Der Mann ist ja ganz außer sich und trampelt immer wieder wie ein entfesselter Rumpelstilz auf der Bühne herum im Begeisterungsjubel am Schluss: Stephan Kimmig, ein seit langem allerorten gefragter Regisseur, der allerdings von Hamburg über Stuttgart und Wien bis Berlin eigentlich immer eher durch Routine als durch große Entwürfe aufgefallen ist, mag sich wie neu erfunden gefühlt haben im Kreise dieses so unerhört jungen, frischen und frechen Ensembles, das ihm mit der durchaus spektakulären und riskanten Idee von Tschechows "Platonow" als Frau nichts weniger als einen Triumph beschert hat. Und auch diese hannoversche Schauspielhaus-Bande ist ganz außer sich gewesen, außer Rand und Band, speziell die jungen Frauen, aber auch alle sonst treiben die verrückte Einstiegs-Idee Szene um Szene ins Furioso eines Feuerwerks.
"Feuerwerk, Feuerwerk!"
Denn nicht nur Platonow ist ja hier ganz Frau – auch die gealterte Generalswitwe mit dem heruntergekommenen Landgut aus dem Original ist nun ein Unternehmer, der sehr großherzig, aber auch sehr pleite ist; und natürlich unsterblich in Platonowa verliebt. Wie die originale Generalin in den Lehrer Platonow. Familie Glagoljew, Vater und Sohn bei Tschechow, sind quasi verdoppelt: als sinnlos in den Pleite-Unternehmer verliebte Mutter und aufrührerische Tochter auf der einen Seite und auf der anderen als Autohändler und Partner, die zum Schluss das Pleite-Gut aufkaufen.
Ver-Rückung der Geschlechter
Der Landarzt, die einzig zurechnungsfähige Figur im Spiel, ist Ärztin – und hoffnungslos verliebt in einen jungen Herrn namens Grekow, der die Schauspielerin Grekowa war bei Tschechow. Nur der alte Oberst Triletzki bleibt der alte Oberst Triletzki. Und erstaunlicherweise bleibt auch Sofia, eine frühere Geliebte vom originalen Platonow und mittlerweile ordentlich verheiratet, auch jetzt noch die zum Schluss tödliche Beziehung für die ruppig-herbe Frau Platonowa. Die ist übrigens (wie im Original) mit einer Frau verheiratet. Das Verrückteste aber an dieser also durchaus inkonsequenten Ver-Rückung der Geschlechter ist, dass sich womöglich nach kurzer Zeit schon kaum jemand mehr ernstlich dafür interessieren wird, wer hier gerade in welcher Geschlechterrolle über die Bühne tobt.
Das war erklärtermaßen das Ziel der Inszenierung: jede vertraute Zuordnung von Geschlechterrollen aufzuheben; nur Menschen zu zeigen, die abendfüllend nicht zurechtkommen mit den Herausforderungen, die nun mal die Tatsache mit sich bringt, dass Jeder und Jede besessen ist von Gefühlen und niemand die wirklich im Griff hat, niemand ihnen entkommt.
"Die sogenannte romantische Liebe ist eine Legende. Es gibt nichts Mysteriöses in der Beziehung zwischen den Menschen. Es handelt sich um was rein Physisches!"
Ein bisschen Moderne gibt’s als Zugabe – denn so wie es den Pferdedieb Ossip nicht mehr gibt, sondern stattdessen eine Kleinkriminelle namens Natalja (klar: auch in Platonowa verliebt!), war da früher natürlich auch kein Autohändler namens Wenniger, sondern eben der alte, reiche Glagoljew.
Großer Wurf - gedanklich und schauspielerisch
All das aber funktioniert strukturell erstaunlich gut - als (so heißt das wohl heute) "Überschreibung" nach der Fassung von Thomas Brasch und mit viel Probenbeiträgen vom Ensemble. Bis zur Pause ist das Feuerwerk pur; nur im zweiten Teil, in dem praktisch alle denkbaren Paarungen ins Beziehungs-Endspiel getrieben werden bis zum tödlichen Schuss, verliert die Aufführung ein wenig an Energie; aber auch nicht so viel, dass sie richtig schwächeln würde.
"Jetzt ist Schluss für immer, wir hör’n jetzt auf mit dem all dem Scheiß – jetzt ist Schluss für immer ..."
Generell und grundsätzlich stürmt Kimmigs Truppe auf die breite und weit über die ersten Reihen gezogene Veranda-Bühne von Katja Hass mit einer Power, die dem Publikum mächtig auf die Pelle rückt. Dass alle dem Publikum per Händedruck "Alles Gute!" wünschen (und damit auch sich selbst), mag dem Spielzeitstart geschuldet sein. Aber auch danach knallt uns vor allem Tochter Glagoljew eine Menge Greta-Thunberg-haftes um die Ohren. Grundsätzlich geht es dieser Platonowa um Widerspruch und Wirklichkeit von Wahrheit und Gefühl. Diese "Platonowa" ist ein ganz großer Wurf geworden – schon gedanklich, aber erst recht mit diesem Ensemble. Und sogar Stephan Kimmig, der Routinier, ist wie neu.