist, und Pierre-Laurent Aimard, der damalige Newcomer in der Pianisten-Szene und Mitglied im Ensemble Intercontemporain.
"Wir haben die 'Aventures' und 'Nouvelles Aventures' geprobt, und er hat mit unglaublicher Freiheit und Ausdruck und Vorstellungskraft musikalische Beispiele mit seiner Stimme an die Musiker gegeben. Es war so lebendig und stark und komisch. Ich war verblüfft, dass man so ein großer Komponist sein kann und so ein Clown von höchster Qualität."
"Es war ein Moment, wo ein Komponist einen Interpreten gesucht hat, und ein junger Interpret, der wollte Komponisten dienen oder seine Kräfte geben für die Neue Musik, für die Schöpfer."
Zwischen zwei Proben darf Aimard sogar Ligeti begleiten.
Aus zehn Minuten wird eine lebenslange Freundschaft
"Und dann habe ich gedacht: Gut, diese zehn Minuten werden sicher wie ein Privileg bleiben in deinem Leben, du hast zehn Minuten mit dem großen Ligeti verbracht."
Aus Scheu wird Vertrauen, aus Vertrauen schließlich Freundschaft. Aimard ist fasziniert:
"Er war ein großer Kommunikator und er hatte ein wahnsinniges Talent, uns seine Musik zu erklären irgendwie. Aber er war kein rationeller Mensch. Deswegen benutzt er viele Metaphern, und alle möglichen Mittel, sich verständlich zu machen."
"Er war interessiert in alles und alle, er hat immer alle Menschen gefragt, um zu entdecken und zu lernen, was er lernen konnte."
Seit den 50er-Jahren ist Veronika Spitz eng an Ligetis Seite. Später wird sie als Vera Ligeti seine Frau.
"Ich habe Vera Ligeti nicht oft getroffen während Ligetis Leben, ein paarmal für sehr offizielle Situationen. Heutzutage, seit György gestorben ist, sehe ich sie viel mehr."
Vera Ligeti gibt gewöhnlich keine öffentlichen Interviews. Jetzt hat sie für das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr, das auf seinen Internet-Seiten Ligetis Klaviermusik multimedial und sehr ausführlich präsentiert, erstmals ein längeres Interview gegeben, in dem sie zurückblickt auf die frühen Jahre und die prägenden politischen Systeme.
"Wir alle, also unsere Generation, György auch, haben ja zwei Diktaturen erlebt in unserer frühesten Jugend, die Nazis und dann die Sowjets. Die Ähnlichkeiten waren viel größer, als es offiziell meistens zugegeben wird."
Pierre-Laurent Aimard war es, der Vera Ligeti dazu hat bewegen können, ihr Schweigen zu brechen.
"Sie hat eine sehr starke Persönlichkeit, ist eine sehr intelligente, kultivierte Person. Es scheint mir, dass sie eine von den seltenen sehr starken Persönlichkeiten war, die auf Augenhöhe mit ihm sein konnte."
Nach Stalins Tod: "ein Volksfest mit Lampionbeleuchtung"
Als einen der beglückendsten Tage ihres Lebens bezeichnet Vera Ligeti:
"Eine ungeheure, gute Botschaft und Erleichterung am 5. März 1953: Genosse Stalin ist gestorben. Das war für mich eine Lehre, es war wirklich wahnsinnig interessant, wir waren glücklich, das war wirklich ein Volksfest mit Lampionbeleuchtung."
"Vera hat so ein Gedächtnis und Klarheit, und kann so gut erzählen, dass könnte ein fantastisches Komplement sein fürs Verständnis von bestimmten Werken," meint Pierre-Laurent Aimard.
Vera Ligeti: "Die Menschen, die Leute, die Kollegen und auf der Straße, Massen auf der Straße, man musste dann ja marschieren, und alles Mögliche, diese Turnübungen machen, diese typisch faschistischen. Die Menschen haben geweint, und echt geweint, obwohl sie den Stalin genauso gehasst haben wie wir. Solange der Stalin da war, war eine böse, tyrannische, katastrophale, geisteskranke Vaterfigur da."
Vera Ligeti ist von Beruf Psychoanalytikerin. Daher ist es ihr möglich, nach der gewaltsamen Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes Ligeti ein gefälschtes Dokument auszustellen, in dem sie ihren Mann für geisteskrank erklärt. Damit kann er nahe der Österreichischen Grenze in eine Klinik eingeliefert werden, von wo aus wenige Tage später, im Dezember 1956, die Flucht über die Grenze nach Österreich gelingt.
Ein freier Mensch mit unglaublicher Fantasie
"Sein Schicksal und die Tragik des 20. Jahrhunderts hatte er in sich, permanent. Er hat darüber gesprochen und das findet man auch in seinen Werken," sagt Pierre-Laurent Aimard.
"Dagegen hatte er auch Strategien, selbstverständlich. Eine der sehr aktiven Strategien war sein Humor, Sarkasmus und schwarzer Humor, aber auch sehr viel leichter Humor."
"Er konnte sehr hart sein, er konnte sehr undiplomatisch sein – ein freier Mensch mit einer unglaublichen Fantasie, einer extremen persönlichen Kultur, grenzenlos eigentlich, überraschend, eine verblüffende Neugierde würde ich sagen, vor allem."
Wohl kein Pianist hat einen so tiefen Einblick über den Menschen und Musiker Ligeti gewinnen können wie Pierre-Laurent Aimard. Doch der Musikpädagoge Aimard merkt immer wieder, dass Ligeti, gerade bei Nachwuchsmusikern, immer noch nicht als Klassiker der Moderne etabliert ist.
"Es scheint mir, dass für viele junge Pianisten, Ligeti schon ein berühmter Name ist, nicht für alle, aber für viele. Aber was bedeutet die Musik für die? Einen Text zu spielen oder ein Stück zu spielen bedeutet nichts selbstverständlich, aber der Sinn und die Transformation von dem Interpreten durch die Musik ist eine ganz andere Sache."