Was in der Welt der Musik so normal ist wie im klassischen Tanz, ist im Schauspiel undenkbar: Rene Pollesch oder Andreas Kriegenburg arbeiten nicht mit Zweitbesetzungen. So war es auch bei Pina Bausch. Nach dieser Unterscheidung zählen ihre Werke mehr zum Schauspiel als zum Tanz. Als das Wuppertaler Tanztheater dann in den ersten Tänzergenerationswechsel ging, zwang allein das Leben die Choreografin, ihrem Theater neue Gesichter einzufügen.
So unabwendbar das schien, so schwerfiel es Teilen des Publikums und der Kritik, diese Umbesetzungen aus biografischen Gründen zu akzeptieren. Nie wieder, so das Lamento, wären diese Stücke so zu sehen, wie sie eigentlich waren und sein sollten.
Ja, das stimmt wahrscheinlich. Wenn man die Inszenierung nicht vom Stück trennen kann, wie es für die Werke von Pina Bausch gilt, ist die Authentizität auch an die Identitäten der Akteure gebunden. Für Pina Bausch selbst stellte sich die Frage gar nicht, ob ihre aus biografisch genährten Improvisationen entstandenen Stücke anderen Compagnien übertragen werden könnten oder sollten.
Erst nach dem Tod der Choreografin vor bald sieben Jahren änderte sich allmählich die Perspektive auf das Werk, und die Frage nach Art und Weise des Überlebens von 40 Stücken trat in den Vordergrund.
Pina-Bausch-Stück in komplett neuer Besetzung
So wurde schließlich als Erstes das Werben des Bayerischen Staatsballetts erhört. Die Compagnie bekam den 2002 entstandenen, zu den schwächeren Stücken der späten Schaffensperiode zählenden Abend mit dem etwas pathetischen Titel "Für die Kinder von gestern, heute und morgen".
Bei der Premiere gestern Abend im Nationaltheater durfte man staunen, wie anders ein Stück von Pina Bausch in komplett neuer Besetzung aussehen kann. Sehr anders! Drei Wuppertaler Interpreten waren es in der Hauptsache, die das Stück den 15 Münchner Tänzern beibrachten: Ruth Amarante mit Daphnis Kokkos und Azusa Seyama. Und sie haben ganze Arbeit geleistet. Sie haben nicht nur eine fantastische Besetzung ausgesucht, sondern dieser wirklich dazu verholfen, das Höchstziel zu erreichen: Sie geben sich ganz in ihre Rollen und bleiben doch vollständig als sie selbst erkennbar. Dadurch bekommt der Abend eine umwerfende Kraft: Das Stück atmet und lebt und die Freude der Tänzer an diesem Gelingen überträgt sich.
Technische Virtuosität der Tänzer
Es wird plötzlich seltsam unwichtig, welchen Part der große Lutz Förster ursprünglich mal hatte und man lacht sich kaputt, weil Marta Navarrete Villalba wirklich komisch ist, obwohl ihr Nazareth Panaderos Rollenschuhe natürlich zu groß sind.
Was aber wirklich hilft, ist die technische Virtuosität dieser Tänzer, Männer und Frauen werfen sich mit Verve in das Armschwenken, Kopfschütteln und Zu-Boden-Knallen des Tanztheaters, in die süßen, sentimentalen Schwünge, auch in den leichten Freiheitskitsch der Barfußbewegung.
Aber die klassischen Tänzer entpathetisieren mit ihrer objektiven Anstrengung den Tanz der Pina Bausch - und zu dessen Bestem. Neben vereinzelten surrealistischen Erscheinungen wie dem Mann, der in eine Ballettstange hineinbläst und damit einen Luftballon aufbläst, der am anderen Ende steckt, besteht das Stück einfach aus einer einzigen großen Musikcollage. Die malt der Tanz überwiegend gefühlvoll, manchmal witzig, Solo für Solo, Gruppe für Gruppe mit Bewegung aus.
In dem zimmerähnlichen weißen Bühnenbild von Peter Pabst, von grandioser Wirkung, wenn die Wände anfangen zu fahren, bilden Marion Citos Abendkleider farbige Konzentrationspunkte.
Aber einen richtigen roten Faden, ein echtes Thema hat das Stück nicht. Es ist die Demonstration der Funktionsweisen einer Methode, Theater herzustellen.
Daraus ergeben sich über zweieinhalb Stunden dann doch gewaltige Längen, ganz wie damals bei der Wuppertaler Premiere.