Weniger ist mehr
Plädoyer für die kleine Kunst

Größer, exklusiver, teurer. Seit Jahren dreht sich die Spirale des Spektakels in der internationalen Kunstwelt entfesselt nach oben. Es wird also höchste Zeit, die vermeintlich kleine Kunst zu verteidigen, eine Kunst mit Augenmaß.

Von Hilka Dirks |
Besucher betrachten Bilder von Sigmar Polke bei der Internationalen Kunstausstellung Art Basel , in Basel, Schweiz, 13.06.2024.
Kleine Formate können uns herausfordern, genauer hinzusehen, uns auf etwas Überschaubares zu konzentrieren in einer reizüberfluteten Welt. (IMAGO / Hannelore Förster / IMAGO / Hannelore Foerster)
„Unlimited“ heißt die Sektion für solche Werke auf der weltweit wichtigsten Kunstmesse Art Basel – unlimitiert im Medium, im Format, im Preis. Bewegt man sich durch die Hallen voll Mega-Installationen, fällt es leicht, den Blick für kleine Kunst zu verlieren, sie zu marginalisieren oder gar zu belächeln, als Spielerei für Amateure und mittellose Sammleranfänger.
Doch was genau ist eigentlich die kleine Kunst? Und liegt in ihrer Geringschätzung nicht ein fundamentaler Irrtum unserer Zeit? Kleine Formate können uns herausfordern, genauer hinzusehen, innezuhalten in einer reizüberfluteten Welt. Ob mittelalterliche Miniaturmalerei, traditionelle Netsuke-Schnitzereien oder zeitgenössische Arbeiten von Künstlerinnen wie Majla Zeneli, Christiane Löhr oder Brook Hsu – kleine Kunst kann durch die in ihrer Beschränkung entstehende Konzentration ästhetische Kräfte bündeln, die weit über die physischen Dimensionen eines Werks hinausreichen.
Klein im Wert sind häufig Editionen, Druckgrafiken und Multiples. Dabei wohnt im Ursprungsgedanken der künstlerischen Editionskultur der große Gedanke der Demokratisierung. Ob die Jahresgaben der Kunstvereine, Vereinigungen wie Griffelkunst oder Editionsgalerien wie René Block, der in den 1960ern verkündete: „Dem Multiple gehört die Zukunft“ und sogar den Filzanzug Joseph Beuys' in Auflage verkaufte – in Editionen produzierte Kunst sollte zugänglich sein, erschwinglich und leicht verbreitbar.
Auch Klaus Staeck, der seine ironischen Kommentare zum politischen Zustand der BRD bis heute in Auflage vertreibt, würde wohl zustimmen, das Konzept der „Kleinen Literatur“ von Deleuze und Guattari auf die Editionskunst zu erweitern: Kleine Kunst würde sich demnach nicht durch ihr Format, sondern an ihrer revolutionären Sprachlichkeit und politischen Wirkkraft auszeichnen.
Während sich Kunstproduktion und -markt immer weiter von der Lebensrealität der meisten Menschen entkoppeln, scheint der Drang nach dem Leben mit der Kunst ungebrochen stark. In den letzten Jahren erleben Projekträume und neue kleine Initiativen eine Renaissance und drängen mit neuen Ideen zur niedrigschwelligen Vermittlung und zum Verkauf von Kunst nach vorne.
Vielleicht ist es an der Zeit, unseren Blick zu schärfen für das scheinbar Unbedeutende, das Übersehene, monetär Erschwingliche. In einer Epoche der Superlative könnte gerade die Hinwendung zum Kleinen, Subtilen, Zugänglichen eine revolutionäre Geste sein. Wir sollten der kleinen Kunst großen Platz einräumen, sie mitten ins Leben hineinrücken: nicht nur als Objekt der Bewunderung, sondern als Begleiter unseres Alltags.
Hilka Dirks, geboren 1991, arbeitet in und zwischen den Bereichen Text, Grafik, Kunst und Internet. Schockierend neugierig, wenn auch mäßig entfremdet, wuchs sie in Berlin-Steglitz auf, hörte Punk, klaute gelegentlich billige Lippenstifte bei Karstadt – und dachte irgendwie die ganze Zeit über Kunst nach. Heute forscht sie über Stickschrift auf textiler Aussteuer an der Universität der Künste in Berlin, schreibt und gestaltet mehr oder weniger regelmäßig für verschiedene Formate u.a. Der Tagesspiegel, Monopol, tazDie Tageszeitung, der Freitag, Cee Cee Berlin, DUMMY, FAZ Quarterly sowie diverse Künstler:innen und kommerzielle Projekte und zeigt ab und zu Video-Kunst im Karton, einem alten Container. 

Sonnenlicht sickert durch den riesigen kreisförmigen Schacht in der metallischen Decke des Gebäudes auf den Platz; es scheint über diesem zu schweben. Straßenbahnen fahren unter ihm entlang, Menschen steigen aus, steigen ein, strömen zu den seitlich gelegenen gläsernen Eingängen. Das architektonisch gebündelte Licht unterstreicht die Gewichtigkeit des Moments, es verleiht eine sakrale Ernsthaftigkeit.
Irgendwo zwischen post-postmodernem Raumschiff und James Turells Himmelsfenstern schraubt sich die blecherne Messearchitektur wie ein Vogelnest in die Wolken. Ich lege den Kopf in den Nacken und der weißgetupfte Junihimmel scheint ganz nah, ganz flach, ganz wie gemalt. Wie es wohl von oben aussieht? Wahrscheinlich ganz klein, so als würde man durch ein Loch in einen menschlichen Ameisenhaufen blicken. Gebaut wurde das Gebäude vom renommierten Architekturbüro Herzog & de Meuron.
Es ist Frühsommer 2024. Ich stehe auf dem Gelände des Baseler Messegebäudes, in dem dieser Tage wie jedes Jahr die Schweizer Urversion der weltweit expandierten, wichtigsten Kunstmesse „Art Basel“ stattfindet. Vom Menschenstrom mitgezogen lande ich sogleich in der größten Halle. „Unlimited“ heißt die hier ausgestellte Sektion, die sich auf 16.000 Quadratmeter erstreckt. Unlimitiert – im Format, Medium und Preis. Allein die schiere Größe der Werke suggeriert institutionelle Autorität. Während die Verkaufsabsicht in den benachbarten Hallen voller Galeriestände offensichtlich ist, rückt sie hier in den Hintergrund. Wer hat in seinem Wohnzimmer schon Platz für einen von Christo einpackten VW Käfer von 1961 oder die dutzenden weißen Fahnen, die Mario Ceroli 1968 unter dem Titel Progetto per la pace (Projekt für den Frieden) in einen Untergrund aus Erde und Heu steckte?
Seit Jahren dreht sich die Megaspirale der Kunstwelt entfesselt nach oben: Preisrekorde, Besucherrekorde, Presserekorde. Auch in der „Unlimited“-Halle überschlagen sich die Superlative. Die meisten der hier ausgestellten Werke sind groß, bunt, teuer. Sie erscheinen historisch wichtiger, technisch komplexer, diskursprägender, schlicht mit mehr Bedeutung aufgeladen als vieles andere auf der Messe. Um das Spektakel komplett zu machen, darf das Publikum abstimmen, einen Publikumspreis, den sogenannten „People‘s Pick“ der Sektion wählen. Ziellos verschlägt es mich in einen unscheinbar wirkenden eingebauten White Cube in der Halle. Wie Perlen auf einer unsichtbaren Schnur aufgereiht hängen hier kleine Malereien an den Wänden.
Ich trete näher. 48 bunte Zierfische starren mich an, umringen mich im Raum. Ein Tier pro Werk, in Öl auf Holz, montiert auf Gipsvorsprüngen, die aus der Wand herausragen. Keiner dem anderen gleichend schwimmen sie auf ihren quadratischen Flächen im Kreis um mich herum, als sei plötzlich ich das zu beobachtende Objekt im Trockenbauaquarium der Ausstellunghalle. „Guppy“ heißt die Arbeit der fotorealistischen, lebensgroßen Fische. Gemalt hat sie erst dieses Jahr der schweizerisch-chilenische Künstler Francisco Sierra, der sich in seinem Oeuvre zwischen Realismus und Surrealimus schwankend, mit Kitsch und Übersehenem auseinandersetzt – auch mit der menschengemachten Natur, wie die gezüchteten Aquarienfische auf den hier hängenden kleinen Bildern.
In den hohen Hallen der Art Basel fällt es leicht, die kleinen Formate zu übersehen, ja, den Blick für die Kleine Kunst an sich zu verlieren, sie zu marginalisieren oder gar zu belächeln, als Spielerei für Amateure und mittellose Sammleranfänger. Francisco Sierras Arbeit mag für letztere selbstverständlich nicht erreichbar sein, liegt das Konvolut der 48 Gemälde, schließlich preislich im unteren sechsstelligen Bereich, wie die Galerie Von Bartha erklärt, die Sierra vertritt. Und trotzdem hinterlässt mich die Installation, deren bescheidene Formate mich im Ameisenhaufen der gigantischen Messe hat innehalten lassen, nachdenklich.
Im realen Sinne scheinen sich Kunstproduktion und Kunsthandel von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt zu haben. Riesige Installationen und monumentale Werke dominieren die Halle, den Markt, die Museen und die Berichterstattung. Dabei haben doch so viele Menschen den Wunsch, mit Kunst im Alltag zu leben, zumindest lassen das die Besucherzahlen der Kunstmessen und ‑events dieser Welt vermuten. Wäre Kleine Kunst nicht also eigentlich eine Alternative, die sowohl räumlich als auch finanziell zugänglicher sein könnte? Doch was genau soll das eigentlich sein, Kleine Kunst? Und liegt in ihrer vermeintlichen Geringschätzung nicht ein fundamentaler Irrtum unserer Zeit?
Kleine Formate können uns herausfordern, genauer hinzusehen, uns auf etwas Überschaubares zu konzentrieren in einer reizüberfluteten Welt. Die Tradition formal begrenzter Größe in der Kunst – die Miniaturen – reicht weit zurück in die Geschichte der Kunst.
Miniaturmalerei bezeichnet unter anderem die im Frühmittelalter aufkommenden prachtvollen Illustrationen für Handschriften und Gebetbücher, die in Klöstern in mühevoller Feinarbeit geschaffen wurden. Mit feinsten Pinseln und kostbaren Pigmenten wurden auf wenigen Quadratzentimetern Pergament detailreiche Szenen zum Leben erweckt. Häufig mit Gold und Schlagmetall verziert, entfalteten diese winzigen Kunstwerke eine erstaunliche Leuchtkraft. Während mittelalterliche Miniaturen oft religiöse Themen illustrierten, entwickelte sich ab der Renaissance mit dem Aufkommen der Portraitmalerei insbesondere in Mittel- und Nordeuropa auch die Kunst der Bildnisminiaturen. Oft auf Elfenbein gemalt und in dekorative Rahmungen gefasst dienten sie dem privaten Gebrauch. Die Künstler arbeiteten mit verschiedenen Techniken wie Aquarell, Gouache oder Emaille, um auf kleinstem Raum, oft nur sechs bis zehn Zentimeter groß, detailreiche und ausdrucksstarke Bildnisse zu schaffen. Trotz – oder wegen? – ihrer geringen Größe waren Bildnisminiaturen insbesondere beim Adel und dem aufkommenden wohlhabenden Bürgertum sehr begehrt. Denn die Miniaturen waren schließlich nicht nur Kunstwerke, sondern auch intime Objekte, die auf Reisen mitgeführt werden konnten, teils aufgetragen auf Medaillons oder Dosen, gerahmt, versteckt und geschützt. Häufig entstanden sie als Auftragsarbeiten, zeigten Angehörige oder Angebetete, zuweilen auch Allegorien, mythologische oder sogar erotische Motive. Erst mit der sich immer weiter entwickelnden Technik der Fotografie sank die Verbreitung der kleinen Malereien, deren Beliebtheit jedoch bis heute bei Sammlern ungebrochen ist.
Francisco Sierra jedenfalls scheint sich in seiner Baseler Installation in die Tradition der Bildnisminiaturen zu stellen. Nicht nur das Format, auch die sie zierenden Motive der artifiziell gezüchteten Zierfische, ebenfalls beliebte – wenn auch lebende – Sammlerobjekte, verweisen darauf. Er ist damit lange nicht allein. Auch die 1987 geborene amerikanisch-taiwanesische Malerin Brook Hsu verwendet in ihrem Werk immer wieder die kleinen Formate klassischer Miniaturmalerei, wobei sie nicht vor Abschnitten von Bauholz als Malgrund, Industrieteppichen, Tinte und anderen eher unkonventionellen Materialien zurückschreckt. Sogar die von Hsu gern genutzten leuchten grünen Farbtöne zeugen von Eigenwilligkeit und Mut – erzählen sich doch Galeristen auf der ganzen Welt hinter vorgehaltener Hand immer wieder, dass sich grüne Bilder am schlechtesten verkaufen würden.
In Brooks Hsus transparent grünlichen Motiven finden sich autobiografische und mythopoetische Elemente, Zitate aus Kunstgeschichte, Film und Literatur. Meist figurativ erzählen ihre Arbeiten Geschichten von Liebe und Schmerz, sind durchaus geprägt von Barock, Romantik und Symbolismus, Kunstströmungen, die sich gern der Miniaturen bedienten. Nur wenige Monate vor Sierras Installation auf der Art Basel stellte auch Brook Hsu eine Serie kleiner Malereien im ehemaligen Oratorium der römischen Galerie Sant‘ Andrea de Scaphis aus, die die Besuchenden wie ein grünes Band umringten. Zusammengesetzt aus 24 aneinander gereihten Gemälden schlängelte sich die Installation über die Betonwände bis zu den Resten eines profanisierten Altars, der längst seine Verzierungen verloren hat. Landschaften, ins Format gespannte Totenschädel, Skelette und Portraits breiteten sich auf dem hölzernen Malgrund aus. Wie bei Sierras Fischen erforderte die Dechiffrierung des Bildes das physische Herantreten. Wäre man im Raum verharrt, die Feinheit der Motive hätte sich in der Entfernung verloren, wäre lediglich als rauschende grüne Linie an den Wänden in Erinnerung geblieben. Hsus verhandelte Themen sind intim, privat – wie die persönlichen Bildnisminiaturen der Kunstgeschichte. Ihr Format zwingt die Betrachtenden dazu, ihre körperliche Distanz zum Werk aufzugeben – und erzeugt so Konzentration auf und Auseinandersetzung mit dem Bild. Es verwundert nicht, dass sich besonders Brook Hsus kleine Arbeiten auf dem Kunstmarkt großer Beliebtheit erfreuen sollen.
Wenige Tage nach meinem Besuch der Art Basel lese ich, dass Francisco Sierras „Guppies“ tatsächlich den „People‘s Pick“ Preis der Art Basel Unlimited gewonnen hat. Ich bin ganz erstaunt, der Raum war so leer, als ich ihn entdeckte, die Smartphone-Dichte doch vor so vielen anderen Arbeiten viel größer? Die kleine Kunst scheint zu verfangen, denke ich und hoffe gleichzeitig, dass es nicht nur am mittlerweile angelernten kleinen Format des Telefonscreens liegt. Vielleicht haben wir doch auch alle einfach die Schnauze voll vom Spektakel? Von größer, höher, weiter? Von schon-lange-online-gesehen bevor mal in-echt davorstehen? Vielleicht sehnen wir uns im digitalen Zeitalter nach tatsächlicher Intimität und Nähe, nach diesem Etwas, was zwischen Werk und Rezipient nur bei genauester Betrachtung entstehen kann. Nach einer Beziehung zur Kunst, so eng, wie der Philosoph Walter Benjamin sie mit seinem „Angelus Novus“, einer aquarellierten Zeichnung des Malers Paul Klee, geführt hat?
Knapp 32 hoch und gute 24 Zentimeter breit misst die Arbeit wenig mehr, als ein DIN A4-Papier. Ein Fabelwesen – irgendwo zwischen einem Löwen und einem Vogel – erhebt auf ihm die Hände – oder sind es Flügel? Die Augen blicken aus dem Bild heraus, doch ist es dem Betrachter unmöglich, den Blick einzufangen; der Mund der Kreatur ist geöffnet und entblößt spitze Zähne. Sehen wir Erstaunen oder Schrecken? Ergibt der Engel sich? Geht er rückwärts oder vorwärts oder bleibt er schützend stehen? Lediglich die dunklere Farbfläche der Ränder deutet einen Raum, eine Perspektive an. Paul Klees „Neuer Engel“, wie Benjamin den Titel übersetzte, könnte auch ein „junger Engel“ sein, gehörte die Zeichnung doch ursprünglich zu einer Werkgruppe des 1871 in der Schweiz geborenen deutschen Malers Paul Klee, der diese als Wesen „Im Vorzimmer der Engelschaft“ beschrieb.
Benjamin erwarb die Zeichnung 1921 und hängte sie in sein Arbeitszimmer und als er 1933 vor den Nationalsozialisten ins Exil nach Paris flieht, muss er den „Angelus Novus“ zurücklassen. Zwei Jahre später gelingt es Freunden, ihm die Arbeit nach Frankreich zu bringen. Benjamin erwähnt das Werk bis zu seinem Tod 1940 immer wieder in Gesprächen und Texten – auch in seinen letzten, den „Thesen über den Begriff der Geschichte“, in dem Benjamin ihm seinen wohl berühmtesten Beinamen, den „Engel der Geschichte“ gibt. Auffällig und eindrücklich an der konstanten Erwähnung der Zeichnung, welche dem Philosophen als Meditationsbild und Reflexionsanlass diente, ist die Wandlung seiner Deutung und Bedeutung im Verlauf der Zeit. So viel kann ein einzelnes Kunstwerk dem Menschen also sein Leben lang geben.
Vor dem Hintergrund der Legende des Philosophen und seinem Engel verwundert es wenig, dass es ausgerechnet Walter Benjamin war, der den theoretischen Grundstein für die Mystifizierung des künstlerischen Unikats, quasi den gedanklichen Ursprung des heutigen groß-bunt-teuer des Kunstmarkts niederschrieb. 1935 verfasste Benjamin im Pariser Exil seinen legendären sogenannten Kunstwerke-Aufsatz unter dem Titel „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Ob der „Angelus Novus“ während dessen wohl schon wieder über seinem Schreibtisch hing? In der schmalen Abhandlung untersucht Benjamin, wie technologische Innovationen wie Film und Fotografie die Natur der Kunst, ihre Wahrnehmung und ihre soziale Funktion grundlegend verändern, und er weist auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Chancen und Gefahren hin, die durch die Möglichkeit zur massenhaften Vervielfältigung von Kunstwerken, der neuartigen Darstellung der Realität und die daraus entstehende Veränderung kollektiver Wahrnehmungen entstehen können. So könnten die hieraus erwachsenden neuen Formen kollektiver Ästhetik einerseits zu einer größeren gesellschaftlichen Selbstermächtigung führen, andererseits jedoch auch zu politischer Instrumentalisierung missbraucht werden, wie auch der Aufstieg des Faschismus zeigen würde.
Insbesondere jedoch stellt Benjamin die These auf, dass die technischen Entwicklungen der Reproduzierbarkeit zum Verlust der Einzigartigkeit – der „Aura“ eines Kunstwerkes führen würden.
Walter Benjamins Begriff der Aura ist zu einem viel aufgerufenen Schlagwort der Kunst geworden. Wie oft schon habe ich es gelesen? In mehr oder weniger wissenschaftlichen Ausstellungstexten und Kritiken, aufgeschnappt in Konversationen auf Eröffnungen, ja ab und zu habe ich das auch selbst schon als verzweifelten Kompromiss in die Tasten meines Laptops getippt, wenn ich nach Worten suchte, die doch nie ausreichten, um eben dieses Gefühl zu beschreiben, welches entstehen kann, wenn sich ein im Original erlebtes Kunstwerk in Herz und Hirn fräst. Aber gibt es die Aura wirklich? Braucht man sie? Können sich nicht auch reproduzierte Werke wie Auflagen und Editionen unwiederbringlich im Geist festsetzen? Ist die Aura nicht vielleicht eher so etwas wie der Placeboeffekt der Kunst?
Benjamin definiert sie lieber als „einmalige Erscheinung der Ferne, so nah sie sein mag“. Neben der Überwindung des Einmaligen benennt er übrigens auch den zu seiner Zeit von ihm ausgemachten zunehmenden gesellschaftlichen Drang, „die Dinge räumlich und menschlich näher zu bringen“, als treibende Kräfte ihres Verfalls, welche sich auch im Bedürfnis nach Besitz äußert – im Notfall eben auch im Besitz einer Reproduktion. Seine eigene beständige physische Nähe zu Paul Klees „Angelus Novus“ jedoch scheint für Walter Benjamin die auratische Wirkung der Zeichnung nicht zu beeinträchtigen.
Doch kann man dieses Werk, welches nach Benjamins Ableben von Georges Bataille versteckt wurde und anschließend über Umwege von Theodor W. Adorno zu Gershom Scholem gelangte und mittlerweile im Jerusalemer Israel-Museum hängt, aber überhaupt als Kleine Kunst bezeichnen?
„Kennst du das Konzept der Kleinen Literatur?“ fragt mich meine beste Freundin, als ich meine Gedanken mit ihr teile: „Das könnte auf Paul Klee gut zutreffen.“ Ich schüttle innerlich beschämt den Kopf und tue außen ein bisschen so, als würde ich ungefähr wissen, was sie meint. Sie erklärt es mir trotzdem: Auf Überlegungen Franz Kafkas basierend, der sich als deutschsprachiger, in Prag lebender Jude dafür entschied, nicht auf jiddisch oder tschechisch, sondern auf Deutsch zu schreiben, begründen die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Theorie der Kleinen Literatur. Diese kennzeichnet sich durch die Deterritorialisierung der Sprache, die Verbindung des Individuellen mit dem unmittelbar Politischen und die Reflektion kollektiver Erfahrungen anstatt individueller Geschichten. Somit gibt sie marginalisierten Gruppen, für die Kafka hier steht, eine Stimme und stellt damit die dominanten kulturellen Mehrheitsnarrative in Frage. Bei Deleuze und Guattari „qualifiziert das Adjektiv ‚klein‘ nicht mehr bloß bestimmte Sonderliteraturen, sondern die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ‚großen‘ (oder etablierten) Literatur befindet.“
Vielleicht könnte die Kleine Kunst also eine sein, die sich nicht durch ihr Format oder ihren Preis bemisst, sondern an ihrem revolutionären Ausdruck und ihrer politischen Wirkkraft. Der Verleger und Satiriker Klaus Staeck kommt mir in den Sinn, der schon ein halbes Jahrhundert lang seine Kommentare zum Zustand Deutschlands auf Plakaten, Postkarten und anderweitigen Druckwaren vertreibt, oft lediglich zum Produktionspreis, um seine Botschaften so weit wie möglich zu verbreiten. Staeck verlegt jedoch nicht nur seine eigenen Werke. Auch Editionen und Multiples, also vielfach in Auflagen festgelegter, limitierter Anzahlen reproduzierte Kunstwerke anderer Künstlerinnen und Künstler lassen sich bis heute bei Edition Staeck erwerben. Bewegt sich der Mauszeiger auf der Webseite des Editionsverlags auf den Menüpunkt „Künstler*innen“ erscheinen drei Reiter: Alle, Joseph Beuys, Klaus Staeck.
Ich klicke auf „Alle“ und so viele deutsche Nachkriegskünstlerinnen und -künstler erscheinen, dass „Alle“ wirklich das passende Wort dafür ist. Editionen, Multiples, Plakate, signierte Postkarten, zum Beispiel von Yoko Ono. Sie kostet 80 Cent. Auffällig ist, dass es sich jedoch fast ausschließlich um Werke älterer oder schon verstorbener Künstlerinnen und Künstler handelt. Das mag einerseits an Staecks eigenem Alter liegen. Andererseits werden vielleicht auch nicht mehr so viele Editionen wie früher hergestellt. Auch in der Kunstproduktion gibt es schließlich Trends. Wollten die Künstler der 60er und 70er Jahre nicht auch durch zugängliche, reproduzierte Werke die Kunst demokratisieren?
In der Hoffnung, ein paar Antworten zu finden, treffe ich den 1942 geborenen Kuratoren, Galeristen, Kunstverleger und Sammler René Block in den Räumlichkeiten der Edition Block in der Prager Straße in Berlin-Schöneberg. Schließlich war er es, der beschwor „Dem Multiple gehört die Zukunft“, als er 1966 seine Editionsgalerie gründete. Block war Leiter der Abteilung „Bildende Kunst“ des Berliner DAAD, Direktor des Kasseler Fridericianums und Kurator diverser Biennalen und Ausstellungen auf der ganzen Welt. Er gilt als eine Legende der deutschen Kunst, stellte als einer der ersten Gerhard Richter aus, ließ Joseph Beuys in seiner New Yorker Dependance in den 70ern für die Aktion „I like America and America likes me“ mit einem Kojoten übernachten. Wir sitzen über schwarzem Kaffee an einem runden Tisch in den Räumen der Edition Block, umgeben von den Arbeiten des Programms, fast alles Objekte. In der Ecke kringelt sich ein von Ceal Floyer geschreddertes und linear zusammengetackertes DIN A4-Papier unter einer Acryl-Glashaube auf einem Sockel. Auflage 7+2 Artist Proofs, zwei Exemplare die beim Künstler, bei der Künstlerin verbleiben. Ein eindeutiges Werk der Kleinen Kunst, in jedem erdenklichen Sinne.
„Herr Block, glauben Sie an die Aura?“ René Block überlegt kurz. Zögerlich nickt er: „Ja. Ich bin ja auch Sammler.“ Das Unikat verfängt also doch anders. Wie als Beweis erzählt er mir die Geschichte eines seiner größten Erfolge: Gemeinsam mit Joseph Beuys, der auch schon so prominent auf dem Internetauftritt der Edition Staeck zu finden war, verlegte auch Block diverse Multiples – also in Auflage produzierte Objekte. Auf dem Kölner Kunstmarkt 1969 präsentierten sie das Auflagenobjekt Schlitten, bestehend aus 50 konventionellen Holzschlitten, auf denen Beuys jeweils eine Filzdecke, eine Stabtaschenlampe und ein Fettobjekt befestigte. Alle Exemplare waren nummeriert und gestempelt, jedoch unsigniert. Der Preis: 300 DM. Die Edition bezog sich auf die zeitgleich von Block ausgestellte Beuys-Installation Das Rudel (The Pack), bestehend aus einem alten VW-Bus und 24 aus dem Heck springenden, präparierten Schlitten. Block orientierte sich beim Preis des Unikats symbolisch an den hochbezahlten Künstlern der amerikanischen Pop Art Robert Rauschenberg und Andy Warhol, bepreiste die Arbeit mit damals unerhörten 110.000 DM – und verkaufte sie. Im „Preisunterschied zwischen Unikat und Auflage wurde noch einmal der demokratische Aspekt der Vervielfältigung deutlich gemacht“. Dieser überzeugte Block so sehr, dass er sogar eine Fachmesse für multiplizierte Kunst ausrichtete. Das sollte mal wieder jemand machen, finde ich.
Die demokratischen Aspekte der Kunst, die zugänglichen, erschwinglichen und leicht verbreitbaren, vielleicht sind sie die Kennzeichen einer Kleinen Kunst, die als Konzept ähnlich wie die Kleine Literatur als Werkzeug für soziale Veränderungen dienen könnte. Nicht nur Klaus Staeck und René Block hielten diese Ideale hoch, auch die zahllosen Kunstvereine, die sich in Deutschland schon seit dem 18. Jahrhundert entwickelten, verfolgten und verfolgen zu jeder Zeit die Ziele, dem Bürgertum demokratischen und freien Zugang zur Kunst und ihren Diskursen zu ermöglichen. Aus den Bilderlotterien und Monatsblättern der Vereinskultur, durch die einzelne Kunstwerke an die Mitglieder distribuiert werden, entwickelte sich über die Jahrzehnte die Tradition der Jahresgaben – Editionen, von Künstlerinnen und Künstlern, die mit den Vereinen verbunden sind und meist mit ihnen ausgestellt haben und die für Mitglieder zu Vorzugspreisen erhältlich sind. Dies wird von den meisten Kunstvereinen bis heute praktiziert. Auch die 1925 vom Volksschullehrer Johannes Böse im Geiste der Kunsterzieherbewegung gegründete und überregional bekannte Griffelkunst-Vereinigung Hamburg hatte von Anbeginn das Ziel, ihren rund 4.500 Mitgliedern durch niedrigpreisige Druckgrafiken die Begegnung mit der Kunst auch außerhalb des Ausstellungsraumes zu ermöglichen. Der clubartige Verbund stellt seinen Mitgliedern ausgewählte Druckgrafiken und Fotografien zum Erwerb bereit. Anders als bei Block, Staeck und Co werden die Arbeiten zwar signiert, jedoch nicht nummeriert. Sie werden so um einen weiteren originären Aspekt beraubt, kreisen doch auch um die Nummerierungen der Editionen sonst häufig Begehrlichkeiten.
Zuletzt startete sogar eine Gruppe Berliner das Tattoo-Editions-Start-Up „Works-On-Skin“ mit Motiven, die sogar direkt unter die Haut gehen sollen. Wer träumte nicht schon immer von Timm Ulrichs‘ Unterschrift auf dem Fußgelenk? – Um nur ein Motiv zu nennen.
Auf dem Nachhauseweg durch das graue Berlin gucke ich im Kreuzberger Kunsthaus Bethanien vorbei. Hier eröffnen heute Abend die „Anonymen Zeichner“. Die Initiative der Künstlerin Anke Becker existiert seit vielen Jahren. Für die Ausstellungen im Abstand von etwa zwei Jahren senden Menschen ihr Zeichnungen ein, sie wählt aus. Jede ausgewählte und ausgestellte Arbeit ist für 250 € erhältlich – jedoch wird der Name der Künstlerin erst nach Kauf enthüllt und dort an die Wand geschrieben, wo das ungerahmte Blatt vorher hing. Demokratisierung auch hier, aber anders. Keine Namen, kein Googlen, keine Preisvergleiche, kein Kult. Trotzdem ist es brechend voll im ehemaligen Kinderkrankenhaus auf dem Mariannenplatz, die Leute drängeln sich vor mehr als 1.000 Zeichnungen. – Suchen hier etwa alle ihren ganz eigenen „Angelus Novus“? Es scheint: Auch die Kleine Kunst will ab und zu ein bisschen Unikatcharakter, ein bisschen Aura. „Ich will das uuuuuuunbedingt kaufen“, sagt eine Frau neben mir und zeigt auf ein mit wenigen schnellen Linien gezogenes Bleistiftportrait. Das Konzept der Anonymen Zeichner funktioniert offensichtlich, die Nähe weckt Begehrlichkeiten, vielleicht fällt auch die Identifikation mit dem Werk leichter, wenn man ganz didaktisch das Künstlergenie versteckt.
„Ich hab‘ gehört, Neo Rauch hat auch mal was eingereicht“, erzählt jemand seiner Begleitung mit hörbarer Erregung in der Stimme. Nun gut, ein bisschen Lust am Spiel liegt wohl auch in der Luft. Die Fantasie, dass der eigene Geschmack der richtige ist, sich die erworbene Zeichnung als der Sechser im Lotto herausstellt, so wie damals, als jemand mal einen echten Egon Schiele auf dem Flohmarkt für zwei Euro… na Sie wissen schon. Und das funktioniert am Ende vielleicht ein bisschen wie der Art Baseler „People‘s Pick“, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab. Und doch war die Stimmung anders, die Menschen engagierter, begeisterter. Wie kann es sein, dass 1.000 ungerahmte Stücke Papier die Menschen mehr berühren als all diese gewichtigen Werke in der riesigen Messehalle?
Das muss sie sein, die Kleine Kunst. Ich bin froh, dass es sie gibt, dass sie unseren Blick schärft für das scheinbar Unbedeutende, das Übersehene, monetär Erschwingliche. Diese Hinwendung zum Bescheidenen, Zugänglichen erscheint mir als genau die revolutionäre Geste, die unsere Zeit braucht. Wir sollten der Kleinen Kunst großen Platz einräumen, sie mitten ins Leben hineinrücken: nicht nur als Objekt der Bewunderung, sondern als Begleiter unseres Alltags, so wie Walter Benjamin es einst tat.
Als ich erschöpft nach Hause komme, blättere ich mich nach einer Pause von der ganzen Kleinen Kunst sehnend auf dem Sofa durch den Hochglanzkatalog der Contemporary Sektion der aktuellen Winterauktion des Kölner Auktionshauses Van Ham. Hier gibt es nur groß-bunt-teuer, das Cover ziert eine Neonarbeit der Britischen YBA-Künstlerin Tracey Emin. Ich schlage die Seite des LOTs auf: Schätzpreis 30.000 – 40.000 € steht da. Und: „Zu diesem Werk liegt ein von der Künstlerin unterschriebenes Zertifikat des Kölnischen Kunstvereins von November 1999 vor.“ Darunter ein Foto der Arbeit: Auf ihm formen geschwungen violette Neonlettern aus Tracey Emins Handschrift die Worte: JUST LOVE ME und beantworten so ganz subtil alle Fragen, die man zur Kleinen Kunst noch haben könnte.