Frage mal: Finden Sie es unverschämt, dass die Post den Briefverkehr systematisch verlangsamen will, so kurz nach der letzten Portoerhöhung? Nun, ich werde Ihnen erklären, warum das in Wirklichkeit eine prima Idee ist.
Vorausgesetzt, wir können uns darauf einigen, dass Henry Miller mit Folgendem richtig lag: "Leben ist das, was uns zustößt, während wir uns gerade etwas ganz anderes vorgenommen haben." Übrigens eine Sentenz, die fast wortgleich in John Lennons Song "Beautiful Boy" auftaucht, was ihren Wahrheitsgehalt quasi verdoppelt.
Aber zur Sache selbst: So manches Mal habe ich dienstags beim Berliner Suhrkamp Verlag ein Buch zur Rezension bestellt. Der sofortige Versand wurde eingeleitet, und ich war mir sicher: Am nächsten Wochenende liest du! Die Strecke zwischen Suhrkamp und meiner Wohnung würden nämlich auch Schildkröten in ein, zwei Tage schaffen, sofern sie unterwegs die Nickerchen kurz halten.
Leben eben
Doch die Post ist anders. Sie versorgt mich gern mit einem ungeplanten Quantum Leben. Und das läuft so: Bis Samstag ist das Buch nicht da. Heißt für mich: freies Wochenende, abhängen, Freunde treffen, Abenteuer erleben – Leben eben! Am Montag ist die Lage unverändert. Und am Dienstagmorgen muss ich die 580 Seiten live im Radio besprechen. Umständehalber kaufe ich mir das Buch nach des Tages vielen Pflichten um 22.30 Uhr bei Dussmann und durchwache die Nacht wie ein echter Geistesmensch, der der Schwäche des Fleisches spottet. Eine tolle spirituelle Erfahrung! Testen Sie das auch mal!
Am Dienstag nach der Besprechung liegt im Briefkasten ein Zettel: Ab Mittwoch sei in der Filiale XY eine Sendung abzuholen. Ach, wie glücklich bin ich schließlich mit den beiden Exemplaren. Taugt das Buch etwas, schenke ich das verschweißte Exemplar einem Freund, taugt es nichts, einem bösen Feind.
Und Sie glauben im Ernst, mein Dasein wäre bei pünktlicher Ankunft des Buches reicher gewesen? Undenkbar! Okay, nicht jede Sendung wird durch Verspätung die Lebensqualität so unstrittig steigern wie im obigen Fall.
Raus aus dem Hamsterrad
Aber die Post denkt in die richtige Richtung: Die beste Medizin gegen die Anmaßungen des eng getakteten modernen Lebens ist doch das Ausbrechen aus dem Hamsterrad, vulgo: die Entschleunigung.
Und wenn man nicht weiß, ob die dringend erwartete Post morgen, übermorgen oder nächste Woche eintrifft, eröffnet das Chancen noch und noch.
Man könnte viele fixe Planungen in den beruhigenden Konjunktiv zurücksetzen, sich vom Terror des Terminkalenders lösen und ganz generell Leib und Seele ein bisschen mehr auf "easy going" umstellen, wenn…ja, wenn nicht viele dieser Möglichkeiten durch die digitale Kommunikation verbaut wären.
Post als Vorbild
Denn solange das meiste, was uns stresst, ohnehin per Email, WhatsApp, Facebook oder Instagram eintrifft, hilft uns eine noch so erfreulich verspätete Post ziemlich wenig. Darum muss jeden, der es gut mit dem modernen Menschen meint, ein Wunsch erfüllen: Dass die digitalen Konzerne der Post folgen!
Nichts wäre ja einfacher, als dort dafür zu sorgen, dass ein Zufallsgenerator die Übermittlungsdauer von Mails, Tweets und sonstigen Posts schön entspannt variiert - so zwischen Stunden und Tagen. Und wenn die Menschen erst spüren, wie viel Freiheit sie gewonnen haben, werden sie der Post Dankesbriefe schreiben. Und irgendwann wird sich die Post die Briefe selbst zustellen und erröten bei all dem Zuspruch für ihre Entdeckung der Langsamkeit.