Archiv


Piratenpartei will Berliner Politik entern

Sie erinnern an die Grünen in deren Anfangsphase, ihr Anspruch ist ungleich moderner: Internet für alle und "Rauschkunde" im Unterricht beispielsweise. Die Piratenpartei könnte am Sonntag in das Berliner Abgeordnetenhaus einziehen - wenngleich die politische Kompetenz noch ausbaufähig ist.

Von Philipp Banse |
    Christopher Lauer steht auf der Kastanienallee, der wuseligen Touristenmeile im Prenzlauer Berg. Der 27-Jährige macht Wahlkampf, im karierten Sakko verteilt er den orange-schwarzen "Kaper-Brief" der Berliner Piratenpartei. Der Produkt-Manager bei einem Software-Startup-Unternehmen, könnte als einer der ersten Piraten ein deutsches Landesparlament entern. Über ihm hängen bunte Plakate mit den Slogans: "Dieser Geheimvertrag ist in Deiner Stadt nicht verfügbar", "Religion privatisieren jetzt!" oder "Netze in Nutzerhand". Vor fünf Jahren ist die Partei in Berlin gegründet worden. Jüngste Umfragen sagen ihr für die Wahl am kommenden Sonntag fünf bis sechs Prozent voraus.

    "Ich glaube, das kann man tatsächlich monokausal mit den Plakaten in Verbindung bringen. Man hat gesehen, in dem Moment, wo 12.000 Plakate hingen, gingen die Umfragen hoch auf drei Prozent, dann wurde über uns berichtet, dann haben sich die Leute unser Programm angesehen und mittlerweile werden wir als Alternative wahrgenommen, die den etablierten Politikbetrieb aufmischen soll."

    Die Piraten wollen anders sein. Christopher Lauer ist faktensicher, schlagfertig und ein bisschen vorlaut – der klassische Spitzenkandidat eben. Er wollte, aber die Hauptstadt-Piraten nicht.

    "Das war natürlich persönlich eine Enttäuschung. Aber wenn wir einen Kandidaten aufgestellt hätten, der das klassische Bild des Politikers bedient, könnte es tatsächlich sein, dass wir dann bei zwei oder drei Prozent wären wie die FDP."

    Spitzenkandidat der Piraten wurde Andreas Baum, 32 Jahre, Beruf Industrieelektroniker, schlaksig, freundlich, zurückhaltend. Die Partei habe nur ein Thema, nämlich Bürgerrechte im Internet und vom Rest keine Ahnung. Das behaupten Kritiker und durften sich bestätigt fühlen, als der unerfahrene Baum im RBB-Fernsehen diese Frage beantworten musste:

    "Wissen Sie, wie hoch die Verschuldung des Landes Berlin derzeit ist?"

    "Nein, ich weiß, dass es viele Millionen Euro sind, aber die genaue Zahl kann ich nicht sagen."

    "Es sind rund 63 Milliarden.""

    "Das war mein erster Fernseh-Auftritt und natürlich ist er nicht optimal gelaufen, ich sehe das natürlich auch selber."

    Für Fragen dieser Art will der Spitzenkandidat künftig gewappnet sein: Baum zeigt sein Handy. Darauf tickt jetzt Berlins Schuldenuhr, sekundengenau. Die kleine Webseite hat er sich nach seiner TV-Panne programmieren lassen.

    "Das zeigt einfach, auch auf solche banalen Fragen können wir schnell und genau reagieren. Ich wage zu behaupten, kein anderer Spitzenkandidat kann den Schuldenstand so genau benennen."

    Baum loggt sich bei Liquid Feedback ein. Auf dieser Diskussions- und Abstimmungsplattform im Internet konnten alle 1000 Berliner Parteimitglieder am Wahlprogramm mitfeilen. Jetzt sind die Piraten in der Bundeshauptstadt keine Ein-Thema-Partei mehr, sagt Andreas Baum stolz. Sie fordern mehr Mitbestimmung und Bürgerbeteiligung, umgesetzt auch mithilfe digitaler Werkzeuge im Internet. Sie wollen für möglichst viele Menschen freien Zugang zum Internet; in Schulen etwa oder ganz einfach in Parks auch per Funk. Die Piraten wollen ein Schulfach "Rauschkunde” einführen, in dem über Drogen aufgeklärt wird. Und sie verlangen, dass Wohnungen vor dem Verkauf erst den Mietern zum Kauf angeboten werden müssen. Wenn er in das Berliner Landesparlament einziehen sollte, will sich Spitzenkandidat Baum zuallererst kümmern um:

    "Transparenz. Wir wollen dafür sorgen, dass erstmal der Grundsatz herrscht: Alles ist öffentlich. Und dann muss gefragt werden: Warum und aus welchen Gründen muss etwas hinter verschlossenen Türen stattfinden? Politik, die vom Bürger in Berlin bezahlt wird, sollte auch für ihn zugänglich sein."

    Transparenz, Bürgerbeteiligung, Chancengleichheit in der Wissensgesellschaft – all das sind auch Themen der Grünen. Ein Konkurrenzkampf um Wählerstimmen deutet sich an. Und mehr noch. Die Piraten können verhindern, dass die Grünen nach der SPD in Berlin zweite politische Kraft werden. Sie können vielleicht sogar die Pläne von Renate Künast durchkreuzen, Regierende Bürgermeisterin an der Spitze einer schwarz-grünen Koalition zu werden.

    "Ich bin ja auch grüner Stammwähler, kann man sagen, und ehrlich gesagt, habe ich es mir auch überlegt, ob ich nicht Piraten wähle. "

    Berlin Kreuzberg, Bergmannstraße, bei der Landtagswahl vor fünf Jahren haben die Grünen hier weit über 40 Prozent der Wählerstimmen bekommen.

    "Die haben auch schon so ein Logo, dieser Name 'Piraten', das klingt schon revolutionär, das finde ich toll und ich finde reizvoll und die Grünen sind eine etablierte Partei, wo man schon weiß, was man davon hat."

    "Seit die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, ist es das gleiche Phänomen wie bei allen großen Parteien, die Wahlprogramme ähneln sich bis zur Unkenntlichkeit und die Piraten haben zumindest ein sehr abgegrenztes Profil. Das finde ich sehr hilfreich."

    Die Piraten profitieren vom Exotenstatus, aber ihr Programm hat große Lücken. Zu Klimaschutz etwa oder Wirtschaftspolitik fällt ihnen wenig ein, gesteht Spitzenkandidat Andreas Baum:

    "Bisher haben wir alles erarbeitet in der Freizeit der Leute, die sich daran gesetzt haben. Und es ist natürlich ein anderes Arbeiten, als wenn man dafür bezahlte Kräfte hat, die einfach auch mal Fakten zusammentragen können."

    Derzeit suchen die Piraten einen parlamentarischen Geschäftsführer mit Erfahrung. Mangelnde Ressourcen, das dürfte ein Grund sein, warum Baum nicht auf die Frage antworten kann, wie er und seine Partei ihre politischen Ideen finanzieren wollen: Rückkauf der Berliner Wasserbetriebe, kostenloses Mittagessen an allen Schulen, kostenloser öffentlicher Nahverkehr – richtig durchgerechnet haben die Piraten das alles bisher nicht:

    "Auf Heller und Pfennig nicht, weil eben die Verträge zwischen Senat und der S-Bahn geheim sind, das heißt, uns fehlen dann eben konkrete Zahlen. Dann können wir nicht sagen, so und so viel wird es kosten. Da sagt der eine oder andere, die haben keine Ahnung, aber da sind wir so ehrlich und sagen: Wir wissen es im Moment noch nicht. Das ist ein Ziel, was wir verwirklichen wollen und wir werden sehen, wie weit wir damit kommen."

    Wohl bis ins Berliner Landesparlament, wenn die Umfragen recht behalten.