Daniel Heinrich: Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Herr Brakel, diese Operation der türkischen Streitkräfte, die Ausschreitungen gegen die Zeitung "Hürriyet", Anschläge auf Büros der kurdischen Partei HDP, Autos, Busse mit Kennzeichen aus kurdischen Gebieten werden mit Steinen beworfen, diese eskalierende Gewalt in der Türkei, bricht die türkische Gesellschaft da gerade auseinander?
Kristian Brakel: Prinzipiell ist es wahrscheinlich übertrieben, davon zu sprechen, dass die Gesellschaft schon kurz vorm Zusammenbruch oder vor dem Auseinanderbrechen stünde. Wir haben ja in der türkischen Gesellschaft, in der Türkei seit vielen Jahren eine politische Polarisierung, und das ist eigentlich Kennzeichen des türkischen politischen Systems. Diese Polarisierung, die sich ursprünglich zwischen Rechten und Linken, zwischen Konservativen, eher Religiösen und zwischen Säkularen abgespielt hat, die hat sich einfach in den letzten Jahren unter der jetzigen Regierung oder unter der AKP-Regierung immer weiter verstärkt. Die Kurden haben dabei lange Zeit eine Sonderrolle eingenommen und jetzt in den letzten Jahren hatten sie sich ja eigentlich eher an der Seite der AKP gesehen, wenn vielleicht auch nicht im Sinne einer wirklichen Verbrüderung, dann doch eher in dem Sinne, dass man hoffte, zusammen mit der AKP zu einem dauerhaften Friedensschluss kommen zu können. Das allerdings ist eine Vorstellung, von der man jetzt wieder abgerückt ist.
Heinrich: Sie haben es gerade angesprochen. Die AKP-Regierung, Ministerpräsident Davutoglu hat jetzt den Ton verschärft. Er hat gesagt, er will die PKK komplett auslöschen. Präsident Erdogan hat gesagt, der Staat und die Gesellschaft hätten eigentlich gar keine andere Wahl mehr. Jetzt war es ja jahrelang so, dass die AKP um Ausgleich in der Kurden-Frage bemüht war. Sie hat zahlreiche Reformen auch selber auf den Weg gebracht. Wie kommt das eigentlich, dass der Konflikt gerade jetzt wieder so eskaliert?
"Erdogan hält sich nicht an die Vereinbarungen seiner eigenen Regierung"
Brakel: Da gibt es einige Gründe für. Ein Hauptgrund ist sicherlich in den politischen Entwicklungen zu sehen, die rund um die Wahl, die ja im Juni stattgefunden hat, angesiedelt sind, wo der AKP die kurdischen Wähler in Scharen weggelaufen sind, die gesagt haben, das was ihr uns jahrelang verkauft habt, nämlich dass ihr einen dauerhaften Frieden, eine dauerhafte Lösung für die kurdische Frage erreichen wollt, das sehen wir jetzt nicht mehr. Die AKP-Regierung hat gerade im letzten Jahr eine sehr antikurdische Politik betrieben, indem sie sich ganz massiv gegen die Kurden in Syrien gestellt hat. Die PKK und die PKK-nahen Kräfte, die ja im kurdischen Teil des Landes sehr stark sind, werfen der Partei vor, ob jetzt berechtigt oder nicht, islamistische Gruppierungen auch gegen die Kurden in Syrien zu unterstützen.
Und dann last but not least: Die Ergebnisse, die im Friedensprozess erzielt worden sind - und man muss sich das klar machen, dass noch zu Anfang des Jahres ein sehr wichtiges Abkommen unterschrieben worden ist zwischen führenden Mitgliedern der Regierung und der kurdischen Opposition, das eigentlich festlegen sollte einen Fahrplan, wie man aus diesem Konflikt herauskommt. Man muss sich klar machen, dass dieser bedeutende Schritt nur wenige Wochen später, und zwar anscheinend unter dem Eindruck des Wahlkampfes, von Präsident Erdogan komplett zurückgewiesen wurde und er gesagt hat, dass er sich an diese Vereinbarung nicht länger gebunden fühlt, eine Vereinbarung, die seine eigene Regierung geschlossen hat.
Heinrich: Im November gibt es Neuwahlen. Die AKP braucht auch die kurdischen Stimmen. Werden die nicht einfach in Scharen weglaufen?
Brakel: Die AKP hat anscheinend eine durchaus riskante, aber möglicherweise schon realistische Kalkulation getroffen. Sie hat gesagt, das was uns bei den letzten Wahlen passiert ist - das hat ja sehr viel damit zu tun mit den Eigenheiten des türkischen Wahlsystems -, dass wir die absolute Mehrheit verpasst haben, nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit, die ist sehr schwierig zu bekommen, dass wir das verpasst haben, das hängt ja nur an ganz wenigen Abgeordneten. Wir haben hier so ein System: Der Sieger kriegt alle Stimmen in einem Wahlbezirk. Das bedeutet, wenn es uns wieder gelingt, in nur wenigen ausgewählten Wahlbezirken die Stimmen zurückzugewinnen und die Abgeordneten, die Parlamentssitze zurückzugewinnen, dann haben wir eine realistische Chance, zumindest wieder die absolute Mehrheit zu erreichen. Das versucht man jetzt und das ist natürlich einmal mit dieser Gewalt gegen die Kurden verbunden, indem man versucht, am rechten Rand Stimmung zu machen und dort bei den Nationalisten Stimmen zu gewinnen, aber auch, dass man versucht, die HDP, die ja dafür verantwortlich ist, dass die AKP so große Stimmverluste erlitten hat, dass man versucht, auch für Kurdinnen und Kurden gerade aus der Mittelschicht, die viel zu verlieren haben durch ein erneutes Aufflammen des Krieges, klar zu machen, dass die HDP im Prinzip der verlängerte Arm der PKK sei und dass es nur mit der AKP dauerhafte Stabilität geben kann.
"PKK wirkt nicht mäßigend auf den Konflikt"
Heinrich: Jetzt haben Sie die HDP schon angesprochen. Die haben 13 Prozent geholt bei den Wahlen im Juni, vor allem im linken und im intellektuellen Spektrum, und haben auch gepunktet, weil sie sich so stark zu Frieden und Pluralität bekannt haben. Jetzt hat der Parteiführer Selahattin Demirtas kürzlich seinen Deutschland-Besuch abgebrochen aufgrund der Ereignisse gerade in der Türkei. Haben Sie den Eindruck, dass der auf die PKK mäßigend einwirken kann?
Brakel: Bisher macht es leider nicht den Eindruck. Prinzipiell muss man natürlich sagen, es gibt in der kurdischen Bewegung diese Verbindung. Natürlich gibt es eine Verbindung zur PKK, von der PKK zur HDP. Die PKK macht aber auch immer wieder in öffentlichen Äußerungen und auch in ihren Taten ganz klar, wer da am längeren Hebel sitzt, und das ist sicherlich nicht die HDP. Die PKK sagt immer, sie fühlt sich nicht daran gebunden, was die HDP sagt. Die Befehlskette verläuft, wenn überhaupt es sie gibt, und man hat eigentlich bisher den Eindruck, es gibt sie nicht, anders herum. Der einzige, der in diesem ganzen Schlamassel versucht, mäßigend einzuwirken, ist wirklich Demirtas. Das wird ihm aber sowohl von der PKK vorgeworfen, die sagt, er wäre zu weich und er sollte sich doch eigentlich um seine eigenen Sachen kümmern, als auch von der Regierung, die sagt, die HDP ist die Stimme des Terrors und Demirtas wäre eigentlich derjenige, der hinter diesen ganzen Anschlägen stände. Beides ist natürlich völlig absurd. Es würde beiden Seiten sehr gut tun, wenn sie stärker auf die HDP hören würden.
Heinrich: Herr Brakel, kurz zum Schluss. Jetzt haben wir über die HDP und Erdogan gesprochen. Was ist eigentlich mit den Kemalisten und den Nationalisten?
Brakel: Die sind schon durchaus lautstark zu hören. Aber die Ausschreitungen, die wir jetzt in den letzten Tagen gesehen haben, gegen Büros der HDP, aber auch gegen Personen einfach, die auf der Straße wagen, sich in Kurdisch am Telefon zu unterhalten und daraufhin gelyncht werden, das sind ja nicht alles AKP-Befürworter. Es gibt in der Türkei weiterhin einen stark verbreiteten Nationalismus, einen Ultra-Nationalismus, und das sind durchaus auch nationalistische Befürworter, die da durch die Straßen ziehen und Jagt auf Kurden machen oder auf Leute, die sie verdächtigen, mit den Kurden unter einer Decke zu stecken.
Die Kemalisten sind auch nur zum Teil mäßigend. Wir wissen, dass sich zwar die CHP in den letzten Jahren gewandelt hat. Ihr Vorsitzender, Kilicdaroglu, hat auch durchaus aufgerufen zum Dialog, zur Mäßigung. Aber es gibt natürlich in der CHP auch sehr viele, die immer noch einen Groll gegen die Kurden, natürlich vor allem gegen die PKK hegen und die durchaus auch der Ansicht sind, dass Verhandlungen nicht unbedingt der beste Weg sind.
Heinrich: Das sagt Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Herr Brakel, haben Sie vielen, vielen Dank für das Gespräch.
Brakel: Sehr gern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.