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Pillen ohne Wirkstoff

Zuckerpillen, die Schmerzen lindern, Scheinoperationen, die die Beweglichkeit verbessern: Seit Jahren wird der Placebo-Effekt in der Medizin erforscht. Auf einem internationalen Kongress in Tübingen wurden die neuesten Ergebnisse vorgestellt.

Von Thomas Wagner |
    Wenn der Stuttgarter Medizinhistoriker Professor Robert Jütte ein Medikament verschrieben bekommt, dann vermeidet er eines: den Blick auf den Beipackzettel.

    "Das Merkwürdige ist doch, dass an sich diese Beipackzettel den Patienten schützen sollen vor Nebenwirkungen. Und genau das Gegenteil passiert: Es werden die Nebenwirkungen, die dort aufgeführt sind, zum Teil von den Patienten generiert. Also sie sind nicht eingebildet, sie sind wirklich da, sie lassen sich klinisch nachprüfen!"

    Das haben klinische Studien ergeben, in denen Versuchspersonen Tabletten ohne jeglichen Wirkstoff nahmen, aber dazu einen Originalbeipackzettel lasen. Ergebnis: Die im Beipackzettel aufgeführten Nebenwirkungen traten bei einem Teil der Probanden dennoch auf. Diese Effekte lassen sich auch positiv nutzen; dann sprechen die Experten von "Placebo-Effekten". Das heißt: Krankheitssymptome schwächen sich durch die Einnahme wirkstofffreier Placebos ab.

    "Besonders gut funktioniert er bei Schmerzen, also bei allen mit Schmerzen assoziierten Erkrankungen. Das sind Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, es können auch Bauchschmerzen sein. Da haben wir relativ starke Placebo-Effekte in klinischen Studien. Die bewegen sich so bei 40 Prozent: 40 Prozent der Patienten reagieren mit Besserung."

    Professor Paul Enck beschäftigt sich an der Universität Tübingen mit Placebo-Forschung - und diskutierte mit den Tagungsteilnehmern über eine Studie aus den USA. Dabei ging es um Knieoperationen. Die Patienten wurden dabei in drei Gruppen eingeteilt. Doch nur bei zwei Gruppen entfernten die Chirurgen tatsächlich Ablagerungen im Knie. Bei der dritten Gruppe schnitten die Ärzte das Knie einfach nur auf und nähten es danach auch gleich wieder zu - sogenannte Schein-Operationen. Überraschendes Ergebnis:

    "Allen Gruppen, allen drei Gruppen ging es gleich gut. Auch die Scheinoperationen haben zu einer Besserung der Gelenkbeweglichkeit, der Schmerzen und anderer Beschwerden der Patienten geführt."

    Doch welche Konsequenzen müssen die Mediziner aus diesem Ergebnis ziehen? Nur noch Scheinoperationen durchführen, die wesentlich weniger aufwendig wären? Das lehnen die Experten aus rechtlichen und medizinethischen Gründen ab. Schließlich hat das Experiment gezeigt, dass keine Unterschiede zwischen tatsächlicher und Scheinoperation auftreten. Über Fragen dieser Art diskutieren die Fachleute immer noch kontrovers, wobei in Deutschland Scheinoperationen verboten sind. Auch dürfen Ärzte keine Placebos in Tablettenform verschreiben.

    Nach einer weiteren Studie ist es gar nicht ausgeschlossen, dass die behandelnden Ärzte durchaus mit offenen Karten spielen können: Sie sagen dem Patienten, dass er ein Placebo einnimmt. Der Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte weist auf Untersuchungen hin, die die Wirksamkeit selbst in einem solchen Fall belegen.

    "Wir haben leider insgesamt nur drei Studien, indem man mit kleinen Gruppen getestet hat: Was passiert, wenn Patienten wissen, es ist ein Placebo! Wenn man denen auch genau erklärt: Das ist Zucker. Da ist nichts drin. Und trotzdem hat es in diesen Fällen besser gewirkt als in einer Wartegruppe, wo man nichts getan hat. Also irgendetwas passiert auch, wenn Patienten wissen, dass sie ein Placebo bekommen."

    Praktische Empfehlungen haben die Tübinger Tagungsteilnehmer auch formuliert: So sollen nach Ansicht von Paul Enck zukünftig Kommunikationsexperten den Text von Beipackzetteln formulieren, um unerwünschte Nocebo-Effekte zu verhindern. Darüber hinaus befürwortet der Tagungsleiter eine bessere Schulung der Praxisärzte: Mehr Vertrauen im Arztzimmer bringe schließlich ebenfalls einen Placebo-Effekt.

    "Ein empathischer Arzt ist in der Lage, die Erkältungserkrankung seiner Patienten durch seine empathische Art von acht auf sieben Tage zu reduzieren. Das heißt: von acht auf sieben Tagen, wie halt so eine Erklärungskrankheit dauert. Und die dann mit substantiell hohen Einsparungen im Gesundheitssystem einhergehen."