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PISA-Ergebnisse
Leseforscherin: Es braucht kein Schulfach zu Medienkompetenz

Die Lese- und Medienkompetenz deutscher Schüler ist bei der PISA-Studie schlecht weggekommen. Ein neues Schulfach zum Umgang mit Medien brauche es aber nicht, sagte die Leseforscherin Irene Pieper im Dlf. Man solle besser an den Lesefähigkeiten ansetzen, denn diese gingen mit Medienkompetenz einher.

Irene Pieper im Gespräch mit Stephanie Gebert |
Drei Schüler sitzen in der Schulbibliothek und lesen. Sie sind tief in ihre Bücher versunken. Auf dem Tisch liegt außerdem ein Puzzle.
Jeder fünfte Jugendliche in Deutschland kann nicht auf Grundschulniveau lesen (imago images / Westend61)
Stephanie Gebert: Zum dritten Mal nach 2000 und 2009 stand bei Pisa jetzt die Lesekompetenz im Fokus. Und weil sich seit der letzten Erhebung für uns alle die Welt weitergedreht hat, ging es nicht nur ums analoge Lesen, sondern auch um digitale Medien. Also: Wie bewegen sich die 15-Jährigen durch das Internet? Können sie Texte und Links auch überprüfen auf ihre Verlässlichkeit und Fakten von Meinungen unterscheiden? All das war Teil der Schulleistungs-Studie. Seit Jahren ist die Lesekompetenz das Forschungsfeld der Professorin Irene Pieper vom Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Hildesheim.
Kein Grund zur Panik heißt es jetzt: In allen getesteten Bereichen liegen Deutschlands Schülerinnen und Schüler signifikant über dem Durchschnitt der OECD-Länder. Eine Zahl greife ich jetzt aber mal raus, die uns nicht glücklich stimmen kann: Jeder fünfte Jugendliche kann nicht mal auf Grundschulniveau lesen. Für wie bedenklich halten Sie diese Entwicklung?
Irene Pieper: Was sich hier verdichtet, ist ja ein Problem, das wir seit Längerem intensiv bearbeiten, aber noch nicht wirklich gelöst haben. Ich würde sagen, was insbesondere bedenklich stimmen muss, ist, dass der Anteil der sehr schwachen Leser, auf die Sie jetzt auch gerade hinweisen, so hoch ist, und da müssen wir einfach weiter arbeiten. Da gehen die Scheren auseinander.
Ein Lehrer nimmt am Dienstag (24.02.2009) an einem Gymnasium in Kerpen während des Unterrichts in einer 6. Klase einen Schüler dran.
PISA-Studie: Deutschland verschlechtert sich leicht
Schülerinnen und Schüler in Deutschland haben sich im internationalen Leistungsvergleich leicht verschlechtert. Das geht aus der neuen Pisa-Studie hervor, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD in Berlin vorstellte. Doch es gibt auch Kritik an der Erhebung.
Wir haben ja gehofft, dass wir schon besser werden im Zusammenbringen dieser unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen, die Schüler und Schülerinnen bringen, aber was man heute Morgen eben auch schon lesen konnte, ist, dass es offensichtlich doch auch erhebliche Schwierigkeiten gibt, gerade dort, wo in Schulen Bildungsbenachteiligung sich verdichtet und die Voraussetzungen einfach offensichtlich seitens der Schulen auch kaum eingehalten werden können, um eine interessante und förderliche Leseförderung zu betreiben.
Lehrermangel betrifft insbesondere benachteiligte Schüler
Gebert: Was genau meinen Sie damit, was heißt das?
Pieper: Ich würde sagen, dass in den letzten Jahren unser Wissen darüber, wie man Lesen fördern kann und wie Schüler und Schülerinnen durch die Schullaufbahn hinweg, von der Primarstufe angefangen über die Sekundarstufe eins bis möglicherweise dann zum Abitur, wie man das Lesen da fördern kann, darüber wissen wir inzwischen eine Menge. Es werden auch enorme Anstrengungen unternommen. Es gibt aber Situationen in Schulen, wo man merkt, dass trotz dieses Wissens es an anderen Dingen fehlt.
Unter anderem fehlt es schlicht – das wird ja im Moment auch rauf und runter diskutiert – an den Lehrkräften, die kontinuierlich dafür sorgen können, dass im Deutschunterricht – und der ist da insbesondere gefordert, wenn auch nicht alleine – die Angelegenheiten vorangebracht werden können. Das, würde ich sagen, ist eine Schwierigkeit.
Wenn ich das heute Morgen richtig gelesen habe, ist ja eine interessante Auskunft der PISA-Studie, dass die Schulleitungen in Deutschland sehr viel stärker darauf hinweisen, dass sie Schwierigkeiten in der Versorgung haben, als dass im OECD-Durchschnitt der Fall ist und dass das insbesondere auch für Benachteiligte, also für Schulen gilt, in denen Schülerinnen und Schüler, die sozioökonomisch benachteiligt sind, beschult werden. Das ist natürlich ein Problem, wo wir institutionell einhaken müssen.
Auch Mathematiklehrer sollten Texte einschätzen können
Gebert: Das heißt, wir brauchen mehr Lehrerinnen und Lehrer, und die müssen auch kompetent sein. Sie haben es gerade angesprochen. Es ist ja nicht nur das klassische Fach Deutsch, wo Textverständnis geschult wird und Lesekompetenz, das passiert natürlich indirekt auch in allen anderen Fächern. Wie steht es denn da um die didaktischen Kenntnisse, sagen wir, der Mathematiklehrerin oder des Musiklehrers?
Pieper: Ich würde mich jetzt ungern so weit aus dem Fenster lehnen, die wirklich jetzt global einzuschätzen. Was wir wissen, ist, dass wir ein gemeinsames Know-how brauchen in den Lehrerkollegien, und da muss dafür gesorgt werden, dass alle Lehrkräfte gewissermaßen fit sind in der Einschätzung von Texten. Wir wissen doch, dass es einfach notwendig ist, so etwas wie ein textdiagnostisches Wissen zu haben.
Also schon wenn ich eine Textaufgabe in Mathematik stelle, ist es günstig, wenn ich irgendwie abschätzen kann, wo sind diese Texte etwa bildungssprachlich überfrachtet, also in einem Sprachgestus, in dem gewissermaßen zwischen Fachsprache und Alltagssprache gearbeitet wird. Das ist an sich in der Schule wichtig, denn nur über die Begegnung mit diesen Sprachformen lerne ich sie auch kennen, aber als Lehrkraft muss ich wissen, was meine Schüler und Schülerinnen sprachlich draufhaben müssen, um diese Texte zu verstehen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Anforderungen an Schüler sollten nicht reduziert werden
Es gibt so ein bisschen eine Beobachtung, die ich gerne mal systematisch auch noch angehen möchte, die Frage, ob wir nicht unter Umständen eine Tendenz haben, wenn ich weiß, dass meine Schüler und Schülerinnen mit bestimmten Texten Schwierigkeiten haben, dass ich die textuellen Anforderungen immer weiter reduziere, das ist natürlich auch nicht günstig, weil ich dadurch die Erfahrungsmöglichkeiten mit Text verringere und die Schüler und Schülerinnen Lesen lesend lernen und nicht über irgendetwas anderes. Abgesehen mal davon, dass ich die Texte weglassen kann, gibt es natürlich viel bessere Möglichkeiten, damit umzugehen, dass Schüler und Schülerinnen in der Schule nun mal ganz wesentlich über Schriftsprache lernen, und das ist wichtig.
Gebert: Jetzt ist es ja auch so, dass dieses Mal zum ersten Mal den Jugendlichen auch Aufgaben im Digitalbereich zum Lesen gegeben wurden. Die mussten zum Beispiel Informationen auf einer Homepage finden und zusammentragen, unterscheiden können, was ist Fakt, was ist Meinung. Da geht es ja auch um die Fähigkeit, sich in der Medienwelt zurechtzufinden. Heißt das auch, wir müssen vielleicht über ein Fach mal wieder diskutieren namens Medienkompetenz?
Pieper: Ich glaube, wir müssen im Bereich digitalen Lesens mehr machen, aber ich würde im Moment kein neues Fach einführen. Ich habe insgesamt das Gefühl, dass die Schulen besser damit fahren in den Strukturen, in denen sie arbeiten, verlässlich zu sein und verlässliche Ausstattung zu bekommen und da in Ruhe zu arbeiten.
Was man bisher darüber weiß, ist erstens – das merkt man auch selber schnell, wenn man googelt –, man muss sehr früh bewerten. Ich kriege eine Trefferliste, und ich muss sehr schnell entscheiden, mit welchem Treffer mache ich weiter. Vielleicht lag ich falsch, dann muss ich es schnell korrigieren. Ich bin die ganze Zeit am navigieren, das heißt, ich lese nicht mehr so sehr linear Zeile für Zeile, sondern ich lese mehr über Hypertexte, und ich arbeite mich durch diese ganzen Rahmen durch.
Lesekompetenz führt zu Medienkompetenz
Das heißt, ich muss extrem beweglich sein, mit meinem Vorwissen aktiv umgehen, und um dort zu Streich zu kommen, brauche ich eigentlich in höherem Maße alles das, was Leser und Leserinnen, die gut im Printlesen sind, auch brauchen. Die bisherigen Studien sind da ziemlich eindeutig: Diejenigen, die sehr gut lesen können, können das auch im digitalen Raum. Da wäre mein Schluss, in allererster Linie dafür zu sorgen, dass möglichst viele Schüler und Schülerinnen gut lesen können.
Gebert: Jetzt ist es ja nicht das erste Mal, dass die OECD die Lesekompetenz getestet hat. Welche Veränderung konnten Sie denn in den letzten Malen oder nach den letzten Malen feststellen? Hat das vielleicht auch eine positive Wirkung, dass es PISA gibt? Sie haben ja auch die Ausbildung der Lehrkräfte im Blick.
Pieper: Ja, ich würde schon sagen, es gibt eine sehr positive Auswirkung dahingehend, dass wir einfach eine hohe Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Lesekompetenz als Bildungsziel der Schule haben. Ich würde auch sagen, dass PISA erheblich dazu beigetragen hat, dass wir sehr viel differenzierter darauf gucken, was beim Textlesen passiert. Das ist für die Lehrerbildung zum Beispiel ein großer Schatz. Also wenn Studierende die Universität verlassen mit einem ordentlichen Wissen darüber, was mache ich eigentlich alles, wenn ich einen Text verstehe, dann ist die Chance, dass sie das im Unterricht differenzierter anleiten können, natürlich höher, als wenn dieses Wissen nicht da ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.