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Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers"
Grelles Epochenporträt der 1930er-Jahre

Eine betrogene Frau, die einen Rachefeldzug gegen die Männerwelt startet. Ein Frankreich mit zutiefst korrupten Eliten, das vor einer Zeitenwende steht. Pierre Lemaitres Roman über die frühen 1930er-Jahre ist ein ausgreifender Gesellschaftsroman mit Krimi-Elementen – und Aktualitätsverdacht.

Von Dina Netz |
Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers". Zu sehen ist das Buchcover und der Autor.
Er kann es mit den großen Gesellschaftsromanen aufnehmen: der Thriller "Die Farben des Feuers" (Cover: Klett-Cotta Verlag / Foto: dpa / picture alliance / Juan Carlos Hidalgo)
Pierre Lemaitre ist ein brillanter Krimi-Autor, das beweist er auch in "Die Farben des Feuers". Über fast 500 Seiten hinweg entwickelt er eine höchst komplizierte Intrige, deren Personal und Handlungsstränge spannungsreich und raffiniert verknüpft sind. Ausgangspunkt ist ein fataler Tag im Leben der Péricourts, einer alten französischen Bankiers-Familie: Der Patriarch Marcel Péricourt wird zu Grabe getragen.
Erben sind seine Tochter Madeleine und sein siebenjähriger Enkel Paul. Dieser stürzt sich, als der Trauerzug des Großvaters unter dem Haus Aufstellung nimmt, aus dem zweiten Stock auf den Sarg. Paul überlebt, bleibt aber gelähmt. Seine Mutter verfällt nach diesem dramatischen Tag in eine Art Starre; heute würde man wohl von einer Depression sprechen.
"Madeleine kaute an einem Fingernagel, während sie das Haus musterte, ja, das ist richtig, murmelte sie, dann wechselte sie überfordert das Thema. Stundenlang widmete sie sich unwichtigen Details, auf der Titanic hätte sie angefangen, die Liegestühle neu zu streichen."
Diese Schwäche nutzen diejenigen aus, die sich betrogen fühlen: Marcel Péricourt hat seinen Bruder Charles quasi enterbt, weil der sein Geld nicht beisammenhalten kann. Und Gustave Joubert, der Prokurist der Bank, hatte sich einst Hoffnungen auf eine Heirat mit Madeleine und damit auf das Familienvermögen gemacht – sie wies ihn dann aber brüsk ab. Gustave übernimmt die Bankgeschäfte und beide Männer entwickeln einen hinterhältigen Plan, mit dem sie das Péricourt-Erbe aus Madeleines in ihre eigenen Taschen lenken.
Ein gnadenloser Rachefeldzug
Als Madeleine sich auf den Status einer Bürgerlichen reduziert sieht, begreift sie nicht nur das Ausmaß des Komplotts, sondern sie erwacht auch aus ihrer Starre: Sie beginnt einen gnadenlosen Rachefeldzug, der nicht nur Charles und Gustave auf dem Schlachtfeld zurücklässt, sondern auch große Teile der korrupten Reichen und Mächtigen von Paris:
"Man holte den Senator von Belfort und den des Haut-Rhin aus dem Bett, man weckte einen Vicomte bei seiner Geliebten. Man bat den Automobilkonstrukteur Monsieur Robert Peugeot, den Möbelfabrikanten Monsieur Lévitan, den Vertreiber von Finanzwerbung Monsieur Maurice Mignon respektvoll, ihre Türen, ihre Büros, ihre Schubladen und ihre Buchhaltung zu öffnen. Ein Generalinspekteur der Armee drohte, sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen, hielt sich aber zurück und brach in Tränen aus. Die Bischöfe waren würdevoller, der von Orléans tat, als empfinge er seine Schäfchen und bot Kaffee an. Der Herausgeber des Matin brach in Gelächter aus, aber seine Frau senkte den Kopf wie eine Verdammte. Henriette-François Coty, Ex-Frau des berühmten Parfumeurs, schrie, sie habe mit ihrem Ex-Mann nichts mehr zu tun, wohl weil sie meinte, das eine erkläre das andere. Erzbischof Baudrillart, Mitglied der Académie Française, hüllte sich in seine Würde."
Unnötig zu sagen, dass die Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung bald wieder im Sande verlaufen - die Machtverhältnisse in Frankreich bringt Madeleine natürlich nicht zum Wanken. Aber sie sitzt wie eine hochkonzentrierte Spinne in ihrem klug gesponnenen Netz und stürzt mit ihren Intrigen und Erpressungen schließlich auch den früheren Hauslehrer, einen inzwischen ziemlich erfolgreichen Journalisten. Er hatte sich einst an Madeleines Sohn vergangen – aus Scham und Grauen stürzte Paul sich aus dem Fenster.
Wie ein Gesellschaftsroman von Balzac oder Zola
Ausschweifend wie in einem Gesellschaftsroman von Balzac oder Zola erzählt Pierre Lemaitre mit ruhigem Fluss von den Hässlichkeiten und Gemeinheiten auf allen sozialen Ebenen, vor allem auf den obersten. Tobias Scheffel hat den Text mit viel Sinn für die hintersinnige Ironie übersetzt. Torben Kessler liest ihn in dem hier zitierten Hörbuch meist in einem treffenden, leicht unterschnittenen Tonfall, der die sprachlichen Bösartigkeiten zum Blühen bringt.
Lemaitre verschwendet keine Zeit darauf, die wenigen Schönheiten der menschlichen Seele aufzuspüren. Sein Augenmerk gilt dem Skurrilen und Schäbigen. Seine Figurenzeichnungen sind brillant, grell überzeichnet, aber nie die Grenze zur Karikatur überschreitend. Paul hat zum Beispiel eine polnische Kinderfrau namens Vladi, die kein Wort Französisch spricht, der die Männer auch wortlos zu Füßen liegen und die ihr Herz am rechten Fleck hat. Originell ist auch Monsieur Dupré, das ausführende Organ von Madeleines Rachefeldzug, mit dem sie sich siezt, aber auch ins Bett steigt. Oder die beiden abgrundtief hässlichen Töchter von Charles Péricourt:
"Er hatte zwei hochaufgeschossene Töchter mit mageren X-Beinen und blühender Akne, die ständig glucksten, weshalb sie gezwungen waren, sich die Hand vor ihre entsetzlichen Zähne zu halten, die ihre Eltern zur Verzweiflung brachten; man hätte meinen können, ein entmutigter Gott habe jeder der beiden nach ihrer Geburt wild eine Handvoll Zähne in den Mund geworfen, die Zahnärzte waren erschüttert; wenn man nicht alles herausriss und ihnen bereits am Ende der Wachstumsphase die dritten Zähne einsetzte, wären sie dazu bestimmt, ihr ganzes Leben hinter einem Fächer zu leben. Man würde nicht eben wenig Geld für die Zahnklinik ausgeben müssen oder für die Mitgift, die an deren Stelle treten würde. Diese Aussicht trieb Charles um wie ein Fluch."
Leider nicht nur ein historischer Roman
Frankreich steht an einem Wendepunkt, das deuten symbolisch die zur Heirat ungeeigneten Erbinnen genauso an wie der Tod des Bankiers Péricourt am Anfang des Romans: Die Epoche der Wirtschaftsführer, die sich um ihr Unternehmen und ihr Land sorgten, geht zu Ende. Pierre Lemaitre erzählt von einem Frankreich, in dem die Reichen sich nur noch für ihr eigenes Konto interessieren; in dem Journalisten die Geschichte dessen drucken, der sie am besten dafür bezahlt; in dem nationalistische Stimmen mehr und mehr Gehör finden. Im Nachwort erläutert Lemaitre, wie er für seine Darstellung der frühen 1930er-Jahre recherchiert und wo er sich Freiheiten im Vergleich mit den historischen Ereignissen erlaubt hat. Erschreckend viel hat er der Wirklichkeit direkt abgeschaut. Und das Unheimliche an den Gesellschaftsbeschreibungen ist: Wenn man den Namen der Jugendorganisation "Action Française" durch "Gelbwesten" ersetzt, lässt sich Lemaitres grelles Epochenporträt fast eins zu eins ins Heute übertragen. "Die Farben des Feuers" ist leider nicht nur ein historischer Roman.
Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers", aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 479 Seiten, 25 Euro
Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers", ungekürzte Lesung mit Torben Kessler, Der Audio Verlag, Berlin. 2 mp3-CDs, 14h A39 min, 24 Euro.