Ein Vorurteil muss man gleich zu Beginn ausräumen. Tony Judts letztes Buch "Das vergessene 20. Jahrhundert" ist keine Geschichte des politischen Denkens. Auch wenn man das angesichts des deutschen Untertitels und der Verlagswerbung vermuten könnte. Hier sind vielmehr Buchrezensionen und Essays zusammengefasst, die Judt in den Jahren 1994 bis 2006 geschrieben hat, vorwiegend für amerikanische Zeitschriften. In der Einleitung rückt der Autor ein Thema besonders in den Blickpunkt: die Frage danach, wie man ein Gemeinwesen gestalten soll.
Die Wirtschaft erlebt rasante Umwälzungen; aber die damit einhergehenden sozialen Transformationen brauchen viel länger. Es ist die Kluft zwischen wirtschaftlichem Wandel und sozialer Anpassung, die – in Analogie zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts – die entscheidende Frage unserer Zeit geworden ist.
Und Judt erinnert daran, welchen Sprengstoff jene soziale Frage beinhaltete: Auch im Westen schwang die Angst vor Revolutionen und Umstürzen bei vielen mit. Sie war eine Triebfeder des Antikommunismus – vor 1989. Aber:
Waren die Verhältnisse wirklich so einmalig, dass wir sicher sein können, das grandiose Projekt Revolution werde die Menschen nicht noch einmal in seinen Bann ziehen? Wird die strahlende Hochebene namens "Frieden, Demokratie und Marktwirtschaft" ewig Bestand haben?
Erste Alarmzeichen hat Judt bereits ausgemacht: Heilslehren fänden wieder Resonanz – seien sie religiöser oder politischer Natur. Der Autor stellt seinen Denkansatz dagegen:
In dieser Situation kann es nicht schaden, noch einmal zu fragen, wie ältere Generationen im 20. Jahrhundert auf durchaus vergleichbare Situationen reagiert haben. Wir würden – genau wie sie – feststellen, dass Sozialleistungen und gewisse Maßnahmen gegen allzu große Einkommens- und Vermögensungleichheiten schon an sich wichtige ökonomische Variablen sind, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft stärken und wirtschaftliches Vertrauen fördern. Und dass nur der Staat die Mittel und die Autorität hat, diese Dinge in unser aller Namen zu gewährleisten.
Was geschieht, wenn der Staat diese Rolle nicht wahrnimmt, das verdeutlicht Judt am Beispiel Belgiens und Großbritanniens: Den Briten wirft er vor, mit einer maßlosen und geschichtsvergessenen Deregulierungspolitik ihr Gemeinwesen geschädigt zu haben. Und die Belgier erreichten dasselbe, indem sie Kompetenzen des Zentralstaates ohne Sinn und Verstand auf flämische und wallonische Regionen verteilten. – Judts Plädoyer für den Wert des Staates ist der erste Schwerpunkt des Buches und zugleich eine seiner Stärken. Die zehn Essays zu politischen Denkern hingegen wirken etwas zusammengewürfelt: Es geht um Arthur Koestler ebenso wie um Hannah Arendt und Albert Camus oder Eric Hobsbawm. Ausgesprochene Spezialstudien hat man hier vor sich – sie sind etwas für Leser, die sich mit den einzelnen Protagonisten bereits gut auskennen. Wohl sind die Texte für sich sehr kenntnisreich und durchaus anregend geraten. Mehr bietet aber der zweite Schwerpunkt des Buches: drei Texte zum Nahostkonflikt. Der in London geborene Jude Tony Judt schreibt auch den Israelis unangenehme Wahrheiten ins Stammbuch. Nach dem Krieg von 1967 habe das Land die entscheidenden politischen Chancen versäumt:
Das war die Ironie des gewonnenen Sechstagekrieges: Es war der einzige militärische Erfolg, der Israel die Chance bot, die Verhältnisse im Nahen Osten zum allseitigen Vorteil neu zu ordnen. Doch das Ausmaß des Sieges schien den Politikern alle Fantasie und allen Verstand zu rauben.
Und so stehe Israel heute vor einem einzigen Scherbenhaufen seiner Politik. Jerusalem, so folgert Judt, müsse endlich das Ruder herumreißen und alle Illusionen über Bord werfen – noch sei es nicht zu spät. Israels letzte Schutzmacht wiederum, die USA, ist Thema des dritten Schwerpunktes in diesem Buch, gut 100 Seiten lang. Er setzt sich nicht nur mit einer aus Judts Sicht einseitigen und damit kurzsichtigen Nahost-Politik auseinander. Der Autor analysiert auch Washingtons Vorgehen während der Kuba-Krise 1962; und er befasst sich ausführlich mit der Weltpolitik Richard Nixons und Henry Kissingers. Entgegen dem landläufigen Klischee sei die geprägt gewesen von mangelnder Weitsicht, persönlichen Animositäten und Ignoranz gegenüber Verhältnissen auf anderen Kontinenten. An den Folgen etwa im Nahen und Mittleren Osten trage Amerika noch heute schwer. Bei solcher Kritik an neorealistischer Weltpolitik und am Denken konservativer Kreise in den USA bekam Judt jenseits des Atlantiks oft den Vorwurf zu hören, er sei ein Sozialist. Aber mit dieser Ideologie – die das 20. Jahrhundert so prägte – rechnet der Autor schonungslos und treffend ab.
Die Werte und Institutionen, die für die Linke von Anfang an wichtig waren – von der allgemeinen Gleichberechtigung bis hin zu staatlichen Dienstleistungen – sie verdanken sich nicht dem Kommunismus. Siebzig Jahre "real existierender Sozialismus" haben nichts, aber auch gar nichts zur Verbesserung des menschlichen Daseins beigetragen.
Haben sie das – so könnte man einwenden – nicht zumindest indirekt getan, indem sie den Westen bis 1989 davon abhielten, Marktwirtschaft in ihrer zügellosen – ihrer asozialen – Form Wirklichkeit werden zu lassen? Tony Judt hätte vermutlich geantwortet, dass man das auch um einen geringeren Preis hätte erreichen können.
Der Kommunismus hat das linke Erbe gründlich entstellt und verunstaltet. Wenn heute nirgendwo eine überzeugende Vision von Fortschritt und Gerechtigkeit entwickelt wird, dann ist das in erster Linie auf Lenin und seine Nachfolger zurückzuführen, die den Brunnen vergiftet haben.
So versucht Judt gar nicht, dem Leser eine eigene Vision von Fortschritt und Gerechtigkeit aufzutischen. Auch seine Vorstellung von einer Rolle des Staates beschreibt er nicht konkreter, sondern tritt ganz allgemein für Balance ein: von staatlichem Einfluß und Handlungsspielraum des einzelnen.
Heute wissen wir, dass ein gewisser Liberalismus, der ein Maximum an Freiheit und Eigeninitiative in allen Lebensbereichen garantiert, der einzig mögliche Weg ist.
Tony Judts letztes Buch ist das Grundsatzplädoyer eines Denkers, dessen Tod einen Verlust für die politische Publizistik bedeutet. Judts Vermächtnis in Gestalt seiner Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart fällt sozial-liberal aus: Die Politik, die ihm vorschwebt, ist pragmatisch, frei von nationalen oder gesellschaftlichen Ideologien, dafür im besten Sinne humanistisch. Um kommenden Generationen den Weg in ein Jahrhundert zu bahnen, das lebenswerter gerät als das bislang blutigste und menschenverachtendste: das 20. Jahrhundert.
Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert – Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, erschienen im Hanser Verlag, 27 Euro 90, 480 Seiten, ISBN 9783446235090.
Die Wirtschaft erlebt rasante Umwälzungen; aber die damit einhergehenden sozialen Transformationen brauchen viel länger. Es ist die Kluft zwischen wirtschaftlichem Wandel und sozialer Anpassung, die – in Analogie zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts – die entscheidende Frage unserer Zeit geworden ist.
Und Judt erinnert daran, welchen Sprengstoff jene soziale Frage beinhaltete: Auch im Westen schwang die Angst vor Revolutionen und Umstürzen bei vielen mit. Sie war eine Triebfeder des Antikommunismus – vor 1989. Aber:
Waren die Verhältnisse wirklich so einmalig, dass wir sicher sein können, das grandiose Projekt Revolution werde die Menschen nicht noch einmal in seinen Bann ziehen? Wird die strahlende Hochebene namens "Frieden, Demokratie und Marktwirtschaft" ewig Bestand haben?
Erste Alarmzeichen hat Judt bereits ausgemacht: Heilslehren fänden wieder Resonanz – seien sie religiöser oder politischer Natur. Der Autor stellt seinen Denkansatz dagegen:
In dieser Situation kann es nicht schaden, noch einmal zu fragen, wie ältere Generationen im 20. Jahrhundert auf durchaus vergleichbare Situationen reagiert haben. Wir würden – genau wie sie – feststellen, dass Sozialleistungen und gewisse Maßnahmen gegen allzu große Einkommens- und Vermögensungleichheiten schon an sich wichtige ökonomische Variablen sind, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft stärken und wirtschaftliches Vertrauen fördern. Und dass nur der Staat die Mittel und die Autorität hat, diese Dinge in unser aller Namen zu gewährleisten.
Was geschieht, wenn der Staat diese Rolle nicht wahrnimmt, das verdeutlicht Judt am Beispiel Belgiens und Großbritanniens: Den Briten wirft er vor, mit einer maßlosen und geschichtsvergessenen Deregulierungspolitik ihr Gemeinwesen geschädigt zu haben. Und die Belgier erreichten dasselbe, indem sie Kompetenzen des Zentralstaates ohne Sinn und Verstand auf flämische und wallonische Regionen verteilten. – Judts Plädoyer für den Wert des Staates ist der erste Schwerpunkt des Buches und zugleich eine seiner Stärken. Die zehn Essays zu politischen Denkern hingegen wirken etwas zusammengewürfelt: Es geht um Arthur Koestler ebenso wie um Hannah Arendt und Albert Camus oder Eric Hobsbawm. Ausgesprochene Spezialstudien hat man hier vor sich – sie sind etwas für Leser, die sich mit den einzelnen Protagonisten bereits gut auskennen. Wohl sind die Texte für sich sehr kenntnisreich und durchaus anregend geraten. Mehr bietet aber der zweite Schwerpunkt des Buches: drei Texte zum Nahostkonflikt. Der in London geborene Jude Tony Judt schreibt auch den Israelis unangenehme Wahrheiten ins Stammbuch. Nach dem Krieg von 1967 habe das Land die entscheidenden politischen Chancen versäumt:
Das war die Ironie des gewonnenen Sechstagekrieges: Es war der einzige militärische Erfolg, der Israel die Chance bot, die Verhältnisse im Nahen Osten zum allseitigen Vorteil neu zu ordnen. Doch das Ausmaß des Sieges schien den Politikern alle Fantasie und allen Verstand zu rauben.
Und so stehe Israel heute vor einem einzigen Scherbenhaufen seiner Politik. Jerusalem, so folgert Judt, müsse endlich das Ruder herumreißen und alle Illusionen über Bord werfen – noch sei es nicht zu spät. Israels letzte Schutzmacht wiederum, die USA, ist Thema des dritten Schwerpunktes in diesem Buch, gut 100 Seiten lang. Er setzt sich nicht nur mit einer aus Judts Sicht einseitigen und damit kurzsichtigen Nahost-Politik auseinander. Der Autor analysiert auch Washingtons Vorgehen während der Kuba-Krise 1962; und er befasst sich ausführlich mit der Weltpolitik Richard Nixons und Henry Kissingers. Entgegen dem landläufigen Klischee sei die geprägt gewesen von mangelnder Weitsicht, persönlichen Animositäten und Ignoranz gegenüber Verhältnissen auf anderen Kontinenten. An den Folgen etwa im Nahen und Mittleren Osten trage Amerika noch heute schwer. Bei solcher Kritik an neorealistischer Weltpolitik und am Denken konservativer Kreise in den USA bekam Judt jenseits des Atlantiks oft den Vorwurf zu hören, er sei ein Sozialist. Aber mit dieser Ideologie – die das 20. Jahrhundert so prägte – rechnet der Autor schonungslos und treffend ab.
Die Werte und Institutionen, die für die Linke von Anfang an wichtig waren – von der allgemeinen Gleichberechtigung bis hin zu staatlichen Dienstleistungen – sie verdanken sich nicht dem Kommunismus. Siebzig Jahre "real existierender Sozialismus" haben nichts, aber auch gar nichts zur Verbesserung des menschlichen Daseins beigetragen.
Haben sie das – so könnte man einwenden – nicht zumindest indirekt getan, indem sie den Westen bis 1989 davon abhielten, Marktwirtschaft in ihrer zügellosen – ihrer asozialen – Form Wirklichkeit werden zu lassen? Tony Judt hätte vermutlich geantwortet, dass man das auch um einen geringeren Preis hätte erreichen können.
Der Kommunismus hat das linke Erbe gründlich entstellt und verunstaltet. Wenn heute nirgendwo eine überzeugende Vision von Fortschritt und Gerechtigkeit entwickelt wird, dann ist das in erster Linie auf Lenin und seine Nachfolger zurückzuführen, die den Brunnen vergiftet haben.
So versucht Judt gar nicht, dem Leser eine eigene Vision von Fortschritt und Gerechtigkeit aufzutischen. Auch seine Vorstellung von einer Rolle des Staates beschreibt er nicht konkreter, sondern tritt ganz allgemein für Balance ein: von staatlichem Einfluß und Handlungsspielraum des einzelnen.
Heute wissen wir, dass ein gewisser Liberalismus, der ein Maximum an Freiheit und Eigeninitiative in allen Lebensbereichen garantiert, der einzig mögliche Weg ist.
Tony Judts letztes Buch ist das Grundsatzplädoyer eines Denkers, dessen Tod einen Verlust für die politische Publizistik bedeutet. Judts Vermächtnis in Gestalt seiner Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart fällt sozial-liberal aus: Die Politik, die ihm vorschwebt, ist pragmatisch, frei von nationalen oder gesellschaftlichen Ideologien, dafür im besten Sinne humanistisch. Um kommenden Generationen den Weg in ein Jahrhundert zu bahnen, das lebenswerter gerät als das bislang blutigste und menschenverachtendste: das 20. Jahrhundert.
Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert – Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, erschienen im Hanser Verlag, 27 Euro 90, 480 Seiten, ISBN 9783446235090.