Sonntagmorgen in Dinslaken-Hiesfeld. Die Kirchenglocken der kleinen, leuchtend weiß getünchten Dorfkirche rufen zum Gottesdienst. Die Pilgergruppe ist pünktlich. Aus dem ganzen Ruhrgebiet und sogar Düren und Bielefeld stammen die Teilnehmenden. Neun Frauen und ein Mann in bunten Trekkingjacken und festen Wanderschuhen wollen nach dem Gottesdienst mit dem Rucksack auf dem Rücken der Emscherquelle entgegenwandern. Nach Osten, dem Licht entgegen, so ist der Plan. Dinslaken-Hiesfeld, ein beschaulicher Stadtteil. Doch mit einer Besonderheit: Einer alten Wassermühle, die im bekannten Mühlenmuseum am Ortsrand plätschert.
Nicht die schmuddelige Emscher treibt das Mühlrad an, sondern der Rotbach; klar und sauber läuft das Wasser über die gut 300 Jahre alten Schaufeln – eine der ältesten und eine der wenigen übrig gebliebenen Mühlen im Rheinland und Ruhrgebiet. Mühlen und das Ruhrgebiet – eine alte Verbindung, die heute kaum noch jemand kennt, erzählt Kurt Altena vom Mühlenverein
"Die Mühlen brauchte man immer, sei es Wasser- oder Windmühlen. Im Bergischen hat man die ja auch gehabt, da hat man die sogenannten Hammerwerke gehabt. Da war schon die Beziehung. Da hat man Eisenteile über Wasserräder geschmiedet und wir haben in der Regel ja nur Korn gemahlen und im Winter, wenn kein Korn war, wurde Eichenrinde gemahlen für Gerbereien. Es war immer etwas – Brot brauchten wir immer."
Das Mühlenmuseum liegt im Westen, genau entgegen der Pilgerrichtung. Zwar nicht weit vom Start unterm Kirchturm entfernt, aber ausgiebiges Sightseeing ist während der Pilgertour auch nicht vorgesehen, schließlich geht es auf dem Weg von Kirche zu Kirche vor allem um innere Einkehr und den Weg als Ziel an sich. Nach dem Gottesdienst und vor den ersten 20 Kilometern bleibt noch Zeit für einen Kaffee.
Und dann geht es los. Pfarrer Friedhelm Waldhausen spricht einen Segen. Das gehört dazu
"Wollen wir Gott bitten, dass auf unserer Fahrt Friede unsere Herzen und die Welt bewahrt. In diesem Sinne, Friede sei mit Ihnen, Gottes Segen und kommen Sie gut an, kommen Sie gut durch den Regen und haben Sie viel Sonne im Herzen und auch auf Ihrem Weg. Alles Gute."
Ursprünglicher Start der Tour ist die Emschermündung. Rauschend donnert dort die Emscher in den breiten Rhein. Imposant, doch in der Luft liegt ein muffiger Geruch, obwohl der Fluss gereinigt wurde. Das erste Teilstück ist die Gruppe eine Woche zuvor gewandert, zum Kennenlernen. Den Pilgerführer als Buch immer griffbereit.
"Sie starten an der Emschermündung und folgen den Schildern Emscherweg/Rotbachroute bis zum Gasometer/Neue Mitte Oberhausen"
Jetzt geht es am Rotbach entlang, dem klaren Mühlenbach. Kies knirscht unter den dicken Sohlen, bunte Blümchen recken sich der wärmenden Sonne entgegen, so fühlt sich Frühling an. Schritt für Schritt, vorbei an Fabrikschornsteinen, am Feldrand entlang einer Eisenbahnstrecke, nähert sich die Gruppe bald wieder der Emscher. Auf dem Weg ist Zeit für Besinnliches – schließlich ist Pilgern mehr als nur Wandern, erst recht in der Karwoche. Für jeden Tag steht ein Planet. In alten Schriften gehörte die Sonne noch dazu. Pilgerführerin Ingeborg Sundermeier:
"Heute ist der Sonntag, benannt nach der Sonne. Was bedeutet Sonne? Zunächst mal Wärme, Licht, wir haben den Spruch, die Sonne bringt es an den Tag. Beleuchtet alles, steht für das Bewusstsein des Menschen und auch für Selbstbewusstsein."
Wer mag, denkt nach und teilt sich mit. So wie Ingrid Coumanns aus Dortmund, 65 und fit wie ein Wanderschuh:
"Wenn sich die Sonne zeigt, gleich in welcher Lebenssituation, sehe ich Hoffnung und eventuelles Trübsal ist an die Seite geschafft und ich kann mich aufrichten, so wie Pflanzen sich auch aufrichten, wenn sie dann von der Sonne beschienen werden so fühle ich mich dann auch manchmal. Leichter und beschwingt und einfach warm gemacht."
Ein Gefühl wie in Norddeutschland, schwärmt Ingrid, blickt auf den steilen, befestigten Deich der schnurgeraden Emscher und ignoriert die Bundesstraße im Rücken und den leichten süßlich-modrigen Geruch, den die Köttelbecke ausdünstet.
Am Horizont glänzen silbrig drei futuristisch anmutende Faultürme, bald ist das Emscherklärwerk erreicht, einst das größte Klärwerk Europas. Der ganze Fluss verschwindet in der riesigen Anlage, um gereinigt wieder auszutreten. Ein großes Schaubild mit vielen Zahlen erklärt den Ablauf:
"Und hier bei sieben, die Sieben ist das Rechenhaus, ich denke, da wird alles Grobe rausgerecht, geharkt (..) dann Sandfang, acht, da sickert auch einiges ab, dann gibt’s das Vorklärbecken, Nachklärbecken und sie wird immer heller und immer heller, sie wird dann geklärt in den Rhein. Was bleibt, ist ja da auch noch zu sehen – die Schlammbehandlung. Das ist praktisch das Geklärte, was man rausgezogen, der Emscher weggenommen hat! Was jetzt als Schlammbehandlung noch mal aufgeführt ist. Und als Kompost dient"
Leiterin Ingeborg Sundermaier nutzt das Emscherklärwerk als Symbol:
"Wir stehen hier am Klärwerk, das finde ich auch in symbolischer Weise wichtig, denn wir haben uns auf den Weg gemacht, mit sicherlich unterschiedlichen Lasten, die wir mitschleppen, wie die Emscher und vielleicht ist so ein Weg auch eine Klärung, wie ein Klärwerk, dass man das eine oder anderen ablegen kann und sich ein bisschen renaturieren kann, wie die Emscher ja auch renaturiert werden soll."
Pilgern ist zwar fast so wie Wandern, aber eben nur fast. Es gehört einfach dazu, immer mal wieder in sich zu gehen. Das Sinnieren ist jedoch nur ein Angebot, kein Muss. Die Freude daran, zu Fuß zu gehen, sich den Pott per Pedes zu erobern, überwiegt. Auch bei Jürgen Francke aus Düren, dem einzigen Mann in der Gruppe. Der 55-Jährige kennt das Ruhrgebiet nicht. Als ehemaliger Bundeswehrangehöriger hat er nun Zeit und nutzt den Pilgerweg auch für Zukunftsgedanken:
"Ich bin vor zwei Jahren pensioniert worden und hatte mir im Vorfeld schon Gedanken für die Zeit danach gemacht nach der Arbeit, und da war ein Thema dieses Pilgern."
Mit Spiritualität hat Jürgen wenig Erfahrung, trotzdem spielt sie eine Rolle.
"Ja, in jedem Fall, weil ich wollte das Ganze ja erleben. Einmal auch hier mit dem Tragen des Gepäcks, dieses Zusammenbleiben der Gruppe, aber auch das Spirituelle miterleben und sehen, wie das auf mich wirkt zum Schluss."
Auch Leiterin Ingeborg Sundermeier wollte sich schon längst auf einen Pilgerweg begeben. Doch der Jakobsweg in Spanien, der Camino, ist ihr zu weit weg und vor allem zu überfüllt. Das Pilgern im Pott kam gerade recht:
"Was mich wirklich reizt, ist zu Fuß unterwegs zu sein, mit dem anderen Blick auch noch als beim Wandern, es auch mit einer gewissen Spiritualität anzugehen, weil mir das zunehmend ein Bedürfnis ist, spirituell meinen Weg zu suchen."
Weiter geht’s, Kilometer um Kilometer unmittelbar an der Emscher entlang. Pferde grasen, Reiter überholen die Gruppe, im Hintergrund dampft ein Kraftwerk. Nach dem Unterqueren einer Autobahn kommt endlich das Etappenziel in Sicht: Der Gasometer in Oberhausen! Mit jedem Schritt scheint das riesige Bauwerk, einst Behälter für Gicht- und Kokereigase der ehemaligen Gutehoffnungshütte Oberhausen zu wachsen. Mit seinen 117 Metern Höhe thront das Industriedenkmal über der Emscher und dem anliegenden Rhein-Herne-Kanal. Kurz vor dem Ziel, ein kleiner Fußballplatz – einer von vielen im Ruhrgebiet. Doch heute heißt es nicht Kicken sondern Kläffen:
Deutsche Schäferhunde und ihre Besitzer jagen hier Verbrecher um die Wette – zum Schein. Sie wollen sich für die Weltmeisterschaft der Gebrauchshunderassen qualifizieren, erklärt Hundesportler Joachim Motzfeld.
"Der hat jetzt diesen Scheintäter gefunden in den sechs Verstecken und muss den jetzt verbellen. Solange der Täter passiv ist muss der Hund nur bellen, darf den auf keinen Fall beißen, das wäre ein Fehler. Jetzt kommt gleich der Besitzer, holt den Hund ab, der wird dann einen Fluchtversuch unternehmen, den muss der Hund vereiteln."
Nicht nur Bellen, auch beißen darf der Schäferhund, aber nur auf Befehl in einen Armschutz. Zum Beispiel wenn der Täter mit einem Schaumstoffschlagstock zuschlägt. Psychostress für den Hund. Die spektakulärste Aufgabe: Fluchtvereitelung – eine Verfolgung in rasendem Tempo übers ganze Fußballfeld:
"Der läuft jetzt hier unten und der Hund muss den über die gesamte Distanz in der Kampfhandlung stellen. Huch! – Hätte den Griff halten müssen, kleiner Fehler, noch ein kleiner Angriff, jetzt ist er fertig."
Der Wettkampf geht zu Ende, genau wie der erste Tag der Pilgerwoche. Im Café des Kirchenzentrums der Neuen Mitte Oberhausen, einem großen Einkaufszentrum, ist Schluss.
Füße und Schultern schmerzen, die PilgerInnen sind erschöpft, aber glücklich.
"Das ist eben doch ein schönes Ende zu laufen und wenn wir es nicht gewöhnt sind, das öfter zu machen, ich hoffe, das wird sich bessern im Laufe der Woche. Ich freue mich, erstmal angekommen zu sein und das hab ich bisher immer erlebt, das Ankommen ist wunderschön. Jetzt geht’s mir gut. Der letzte Kilometer war schwierig. Aber jetzt haben wir ja ganz viel Zeit uns auszuruhen. Ich merke, dass ich eine ganz schöne Strecke gelaufen bin und vor allen Dingen das Pflaster macht schon müde. Geschafft bin ich, aber es war schön, als wir dann das Ziel vor Augen hatten."
Die nächsten Etappen führen von Oberhausen über Duisburg und Essen nach Gelsenkirchen. Vorbei geht es an den "Kathedralen der Industriekultur": Am ehemaligen Stahlwerk Duisburg-Meiderich, über das weite Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen. Beeindruckend durch schiere Größe, aber auch bedrückend – die schwere Arbeit, der Lärm, der Schmutz – vorbei. Das was vor wenigen Jahren noch Tausenden von Menschen Arbeit und Anerkennung gab, ist heute imposante, teils rostige Kulisse für Konzerte und Museen. Aber einmalig und einzigartig weltweit.
An Gelsenkirchens Altstadtkirche, mitten in der Fußgängerzone, startet die Tour am fünften Tag. Der Blickfang der schlichten Kirche aus den 50er-Jahren ist eine imposante Orgel, auf der regelmäßig Konzerte gespielt werden. Historisch interessant wird es im Info-Punkt, der wahrhaftig aus Ruinen auferstanden ist. Geschichte unter Glas, informiert Pastor Thomas Webel-Reiner. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Kirche und Turm völlig ausgebrannt:
"Wenn sie in diese Richtung gucken, aus der Tür heraus, so hat sich damals für die Menschen hier das Kirchschiff eröffnet – der Altar war ungefähr dort, wo jetzt der Zugang zur U-Bahn ist. Dieses war 50 Jahre lang ein dunkles schwarzes Loch, selbst der Dreck aus dieser Brandgeschichte ist noch drin geblieben und wir haben als erstes dann dieses Mauerwerk sehr vorsichtig gesäubert und haben bewusst es so gestaltet, dass dieser bröckelige Putz, dass alles erkennbar als quasi Mahnmal für die Bürger erhalten geblieben ist"
Weiter geht’s Richtung Herne, durch die Stadt und ein bürgerliches Villenviertel, dass so gar nicht zur republikweit bekannten Armut Gelsenkirchens passen will. Das Bild vom schmuddeligen Ruhrgebiet, das viele noch immer im Kopf haben – es passt nicht. Nicht nur in Gelsenkirchen.
Die Etappe ist dröge. Es gibt Aussicht auf Schrottplätze und Bergehalden, sparsamen Einblick in die Zoom Erlebniswelt, mit Blick durch Glas auf Eisbären und Seelöwen. Am frühen Nachmittag, kommt die Gruppe bei strahlender Sonne und eisigem Wind in Herne an. Nahe der früheren Zeche "Unser Fritz", im gleichnamigen Stadtteil, wartet das Gleiscafé "Fritzchen" unter hohen Bäumen. Ein zum Café umgebauter Eisenbahnwaggon, der zwischen alten Straßenbahnen und einer kohlschwarzen Dampflok auf Gäste wartet. Nach kurzer Rast ist noch Zeit für einen Besuch im Heimatmuseum auf dem Gelände.
Achim Krause vom Stadtteilprojekt führt durch das kleine, liebevoll eingerichtete Museum, in dessen Obergeschoss ein echter Knüller steht: Eine alte Drogerieeinrichtung im Jugendstil! Bis vor wenigen Jahren noch originale Ladeneinrichtung der Drogerie Kleffmann aus Wanne: Dunkles Holz, Tiffany-Glas, prachtvoller Spiegel, imposanter Tresen. Und viele Kleinigkeiten zum Bestaunen. Zum Beispiel Behälter aus Glas und glänzendem Chrom:
"Das sind Kaffeebehälter. Kaffeebohnen hat man da abgefüllt und konnte man dann wieder befüllen in verschiedenen Behältnissen. Alten Lindiskaffee, Zucker konnte man hier kaufen, Kakao, Waschpulver, Arzneien, die dann hier auch noch teilweise zusammengemischt worden sind und natürlich auch Spirituosen, Bilder machen mit alten Fotogeräten."
Die Pilgerstrecke entfernt sich jetzt von der Emscher, führt nach Bochum. Wer mag, stoppt hier für einen Tag, wandert südlich hinunter an die Ruhr in den Stadtteil Stiepel mit seiner romantischen alten Dorfkirche. Macht Rast am Kemnader Stausee, besucht die Burg Blankenstein oder das Wasserschloss Kemnade. Die Pilgergruppe zieht es weiter - nächster Stopp ist Bochum-Harpen. Hier liegt direkt neben dem belebten Einkaufszentrum Ruhrpark die 1000-jährige, ursprünglich romanische Vinzentiuskirche in einem ruhigen Wohngebiet. Sonntags ist sie regelmäßig geöffnet, heute schließt Kirchenführerin Christel Eglinski auf:
Welchen Eindruck haben Sie, wenn Sie diese Kirche betreten, was ist Ihnen wichtig im ersten Augenblick?
Der Blick schweift nach links, angezogen von vier großen, bunten Kirchenfenstern, die typische Szenen aus dem Bergbau zeigen:
"Auf dem ersten sieht man Bergleute mit unterschiedlichen Lampen und an den Lampen kann man erkennen, welchen Beruf die haben. Zum Beispiel der mit der roten Lampe, das ist der Lokführer, der muss nämlich das rote Licht an das Ende des Zuges hängen. Auf dem zweiten Bild sieht man Bergleute auf dem Streb, die eine Lore bewegen. Und dieses Bild hat mich immer irritiert, weil einer schiebt und ein anderer hält zurück. Ich hab gedacht, da stimmt etwas nicht bei diesem Bild, aber es stimmt schon, ich habe einen Fachmann gefragt, der sagte, der Boden ist uneben und selbst wenn man etwas schiebt, muss auch zurückgehalten werden."
Zur Kirche nach Harpen ist auch Pfarrerin Eva-Maria Ranft gekommen, vom Frauenreferat im evangelischen Kirchenkreis Bochum und Mitinitiatorin des Projekts. Das Pilgern im Pott, entlang des Industrieflusses Emscher, soll Pilgern im Alltag sein. Und der findet statt neben Bahngleisen, Autobahnen und Industrieanlagen.
"Unser Leben muss sich ja vielen Dingen im Leben anpassen, die nicht natürlich sind und insofern haben wir auch gedacht, ist die Emscher dafür ein Symbol. "ir finden, es ist gerade ein Symbol für diese Region, die ja Industriegebiet ist, und wo die Menschen ja auch in der Industrie arbeiten, irgendwie mit dem Strukturwandel klarkommen müssen und da haben wir gedacht, da ist die Emscher genau das richtige Symbol."
Das Symbol ist von Harpen weit entfernt, Richtung Dortmund rückt die Gruppe ihm näher, folgt dem Weg im Pilgerführer.
"Von der St. Vinzentiuskirche laufen Sie bis zum Harpener Hellweg, diesem folgen Sie rechts und biegen nach Haus Holte ab."
Schon ist man abseits der Straße, mitten im Wald, an einer Drei-Wege-Kreuzung. Verwirrend. Nicht immer sind die Wegweisungen eindeutig:
"Ich muss sagen, in so Waldgebieten, wenn die nicht klar markiert sind, hat das so was von am dritten Baum links. Wir haben uns bemüht, Wegmarken zu finden und ich hoffe, dass die Menschen auch den Eindruck haben, dass sie gut mit dem Buch auch durch Waldgebiete kommen, aber es kann schon mal vorkommen, dass man doch mal nachfragen muss und gucken muss, wer sonst unterwegs ist und besser Bescheid weiß, andererseits denken wir, das gehört auch zum Pilgern dazu, denn Wege suchen ist ja auch ein Stück unseres Lebens."
Im Ruhrgebiet geht man kaum verloren, irgend jemand sei immer da, meint Pfarrerin Ranft. Zum Beispiel radelnde Rentner oder Frauchen mit Hund.
Es geht weiter in Richtung Osten, der Emscherquelle und dem Licht entgegen. Nach etwa 20 Kilometern ist Dortmunds Innenstadt erreicht. Hier ist die Marienkirche am Hellweg das Pilgerziel.
Drinnen übt die Organistin, draußen herrscht Marktgetümmel. Renate Fischer von der Mariengemeinde führt um die Kirche herum. Am Nordportal hängt das Symbol der geöffneten Kirchen, ein blau umrandeter, kopfstehender Rhombus mit stilisierter weißer Kirche. Für die Marienkirche ist die Teilnahme am Pilgerprojekt selbstverständlich.
"Denn wir liegen ja an einem uralten Handelsweg, an diesem Hellweg, der schon immer von Ost nach West von West nach Osten eine Verbindung war, da sind bestimmt schon Pilger vor Hunderten von Jahren hier entlang gekommen."
Von der St. Marienkirche über Kleppingstraße und Märkische Straße, hinter der S-Bahn-Station Dortmund-Stadthaus, durch die Grünanlage in Richtung Fernsehturm.
Der Fernsehturm liegt im Westfalenpark und dahinter fließt sie die Emscher, endlich wieder sichtbar, das Symbol des Pilgerwegs.
Steil fällt hier das grüne Ufer ins Betonbett ab, ein Fischreiher fliegt auf. Die Köttelbecke ist großteils noch immer ein Abwasserkanal. Aber mitten im Umbau, der Fluss wird renaturiert und wieder ein lebendiges Gewässer. Zu Zeiten des Bergbaus konnten Abwasserkanäle nicht unterirdisch verlegt werden – die Bergsenkung hätte solche Kanäle zerstört. So ein Jahrhundertprojekt dauert, weiß Ilias Abawi von der Emschergenossenschaft:
"Seit dem Ende des Bergbaus haben wir aber die Möglichkeit, Abwasserkanäle unterirdisch zu bauen und somit das gesamte Schmutzwasser unter die Erde zu verbannen. Das gibt uns die Möglichkeit oberirdisch, die Bäche, die Flüsse, die ganzen Nebenflüsse und natürlich die Emscher selbst, naturnah wieder zurückzubauen und grüner zu gestalten. Das heißt, wir werden in wenigen Jahren einen blauen Fluss mit grünen Ufern wieder haben."
Weiter geht’s, entlang der Emscher, durch dörfliche Dortmunder Stadtteile, vorbei an diversen Kirchen. In Aplerbeck ist plötzlich Schluss mit dem schnurgeraden Kanal. Hier darf die Emscher auf einigen Hundert Metern schon wieder lebendiger Fluss sein. Klar und sauber, plätschernd und mäandernd fließt sie dahin.
Noch wenige Kilometer, dann ist die Emscherquelle in Holzwickede erreicht, genauer: Der Emscherquellhof. Eine idyllische Fachwerkanlage, Ausstellungsraum, Bildungszentrum der Emschergenossenschaft und romantischer Treffpunkt an sommerlichen Wochenenden. Hinter dem Fachwerkensemble schimmert ein blau-grüner Teich. Schilf und Bäume spiegeln sich im Wasser. Der Ursprung der Emscher. Klar, plätschernd, sauber. Gerd Drzisga wacht über die Quelle:
"Die Quelle ist dort unter dem Haupthaus des Emscherquellhofs, entspringt dort, seitdem das Haus steht, fließt das Wasser aus dem Keller, unter dem Hof her in den Teich, können wir jetzt gerade sehen, da an dem Quelltopf, wie das Wasser in den Teich fließt. Es gibt Leute, die holen sich Wasser aus der Emscher und füllen das ab und trinken das. Warum auch immer, aber es ist sauberes Wasser."
Mehrere Zuflüsse speisen die Emscher, das Quellgebiet liegt im Hixter Wald, einige hundert Meter südwestlich von hier. Doch das Ende der Tour ist nicht die Quelle, sondern – natürlich – eine Kirche.
Die kleine evangelische Dorfkirche im Ortsteil Opherdicke. Hier wartet der bekannteste aller Pilger auf seine Fans – der Heilige Jakobus samt Muschel, Pilgerstab und Bibel im Arm. Aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt die kleine Figur, nach Restaurierung wieder in dezenten Originalfarben zu bewundern. Auf welchen Wegen Jakobus in die kleine Kirche gelangt ist – niemand weiß es genau. Kirchenführer Wolfgang Reupke:
"In Unna gibt es auch eine Jakobuskapelle und man hat eine Abkürzung des Pilgerweges gesucht, der ist dann über diese Höhe, den Haarstrang gegangen und dann Richtung Herdecke um dann Richtung Hagen weiterzukommen und damit quasi eine Diagonale zu schaffen. Das war der Hintergrund – mehr ist nicht festzustellen."
Als offene Kirche freut sich die Gemeinde über Pilger und auch Besucher, die den Heiligen bewundern wollen, aber zu nah kommt ihm niemand.
"Wir sind natürlich stolz auf diesen Jakobus, und die Versicherung hat gesagt, wir müssen den sichern, damit den nicht jemand in die Tasche steckt, er ist mehrfach angedübelt."
Für die Pilgergruppe endet die Tour mit einem Gottesdienst, dem letzten Segen und einem Brunch im Gemeindehaus.
Vorbei sind die zehn Tage durchs Ruhrgebiet, eine Pilgertour direkt vor der Tür und doch weit genug weg vom Alltag. Das Fazit? Für Ingrid, die Dortmunderin, sind es vor allem die Menschen gewesen.
"Einfach, dass Menschen uns erwartet haben, gleich ob Bewirtung oder nicht, sie standen dann zum Teil schon vor den Kirchentüren, haben auf uns gewartet, weil wir uns etwas verspätet hatten und hießen und liebevoll willkommen. Und allein dieses Ankommen, es war wie ein Zuhause für mich in einer großen Gemeinschaft, der ich ja nun auch angehöre. Da merkte ich wieder, dass ich da richtig bin und dass ich da willkommen bin und dass es ein Haus für mich ist."
Der Dürener Jürgen hat – ganz ungewohnt – Spirituelles mitgenommen und viel Wissen über Kirchen und das Ruhrgebiet.
"Das ist ja das Interessante, wenn man das Ruhrgebiet mitnehmen möchte und wenn man pilgern möchte – man hat zum einen die Straßen, die Menschen, die Fabrikgelände, von einer großen Zeche zu einer kleineren Zeche, aber eben auch die stillen Orte, wo man entlang der Emscher, des Emscherweges, im Grünen auf einem Radweg spaziert, beziehungsweise pilgert, es ist breit gefächert, man kann hier alles mitnehmen, ich fand’s einfach toll."
Nicht die schmuddelige Emscher treibt das Mühlrad an, sondern der Rotbach; klar und sauber läuft das Wasser über die gut 300 Jahre alten Schaufeln – eine der ältesten und eine der wenigen übrig gebliebenen Mühlen im Rheinland und Ruhrgebiet. Mühlen und das Ruhrgebiet – eine alte Verbindung, die heute kaum noch jemand kennt, erzählt Kurt Altena vom Mühlenverein
"Die Mühlen brauchte man immer, sei es Wasser- oder Windmühlen. Im Bergischen hat man die ja auch gehabt, da hat man die sogenannten Hammerwerke gehabt. Da war schon die Beziehung. Da hat man Eisenteile über Wasserräder geschmiedet und wir haben in der Regel ja nur Korn gemahlen und im Winter, wenn kein Korn war, wurde Eichenrinde gemahlen für Gerbereien. Es war immer etwas – Brot brauchten wir immer."
Das Mühlenmuseum liegt im Westen, genau entgegen der Pilgerrichtung. Zwar nicht weit vom Start unterm Kirchturm entfernt, aber ausgiebiges Sightseeing ist während der Pilgertour auch nicht vorgesehen, schließlich geht es auf dem Weg von Kirche zu Kirche vor allem um innere Einkehr und den Weg als Ziel an sich. Nach dem Gottesdienst und vor den ersten 20 Kilometern bleibt noch Zeit für einen Kaffee.
Und dann geht es los. Pfarrer Friedhelm Waldhausen spricht einen Segen. Das gehört dazu
"Wollen wir Gott bitten, dass auf unserer Fahrt Friede unsere Herzen und die Welt bewahrt. In diesem Sinne, Friede sei mit Ihnen, Gottes Segen und kommen Sie gut an, kommen Sie gut durch den Regen und haben Sie viel Sonne im Herzen und auch auf Ihrem Weg. Alles Gute."
Ursprünglicher Start der Tour ist die Emschermündung. Rauschend donnert dort die Emscher in den breiten Rhein. Imposant, doch in der Luft liegt ein muffiger Geruch, obwohl der Fluss gereinigt wurde. Das erste Teilstück ist die Gruppe eine Woche zuvor gewandert, zum Kennenlernen. Den Pilgerführer als Buch immer griffbereit.
"Sie starten an der Emschermündung und folgen den Schildern Emscherweg/Rotbachroute bis zum Gasometer/Neue Mitte Oberhausen"
Jetzt geht es am Rotbach entlang, dem klaren Mühlenbach. Kies knirscht unter den dicken Sohlen, bunte Blümchen recken sich der wärmenden Sonne entgegen, so fühlt sich Frühling an. Schritt für Schritt, vorbei an Fabrikschornsteinen, am Feldrand entlang einer Eisenbahnstrecke, nähert sich die Gruppe bald wieder der Emscher. Auf dem Weg ist Zeit für Besinnliches – schließlich ist Pilgern mehr als nur Wandern, erst recht in der Karwoche. Für jeden Tag steht ein Planet. In alten Schriften gehörte die Sonne noch dazu. Pilgerführerin Ingeborg Sundermeier:
"Heute ist der Sonntag, benannt nach der Sonne. Was bedeutet Sonne? Zunächst mal Wärme, Licht, wir haben den Spruch, die Sonne bringt es an den Tag. Beleuchtet alles, steht für das Bewusstsein des Menschen und auch für Selbstbewusstsein."
Wer mag, denkt nach und teilt sich mit. So wie Ingrid Coumanns aus Dortmund, 65 und fit wie ein Wanderschuh:
"Wenn sich die Sonne zeigt, gleich in welcher Lebenssituation, sehe ich Hoffnung und eventuelles Trübsal ist an die Seite geschafft und ich kann mich aufrichten, so wie Pflanzen sich auch aufrichten, wenn sie dann von der Sonne beschienen werden so fühle ich mich dann auch manchmal. Leichter und beschwingt und einfach warm gemacht."
Ein Gefühl wie in Norddeutschland, schwärmt Ingrid, blickt auf den steilen, befestigten Deich der schnurgeraden Emscher und ignoriert die Bundesstraße im Rücken und den leichten süßlich-modrigen Geruch, den die Köttelbecke ausdünstet.
Am Horizont glänzen silbrig drei futuristisch anmutende Faultürme, bald ist das Emscherklärwerk erreicht, einst das größte Klärwerk Europas. Der ganze Fluss verschwindet in der riesigen Anlage, um gereinigt wieder auszutreten. Ein großes Schaubild mit vielen Zahlen erklärt den Ablauf:
"Und hier bei sieben, die Sieben ist das Rechenhaus, ich denke, da wird alles Grobe rausgerecht, geharkt (..) dann Sandfang, acht, da sickert auch einiges ab, dann gibt’s das Vorklärbecken, Nachklärbecken und sie wird immer heller und immer heller, sie wird dann geklärt in den Rhein. Was bleibt, ist ja da auch noch zu sehen – die Schlammbehandlung. Das ist praktisch das Geklärte, was man rausgezogen, der Emscher weggenommen hat! Was jetzt als Schlammbehandlung noch mal aufgeführt ist. Und als Kompost dient"
Leiterin Ingeborg Sundermaier nutzt das Emscherklärwerk als Symbol:
"Wir stehen hier am Klärwerk, das finde ich auch in symbolischer Weise wichtig, denn wir haben uns auf den Weg gemacht, mit sicherlich unterschiedlichen Lasten, die wir mitschleppen, wie die Emscher und vielleicht ist so ein Weg auch eine Klärung, wie ein Klärwerk, dass man das eine oder anderen ablegen kann und sich ein bisschen renaturieren kann, wie die Emscher ja auch renaturiert werden soll."
Pilgern ist zwar fast so wie Wandern, aber eben nur fast. Es gehört einfach dazu, immer mal wieder in sich zu gehen. Das Sinnieren ist jedoch nur ein Angebot, kein Muss. Die Freude daran, zu Fuß zu gehen, sich den Pott per Pedes zu erobern, überwiegt. Auch bei Jürgen Francke aus Düren, dem einzigen Mann in der Gruppe. Der 55-Jährige kennt das Ruhrgebiet nicht. Als ehemaliger Bundeswehrangehöriger hat er nun Zeit und nutzt den Pilgerweg auch für Zukunftsgedanken:
"Ich bin vor zwei Jahren pensioniert worden und hatte mir im Vorfeld schon Gedanken für die Zeit danach gemacht nach der Arbeit, und da war ein Thema dieses Pilgern."
Mit Spiritualität hat Jürgen wenig Erfahrung, trotzdem spielt sie eine Rolle.
"Ja, in jedem Fall, weil ich wollte das Ganze ja erleben. Einmal auch hier mit dem Tragen des Gepäcks, dieses Zusammenbleiben der Gruppe, aber auch das Spirituelle miterleben und sehen, wie das auf mich wirkt zum Schluss."
Auch Leiterin Ingeborg Sundermeier wollte sich schon längst auf einen Pilgerweg begeben. Doch der Jakobsweg in Spanien, der Camino, ist ihr zu weit weg und vor allem zu überfüllt. Das Pilgern im Pott kam gerade recht:
"Was mich wirklich reizt, ist zu Fuß unterwegs zu sein, mit dem anderen Blick auch noch als beim Wandern, es auch mit einer gewissen Spiritualität anzugehen, weil mir das zunehmend ein Bedürfnis ist, spirituell meinen Weg zu suchen."
Weiter geht’s, Kilometer um Kilometer unmittelbar an der Emscher entlang. Pferde grasen, Reiter überholen die Gruppe, im Hintergrund dampft ein Kraftwerk. Nach dem Unterqueren einer Autobahn kommt endlich das Etappenziel in Sicht: Der Gasometer in Oberhausen! Mit jedem Schritt scheint das riesige Bauwerk, einst Behälter für Gicht- und Kokereigase der ehemaligen Gutehoffnungshütte Oberhausen zu wachsen. Mit seinen 117 Metern Höhe thront das Industriedenkmal über der Emscher und dem anliegenden Rhein-Herne-Kanal. Kurz vor dem Ziel, ein kleiner Fußballplatz – einer von vielen im Ruhrgebiet. Doch heute heißt es nicht Kicken sondern Kläffen:
Deutsche Schäferhunde und ihre Besitzer jagen hier Verbrecher um die Wette – zum Schein. Sie wollen sich für die Weltmeisterschaft der Gebrauchshunderassen qualifizieren, erklärt Hundesportler Joachim Motzfeld.
"Der hat jetzt diesen Scheintäter gefunden in den sechs Verstecken und muss den jetzt verbellen. Solange der Täter passiv ist muss der Hund nur bellen, darf den auf keinen Fall beißen, das wäre ein Fehler. Jetzt kommt gleich der Besitzer, holt den Hund ab, der wird dann einen Fluchtversuch unternehmen, den muss der Hund vereiteln."
Nicht nur Bellen, auch beißen darf der Schäferhund, aber nur auf Befehl in einen Armschutz. Zum Beispiel wenn der Täter mit einem Schaumstoffschlagstock zuschlägt. Psychostress für den Hund. Die spektakulärste Aufgabe: Fluchtvereitelung – eine Verfolgung in rasendem Tempo übers ganze Fußballfeld:
"Der läuft jetzt hier unten und der Hund muss den über die gesamte Distanz in der Kampfhandlung stellen. Huch! – Hätte den Griff halten müssen, kleiner Fehler, noch ein kleiner Angriff, jetzt ist er fertig."
Der Wettkampf geht zu Ende, genau wie der erste Tag der Pilgerwoche. Im Café des Kirchenzentrums der Neuen Mitte Oberhausen, einem großen Einkaufszentrum, ist Schluss.
Füße und Schultern schmerzen, die PilgerInnen sind erschöpft, aber glücklich.
"Das ist eben doch ein schönes Ende zu laufen und wenn wir es nicht gewöhnt sind, das öfter zu machen, ich hoffe, das wird sich bessern im Laufe der Woche. Ich freue mich, erstmal angekommen zu sein und das hab ich bisher immer erlebt, das Ankommen ist wunderschön. Jetzt geht’s mir gut. Der letzte Kilometer war schwierig. Aber jetzt haben wir ja ganz viel Zeit uns auszuruhen. Ich merke, dass ich eine ganz schöne Strecke gelaufen bin und vor allen Dingen das Pflaster macht schon müde. Geschafft bin ich, aber es war schön, als wir dann das Ziel vor Augen hatten."
Die nächsten Etappen führen von Oberhausen über Duisburg und Essen nach Gelsenkirchen. Vorbei geht es an den "Kathedralen der Industriekultur": Am ehemaligen Stahlwerk Duisburg-Meiderich, über das weite Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen. Beeindruckend durch schiere Größe, aber auch bedrückend – die schwere Arbeit, der Lärm, der Schmutz – vorbei. Das was vor wenigen Jahren noch Tausenden von Menschen Arbeit und Anerkennung gab, ist heute imposante, teils rostige Kulisse für Konzerte und Museen. Aber einmalig und einzigartig weltweit.
An Gelsenkirchens Altstadtkirche, mitten in der Fußgängerzone, startet die Tour am fünften Tag. Der Blickfang der schlichten Kirche aus den 50er-Jahren ist eine imposante Orgel, auf der regelmäßig Konzerte gespielt werden. Historisch interessant wird es im Info-Punkt, der wahrhaftig aus Ruinen auferstanden ist. Geschichte unter Glas, informiert Pastor Thomas Webel-Reiner. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Kirche und Turm völlig ausgebrannt:
"Wenn sie in diese Richtung gucken, aus der Tür heraus, so hat sich damals für die Menschen hier das Kirchschiff eröffnet – der Altar war ungefähr dort, wo jetzt der Zugang zur U-Bahn ist. Dieses war 50 Jahre lang ein dunkles schwarzes Loch, selbst der Dreck aus dieser Brandgeschichte ist noch drin geblieben und wir haben als erstes dann dieses Mauerwerk sehr vorsichtig gesäubert und haben bewusst es so gestaltet, dass dieser bröckelige Putz, dass alles erkennbar als quasi Mahnmal für die Bürger erhalten geblieben ist"
Weiter geht’s Richtung Herne, durch die Stadt und ein bürgerliches Villenviertel, dass so gar nicht zur republikweit bekannten Armut Gelsenkirchens passen will. Das Bild vom schmuddeligen Ruhrgebiet, das viele noch immer im Kopf haben – es passt nicht. Nicht nur in Gelsenkirchen.
Die Etappe ist dröge. Es gibt Aussicht auf Schrottplätze und Bergehalden, sparsamen Einblick in die Zoom Erlebniswelt, mit Blick durch Glas auf Eisbären und Seelöwen. Am frühen Nachmittag, kommt die Gruppe bei strahlender Sonne und eisigem Wind in Herne an. Nahe der früheren Zeche "Unser Fritz", im gleichnamigen Stadtteil, wartet das Gleiscafé "Fritzchen" unter hohen Bäumen. Ein zum Café umgebauter Eisenbahnwaggon, der zwischen alten Straßenbahnen und einer kohlschwarzen Dampflok auf Gäste wartet. Nach kurzer Rast ist noch Zeit für einen Besuch im Heimatmuseum auf dem Gelände.
Achim Krause vom Stadtteilprojekt führt durch das kleine, liebevoll eingerichtete Museum, in dessen Obergeschoss ein echter Knüller steht: Eine alte Drogerieeinrichtung im Jugendstil! Bis vor wenigen Jahren noch originale Ladeneinrichtung der Drogerie Kleffmann aus Wanne: Dunkles Holz, Tiffany-Glas, prachtvoller Spiegel, imposanter Tresen. Und viele Kleinigkeiten zum Bestaunen. Zum Beispiel Behälter aus Glas und glänzendem Chrom:
"Das sind Kaffeebehälter. Kaffeebohnen hat man da abgefüllt und konnte man dann wieder befüllen in verschiedenen Behältnissen. Alten Lindiskaffee, Zucker konnte man hier kaufen, Kakao, Waschpulver, Arzneien, die dann hier auch noch teilweise zusammengemischt worden sind und natürlich auch Spirituosen, Bilder machen mit alten Fotogeräten."
Die Pilgerstrecke entfernt sich jetzt von der Emscher, führt nach Bochum. Wer mag, stoppt hier für einen Tag, wandert südlich hinunter an die Ruhr in den Stadtteil Stiepel mit seiner romantischen alten Dorfkirche. Macht Rast am Kemnader Stausee, besucht die Burg Blankenstein oder das Wasserschloss Kemnade. Die Pilgergruppe zieht es weiter - nächster Stopp ist Bochum-Harpen. Hier liegt direkt neben dem belebten Einkaufszentrum Ruhrpark die 1000-jährige, ursprünglich romanische Vinzentiuskirche in einem ruhigen Wohngebiet. Sonntags ist sie regelmäßig geöffnet, heute schließt Kirchenführerin Christel Eglinski auf:
Welchen Eindruck haben Sie, wenn Sie diese Kirche betreten, was ist Ihnen wichtig im ersten Augenblick?
Der Blick schweift nach links, angezogen von vier großen, bunten Kirchenfenstern, die typische Szenen aus dem Bergbau zeigen:
"Auf dem ersten sieht man Bergleute mit unterschiedlichen Lampen und an den Lampen kann man erkennen, welchen Beruf die haben. Zum Beispiel der mit der roten Lampe, das ist der Lokführer, der muss nämlich das rote Licht an das Ende des Zuges hängen. Auf dem zweiten Bild sieht man Bergleute auf dem Streb, die eine Lore bewegen. Und dieses Bild hat mich immer irritiert, weil einer schiebt und ein anderer hält zurück. Ich hab gedacht, da stimmt etwas nicht bei diesem Bild, aber es stimmt schon, ich habe einen Fachmann gefragt, der sagte, der Boden ist uneben und selbst wenn man etwas schiebt, muss auch zurückgehalten werden."
Zur Kirche nach Harpen ist auch Pfarrerin Eva-Maria Ranft gekommen, vom Frauenreferat im evangelischen Kirchenkreis Bochum und Mitinitiatorin des Projekts. Das Pilgern im Pott, entlang des Industrieflusses Emscher, soll Pilgern im Alltag sein. Und der findet statt neben Bahngleisen, Autobahnen und Industrieanlagen.
"Unser Leben muss sich ja vielen Dingen im Leben anpassen, die nicht natürlich sind und insofern haben wir auch gedacht, ist die Emscher dafür ein Symbol. "ir finden, es ist gerade ein Symbol für diese Region, die ja Industriegebiet ist, und wo die Menschen ja auch in der Industrie arbeiten, irgendwie mit dem Strukturwandel klarkommen müssen und da haben wir gedacht, da ist die Emscher genau das richtige Symbol."
Das Symbol ist von Harpen weit entfernt, Richtung Dortmund rückt die Gruppe ihm näher, folgt dem Weg im Pilgerführer.
"Von der St. Vinzentiuskirche laufen Sie bis zum Harpener Hellweg, diesem folgen Sie rechts und biegen nach Haus Holte ab."
Schon ist man abseits der Straße, mitten im Wald, an einer Drei-Wege-Kreuzung. Verwirrend. Nicht immer sind die Wegweisungen eindeutig:
"Ich muss sagen, in so Waldgebieten, wenn die nicht klar markiert sind, hat das so was von am dritten Baum links. Wir haben uns bemüht, Wegmarken zu finden und ich hoffe, dass die Menschen auch den Eindruck haben, dass sie gut mit dem Buch auch durch Waldgebiete kommen, aber es kann schon mal vorkommen, dass man doch mal nachfragen muss und gucken muss, wer sonst unterwegs ist und besser Bescheid weiß, andererseits denken wir, das gehört auch zum Pilgern dazu, denn Wege suchen ist ja auch ein Stück unseres Lebens."
Im Ruhrgebiet geht man kaum verloren, irgend jemand sei immer da, meint Pfarrerin Ranft. Zum Beispiel radelnde Rentner oder Frauchen mit Hund.
Es geht weiter in Richtung Osten, der Emscherquelle und dem Licht entgegen. Nach etwa 20 Kilometern ist Dortmunds Innenstadt erreicht. Hier ist die Marienkirche am Hellweg das Pilgerziel.
Drinnen übt die Organistin, draußen herrscht Marktgetümmel. Renate Fischer von der Mariengemeinde führt um die Kirche herum. Am Nordportal hängt das Symbol der geöffneten Kirchen, ein blau umrandeter, kopfstehender Rhombus mit stilisierter weißer Kirche. Für die Marienkirche ist die Teilnahme am Pilgerprojekt selbstverständlich.
"Denn wir liegen ja an einem uralten Handelsweg, an diesem Hellweg, der schon immer von Ost nach West von West nach Osten eine Verbindung war, da sind bestimmt schon Pilger vor Hunderten von Jahren hier entlang gekommen."
Von der St. Marienkirche über Kleppingstraße und Märkische Straße, hinter der S-Bahn-Station Dortmund-Stadthaus, durch die Grünanlage in Richtung Fernsehturm.
Der Fernsehturm liegt im Westfalenpark und dahinter fließt sie die Emscher, endlich wieder sichtbar, das Symbol des Pilgerwegs.
Steil fällt hier das grüne Ufer ins Betonbett ab, ein Fischreiher fliegt auf. Die Köttelbecke ist großteils noch immer ein Abwasserkanal. Aber mitten im Umbau, der Fluss wird renaturiert und wieder ein lebendiges Gewässer. Zu Zeiten des Bergbaus konnten Abwasserkanäle nicht unterirdisch verlegt werden – die Bergsenkung hätte solche Kanäle zerstört. So ein Jahrhundertprojekt dauert, weiß Ilias Abawi von der Emschergenossenschaft:
"Seit dem Ende des Bergbaus haben wir aber die Möglichkeit, Abwasserkanäle unterirdisch zu bauen und somit das gesamte Schmutzwasser unter die Erde zu verbannen. Das gibt uns die Möglichkeit oberirdisch, die Bäche, die Flüsse, die ganzen Nebenflüsse und natürlich die Emscher selbst, naturnah wieder zurückzubauen und grüner zu gestalten. Das heißt, wir werden in wenigen Jahren einen blauen Fluss mit grünen Ufern wieder haben."
Weiter geht’s, entlang der Emscher, durch dörfliche Dortmunder Stadtteile, vorbei an diversen Kirchen. In Aplerbeck ist plötzlich Schluss mit dem schnurgeraden Kanal. Hier darf die Emscher auf einigen Hundert Metern schon wieder lebendiger Fluss sein. Klar und sauber, plätschernd und mäandernd fließt sie dahin.
Noch wenige Kilometer, dann ist die Emscherquelle in Holzwickede erreicht, genauer: Der Emscherquellhof. Eine idyllische Fachwerkanlage, Ausstellungsraum, Bildungszentrum der Emschergenossenschaft und romantischer Treffpunkt an sommerlichen Wochenenden. Hinter dem Fachwerkensemble schimmert ein blau-grüner Teich. Schilf und Bäume spiegeln sich im Wasser. Der Ursprung der Emscher. Klar, plätschernd, sauber. Gerd Drzisga wacht über die Quelle:
"Die Quelle ist dort unter dem Haupthaus des Emscherquellhofs, entspringt dort, seitdem das Haus steht, fließt das Wasser aus dem Keller, unter dem Hof her in den Teich, können wir jetzt gerade sehen, da an dem Quelltopf, wie das Wasser in den Teich fließt. Es gibt Leute, die holen sich Wasser aus der Emscher und füllen das ab und trinken das. Warum auch immer, aber es ist sauberes Wasser."
Mehrere Zuflüsse speisen die Emscher, das Quellgebiet liegt im Hixter Wald, einige hundert Meter südwestlich von hier. Doch das Ende der Tour ist nicht die Quelle, sondern – natürlich – eine Kirche.
Die kleine evangelische Dorfkirche im Ortsteil Opherdicke. Hier wartet der bekannteste aller Pilger auf seine Fans – der Heilige Jakobus samt Muschel, Pilgerstab und Bibel im Arm. Aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt die kleine Figur, nach Restaurierung wieder in dezenten Originalfarben zu bewundern. Auf welchen Wegen Jakobus in die kleine Kirche gelangt ist – niemand weiß es genau. Kirchenführer Wolfgang Reupke:
"In Unna gibt es auch eine Jakobuskapelle und man hat eine Abkürzung des Pilgerweges gesucht, der ist dann über diese Höhe, den Haarstrang gegangen und dann Richtung Herdecke um dann Richtung Hagen weiterzukommen und damit quasi eine Diagonale zu schaffen. Das war der Hintergrund – mehr ist nicht festzustellen."
Als offene Kirche freut sich die Gemeinde über Pilger und auch Besucher, die den Heiligen bewundern wollen, aber zu nah kommt ihm niemand.
"Wir sind natürlich stolz auf diesen Jakobus, und die Versicherung hat gesagt, wir müssen den sichern, damit den nicht jemand in die Tasche steckt, er ist mehrfach angedübelt."
Für die Pilgergruppe endet die Tour mit einem Gottesdienst, dem letzten Segen und einem Brunch im Gemeindehaus.
Vorbei sind die zehn Tage durchs Ruhrgebiet, eine Pilgertour direkt vor der Tür und doch weit genug weg vom Alltag. Das Fazit? Für Ingrid, die Dortmunderin, sind es vor allem die Menschen gewesen.
"Einfach, dass Menschen uns erwartet haben, gleich ob Bewirtung oder nicht, sie standen dann zum Teil schon vor den Kirchentüren, haben auf uns gewartet, weil wir uns etwas verspätet hatten und hießen und liebevoll willkommen. Und allein dieses Ankommen, es war wie ein Zuhause für mich in einer großen Gemeinschaft, der ich ja nun auch angehöre. Da merkte ich wieder, dass ich da richtig bin und dass ich da willkommen bin und dass es ein Haus für mich ist."
Der Dürener Jürgen hat – ganz ungewohnt – Spirituelles mitgenommen und viel Wissen über Kirchen und das Ruhrgebiet.
"Das ist ja das Interessante, wenn man das Ruhrgebiet mitnehmen möchte und wenn man pilgern möchte – man hat zum einen die Straßen, die Menschen, die Fabrikgelände, von einer großen Zeche zu einer kleineren Zeche, aber eben auch die stillen Orte, wo man entlang der Emscher, des Emscherweges, im Grünen auf einem Radweg spaziert, beziehungsweise pilgert, es ist breit gefächert, man kann hier alles mitnehmen, ich fand’s einfach toll."