Alles ist da: Das weite Meer, eine Hafenstadt in der Ferne, Gebirge am Horizont, größere und kleinere Schiffe, die auf dem Meer dahinsegeln. Über dem Ganzen ein wolkenverhangener Himmel. Gerade verschwindet eine gelbe Sonne hinter dem Horizont. Ihr blendender Glanz haftet noch am Firmament und beleuchtet das sich unter ihm erstreckende Panorama der Welt.
In dieses Panorama hat der Maler die Figuren seiner Geschichte platziert.
Vorn im Bild einen Landmann in leuchtend rotem Wams, der mit seinem Pflug Furchen in den Ackerboden zieht. Unterhalb des Landmanns einen Hirten mit seiner Schafherde. Auf seinen Stab gestützt, schaut er in den Himmel. Rechts unten wirft jemand seine Angelrute ins Meer, und nah der Küste fährt ein prächtiges Handelsschiff mit prall geblähten Segeln vorbei.
Auf den ersten Blick eine ganz alltägliche Geschichte, ein ganz alltägliches Geschehen. Es zeigt einen Ausschnitt aus der Welt der Menschen, aus ihrem Leben. Ein Leben, in dem sie ihren gewohnten Tätigkeiten und Geschäften nachgehen.
Zu nah an der Sonne
Nichts Ungewöhnliches – wäre nicht rechts unten im Bild dieses ganz und gar Erstaunliche zu sehen:
Da – zwischen Segelschiff und Angler – ein Sturz, ein Aufschlag, ein wenig Gischt, die aufspritzt, helle Beine, Knabenbeine, die im Wasser verschwinden.
Ein einziges Mal nur hat Pieter Bruegel ein Thema aus der Antike auf die Leinwand gebracht. Keine tanzenden Bauern, keine Schlittschuh laufenden Dorfkinder, kein Ereignis aus der Bibel – statt dessen die mythische Fabel vom Sturz des Ikarus.
Gefunden hat sie der flämische Maler bei dem römischen Dichter Ovid. In seinen "Metamorphosen" erzählt er die Geschichte von Dädalus und Ikarus. Dädalus, der geniale Erfinder, Baumeister und Künstler, wird mit seinem Sohn von König Minos auf der Insel Kreta gefangen gehalten. Um zu fliehen, fertigt Dädalus aus Vogelfedern und Wachs Flügel für sich und Ikarus an. Bevor sie losfliegen, ermahnt der Vater den Sohn:
Halte die Mitte der Bahn. Denn fliegst du zu tief, dann beschwert die
Welle die Federn, zu hoch, dann wird die Glut sie versengen.
Zwischen Beidem dein Flug.
Und von den Federn gehoben, fliegt er voran.
Wer sie erblickt, jemand, der mit schwankender Rute angelt,
ein Hirte, gelehnt auf den Stab, ein Bauer am Pfluge,
mochte schauen und staunen und glauben Götter zu sehen,
da den Äther sie durchfliegen.
Welle die Federn, zu hoch, dann wird die Glut sie versengen.
Zwischen Beidem dein Flug.
Und von den Federn gehoben, fliegt er voran.
Wer sie erblickt, jemand, der mit schwankender Rute angelt,
ein Hirte, gelehnt auf den Stab, ein Bauer am Pfluge,
mochte schauen und staunen und glauben Götter zu sehen,
da den Äther sie durchfliegen.
So hat auch der Maler seine Figuren ins Bild gesetzt.
Nicht ganz – denn der Landmann schaut nach unten auf seinen Pflug, der Angler hinunter auf seine Angelrute. Lediglich der Hirte blickt nach oben. Doch er schaut in die verkehrte Richtung. Denn oben am Himmel ist nichts, aber auch gar nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Über die Entstehungszeit des Bildes herrscht Unklarheit. Zwischen 1558 und 1565 soll Pieter Bruegel das Bild gemalt haben, zwischen seinem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr.
Unruhige Zeiten
Es ist eine unruhige Zeit. In den vom spanischen König Philipp II. beherrschten niederländischen Provinzen verschärft sich der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten immer weiter. Wie der in Brabant geborene Bruegel dazu steht und auf welcher Seite, darüber ist nichts Verlässliches bekannt.
Humanistisches Gedankengut jedenfalls ist ihm vertraut, ebenso die antike Literatur. Über den angesehenen Antwerpener Geographen und Humanisten Abraham Ortelius kommt Bruegel auch mit dem Welterkundungsdrang seines Jahrhunderts in Berührung. 1552 unternehmen sie eine gemeinsame, ausgedehnte Italienreise. Ortelius ist es auch, der den ersten Weltatlas auf den Markt bringt. Der Kunstwissenschaftler Beat Wyss:
"Das erste Blatt, eine Weltkarte, ist umrahmt mit Aussprüchen römischer Schriftsteller. Sie geben dem Kartenleser Hinweise, mit welcher Grundhaltung das geographische Welttheater zu betrachten sei. Stoischer Gleichmut und pietistische Achtung vor der Ewigkeit und Größe des Kosmos werden empfohlen."
So lautet ein Satz des Philosophen Cicero unten auf der Weltkarte:
Was sollte dem groß in menschlichen Dingen erscheinen, dem die ganze Ewigkeit und die Größe des gesamten Weltenraums bekannt ist.
In diesem kosmischen Ganzen hat alles seinen wohlgeordneten Platz – die Himmelskörper und die Erde, darauf die Kontinente und die Ozeane, die Gebirge und das flache Land, die Natur mit ihrer Tier- und die Pflanzenwelt.
Die Tugend des Mittelweges
Auch der Mensch findet dort seinen Platz, wo er sein Leben im Einklang mit dem Ganzen bestreiten und sein bescheidenes Tagewerk verrichten kann. Wie der Landmann auf seinem Feld, der Schäfer bei seiner Herde, der Fischer beim Angeln.
Doch halt – was ist mit diesem Knaben, der in das Ganze hineingefallen ist? Abgestürzt von irgendwoher. Kaum eine Spur ist davon zu sehen. Bloß ein paar weiße Vogelfedern, die langsam auf das grüne Wasser hinabtrudeln.
Als Strafe für kindlichen Ungehorsam gegenüber der väterlichen Weisung ist der Sturz des Ikarus gedeutet worden. Als Mahnung auch zur Tugend der "mediocritas", wie es die Antike lehrt. Dazu, sein Leben nicht ins Extreme, nicht bis zum Äußersten zu treiben, sondern es in maßvoller Mitte zu halten. In seiner Schrift "Weisheit der Alten" kommt der Philosoph Francis Bacon darauf zurück:
Die mediocritas oder der Mittelweg ist in der Sittenlehre, in moralibus, viel gepriesen worden. Ikarus wurde von seinem Vater angewiesen, beim Flug über das Meer weder zu hoch noch zu niedrig zu fliegen. Ikarus jedoch schwang sich in jugendlichem Übermut zu weit hinauf, stürzte kopfüber hinab und starb in den Fluten.
"Hochmut kommt vor dem Fall", lautet es bereits im biblischen "Buch der Sprüche". Auch Pieter Bruegel wird diese Spruchweisheit gekannt haben. Schließlich hat er in einigen seiner Werke gängige Sinnsprüche und Redewendungen ins Bild gebracht – über 100 sind es in seinem Gemälde "Niederländische Sprichwörter" aus dem Jahr 1559. Der Kunsthistoriker Christian Vöhringer:
"Die Gemälde sparten Verhängnis und Unglück nicht aus, banden sie aber auf fast lakonische Art in den Lauf der Dinge ein."
"Bruegel war ein Humanist"
Vielleicht hat er deshalb den Landmann mit seinem roten Wams so in den Vordergrund gerückt. Während Ikarus mit seinen strampelnden Beinen erst beim zweiten Hinsehen zu erkennen ist. Vielleicht hat er deswegen seinen Fall so beiläufig in Szene gesetzt. Als einen belanglosen Zwischenfall, der in nichts den natürlichen Lauf der Dinge zu stören vermag.
Möglicherweise ist Bruegels Bild aber auch ein verdeckter Kommentar zur politischen Situation seiner Zeit. Denn der Konflikt zwischen Spanien und den Niederlanden spitzt sich gefährlich zu. Der Glaubensstreit zwischen Katholiken und Protestanten nimmt immer extremere Züge an. Der Kunstwissenschaftler Beat Wyss:
"Bruegel war ein Humanist, der wie Erasmus von Rotterdam ein Menschenalter vorher den dritten Weg des Ausgleichs suchte. Den humanistischen Freunden gilt die Mahnung: 'Wollt ihr wie Ikarus zwischen calvinistischen und katholischen Fanatikern untergehen?' Dem Unfanatisierbaren blieb die Maske der Gelehrsamkeit. Sie schaut, ohne teilnehmenden Ausdruck, uns entgegen aus der Landschaft mit dem Sturz des Ikarus."
Stoischer Gleichmut, der mit gelassenem Fernblick das große Weltganze zu überblicken vermag – jenseits des allzu Nahen. Gleichmut, wie er ebenso aus dem seelenruhig pflügenden Landmann wie dem versonnen zum Himmel schauenden Schäfer zu sprechen scheint, die frei von jeder "perturbatio", frei von jeder Störung der Gemütsruhe, ihrem einfachen Tagewerk nachgehen.
"Eine vernunftlose, verkehrte Welt"
Auch Ovid, der gefeierte Dichter der "Metamorphosen", hatte erfahren müssen, wie schnell der Mensch aus seiner Lebenshöhe ins kalte Nichts stürzen kann. Im Jahre 8 wurde er verbannt: aus nicht geklärten Gründen, auf Geheiß des Kaisers Augustus, ans Ende der Welt, nach Tomis am Schwarzen Meer. Er sollte nie mehr nach Rom zurückkehren. Womöglich war der Dichter der kaiserlichen Sonne zu nah gekommen.
Im ersten Buch seiner "Tristia", seiner "Lieder der Trauer", geschrieben in Tomis, erinnert Ovid an das Schicksal des Ikarus und gibt seinem Buch die bittere Mahnung mit auf den Weg:
Darum hüte dich, Buch, und trachte mit furchtsamem Herzen,
dass dich das einfache Volk lese – und damit genug!
Ikarus, der mit seinen schwachen Schwingen zu hoch hinaus wollte,
hat einem Meer sinkend seinen Namen gegeben.
dass dich das einfache Volk lese – und damit genug!
Ikarus, der mit seinen schwachen Schwingen zu hoch hinaus wollte,
hat einem Meer sinkend seinen Namen gegeben.
Ikarisches Meer – so lautet sein Name bis heute. Bruegels "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus" wirkt fast wie ein Suchbild. Der Betrachter muss zweimal hinschauen, um den kopfüber im Wasser verschwindenden Ikarus zu sehen. Eine verkehrte Welt?
"Verkehrte Welt" ist auch eine der vielen Redewendungen, die Bruegel auf seinem Sprichwörterbild dargestellt hat. Er zeigt – ebenfalls leicht zu übersehen – eine Weltkugel, die verkehrt herum an einem zerfallenen Bauernhaus angebracht ist. Eine mit einem Kreuz gekrönte Sphärenkugel, wie sie auf spätmittelalterlichen Bildern Christus in der Hand hält: als Salvator Mundi, als Erlöser der Welt. In Bruegels "verkehrter Welt" zeigt die Weltkugel mit dem Kreuz nach unten.
Es ist das Bild einer heillosen Welt. Es ist zugleich das Gegenbild zu jenem wohlgeordneten Weltganzen, wie es die Philosophen der Stoa im Blick hatten. Eines Ganzen, in dem – so der Kunsthistoriker Justus Müller-Hofstede - "Natur und Welt gemeinsam eine Sphäre bilden, ohne in Widerspruch zu geraten. Daneben steht in Bruegels Werk die zweite Sphäre einer vernunftlosen, 'verkehrten' Welt."
"Bruegel hat vieles gemalt, was sich nicht malen lässt"
Einer "verkehrten Welt", in der die Dinge so laufen, wie sie laufen. In der sich ereignen kann, was will, ohne dass die Welt dem Beachtung schenkt. Nicht zufällig lautet eine zu Bruegels Zeiten weitverbreitete Redensart:
"Kein Pflug steht still um eines Menschen willen."
Nein, nicht gleichmütig – gleichgültig, unendlich gleichgültig wirkt mit einem Mal der Landmann, dessen Augen starr an Pflug und Scholle kleben. Gänzlich uninteressiert der Schäfer, der gelangweilt in den Himmel guckt. Wie kalt lässt der Sturz des Ikarus auch den Angler dort unten am Wasser, der seiner ausgeworfenen Angelrute nachblickt.
Bis heute spricht man vom "Bauern-Bruegel". Eine Verharmlosung seines doppelsinnigen Werks. Sein Freund, der Geograph und Humanist Abraham Ortelius, wusste es besser. In seinem "Album der Freunde" widmet er ihm posthum – der Maler stirbt 1569 – diese Zeilen:
Bruegel hat vieles gemalt, was sich nicht malen lässt. In all seinen Werken gibt er uns etwas zu verstehen, was außerhalb von dem liegt, was er malt.
Alles ist da und liegt offen sichtbar vor Augen – verschwenderisch eingetaucht in Licht und Farbe: Das weite Meer, die Hafenstadt in der Ferne, das Gebirge am Horizont, Schiffe, die dahinsegeln, die einfachen Menschen bei ihrem Tagewerk.
Die Welt ist taub für diesen Schrei
Bloß dem Denken erschließt sich, was der Maler mit dem Sturz des Ikarus in das sichtbare Panorama der Welt eingebracht hat: den schreienden Widerspruch zwischen der Idee eines 'heilen' Weltganzen und der Wirklichkeit einer heillos "verkehrten Welt".
Die Welt ist taub für diesen Schrei. Ungehört erstirbt er über dem gekräuselten Wasser. Sie ist blind für das hilflose Strampeln der Beine. Unbeachtet versinkt es in der gurgelnden Tiefe. Die Welt ist blind und taub für das Unerhörte, das buchstäblich neben ihr ins Wasser fällt.
Im Winter 1938 hält sich der Schriftsteller W.H. Auden für kurze Zeit in Brüssel auf. Bei einem Besuch der "Königlichen Museen der Schönen Künste" fallen ihm vor allem Pieter Bruegels Bilder ins Auge. In seinem Gedicht "Musée des Beaux Arts" hat er seinen Eindruck festgehalten:
Über das Leiden waren sie nie im Irrtum,
die Alten Meister: wie kannten sie gut
seine menschliche Rolle; dass es geschieht,
während einige essen, ein andrer ein Fenster öffnet oder gelangweilt hingeht;
sie vergaßen auch nie,
dass selbst die Martyrien stattfinden müssen
irgendwo abseits, am unpassenden Ort,
wo die Hunde sich hündisch benehmen und des Folterers Pferd
sein Hinterteil unschuldig an einem Baum kratzt.
die Alten Meister: wie kannten sie gut
seine menschliche Rolle; dass es geschieht,
während einige essen, ein andrer ein Fenster öffnet oder gelangweilt hingeht;
sie vergaßen auch nie,
dass selbst die Martyrien stattfinden müssen
irgendwo abseits, am unpassenden Ort,
wo die Hunde sich hündisch benehmen und des Folterers Pferd
sein Hinterteil unschuldig an einem Baum kratzt.
Eine heillos verkehrte Welt, in der auch ein Knabe aus heiterem Himmel kopfüber ins Meer stürzen kann, ohne dass irgendjemand davon Notiz nimmt. Oder in den Worten des Dichters:
In Brueghels Ikarus zum Beispiel: Wie alles sich
ganz gelassen vom Unheil abkehrt; Vielleicht hat der
Bauer den Aufschlag gehört, den verlorenen Schrei,
aber für ihn war das nichts von Bedeutung; die Sonne beschien,
wie es ihre Pflicht war, die weißen im grünen Wasser
verschwindenden Beine; und das kostspielige, stolze Schiff,
das staunend etwas gesehn haben musste – einen Jungen, der
aus dem Himmel fiel,
hatte ein Ziel und segelte ruhig weiter.
ganz gelassen vom Unheil abkehrt; Vielleicht hat der
Bauer den Aufschlag gehört, den verlorenen Schrei,
aber für ihn war das nichts von Bedeutung; die Sonne beschien,
wie es ihre Pflicht war, die weißen im grünen Wasser
verschwindenden Beine; und das kostspielige, stolze Schiff,
das staunend etwas gesehn haben musste – einen Jungen, der
aus dem Himmel fiel,
hatte ein Ziel und segelte ruhig weiter.
"Das Schlimmste hat sich schon ereignet"
Auch der Celan-Übersetzer und Lyriker Michael Hamburger hat sich vom Bild des flämischen Malers zu "Lines on Brueghel's Icarus" anregen lassen:
Der Pflüger pflügt, der Fischer träumt von Fischen;
hoch oben in der Takelage träumt der Seemann wirre Träume.
Schafe grasen, heben ihre Köpfe und glotzen in ein belämmertes Dasein.
Tölpisch und träge hört der Schafhirte Flügelschläge –
vielleicht von einem Adler –, schaut ungläubig;
zu spät. Das Schlimmste hat sich schon ereignet.
hoch oben in der Takelage träumt der Seemann wirre Träume.
Schafe grasen, heben ihre Köpfe und glotzen in ein belämmertes Dasein.
Tölpisch und träge hört der Schafhirte Flügelschläge –
vielleicht von einem Adler –, schaut ungläubig;
zu spät. Das Schlimmste hat sich schon ereignet.
Denn wieder einmal war es "nichts von Bedeutung". Wieder einmal ging alles seinen gewohnten Gang. Für diesen ganz gewöhnlichen Fall hat der Dichter T.S. Eliot eine prägnante Zeile gefunden: "We had the experience but missed the meaning" – "Wir waren bei dem Ereignis zugegen, verpassten aber den Sinn". Es fiel wie der Knabe Ikarus ungehört und ungesehen direkt neben uns einfach ins Wasser.
Von der Verfallenheit des Daseins spricht die Existenzphilosophie. Gemeint ist kein Extremfall, schon gar kein Sündenfall. Gemeint ist vielmehr Verfallenheit als Normalfall des menschlichen Daseins in der Welt – in der seit der Moderne durch und durch säkularen Welt. In seinem Buch "Sein und Zeit" heißt es bei dem Philosophen Martin Heidegger:
Die Verfallenheit des Daseins darf nicht als "Fall" aus einem reineren und höheren "Urstand" aufgefasst werden. Das Phänomen des Verfallens gibt auch nicht so etwas wie eine "Nachtansicht" des Daseins. Das Verfallen enthüllt eine wesenhafte Struktur des Daseins selbst, die alle seine Tage in ihrer Alltäglichkeit konstituiert.
So wie die Tage jenes Landmanns, jenes Hirten, jenes Anglers oder jenes Seemanns auf Bruegels Bild. Sie haben Augen und Ohren bloß für ihre Welt. Sie sind ereignisblind statt ereignisoffen für das, was möglicherweise dennoch in dieser Welt geschehen kann.
"Überschwang ist der naturgegebene Fehler der Jugend"
Von einer solchen Ereignisoffenheit ist auch in Pieter Bruegels Bild nichts zu sehen. Ebenso wenig von einem Ikarus, wie er sich mit seinen Schwingen übermütig hoch in die Lüfte erhebt. Trunken von der ungeahnten Möglichkeit, hinauf ins Offene zu gelangen.
Nein – der Himmel ist viel zu trüb und wolkenverhangen. An keiner Stelle reißt seine bleierne Decke auf. Auch der Flug des Knaben ist ganz aus dem Geschehen herausgefallen. Bis auf die wenigen Vogelfedern, die – kaum zu sehen – auf das Wasser hinuntertrudeln.
Es war der Philosoph Francis Bacon, der – nicht zufällig an der Schwelle zur Neuzeit – trotz seiner Mahnung zur "mediocritas" dem Überschwang des jungen Ikarus seine Anerkennung gezollt hat. In seiner Schrift "Weisheit der Alten" schreibt er:
Überschwang ist der naturgegebene Fehler der Jugend, während die Schwäche der des Alters ist. Im Überschwang aber liegt etwas Erhabenes, etwas, das wie der Flug eines Vogels mit dem Himmel Verwandtschaft hält, während die Schwäche wie ein Reptil auf dem Boden kriecht.
Diesem 'erhabenen' Überschwang des Ikarus hat in unserer Zeit der Dichter Ernst Jandl die Zeilen gewidmet:
Er flog hoch
über den anderen.
Die blieben im Sand
Krebse und Tintenfische.
Er flog höher
als sein Vater, der kunstgewandte
Dädalus.
Federn zupfte die Sonne aus seinen Flügeln.
Tränen aus Wachs tropften aus seinen Flügeln.
Ikarus flog.
Ikarus ging unter.
Ikarus ging unter
hoch über den anderen.
über den anderen.
Die blieben im Sand
Krebse und Tintenfische.
Er flog höher
als sein Vater, der kunstgewandte
Dädalus.
Federn zupfte die Sonne aus seinen Flügeln.
Tränen aus Wachs tropften aus seinen Flügeln.
Ikarus flog.
Ikarus ging unter.
Ikarus ging unter
hoch über den anderen.