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Plebiszitär oder nicht?

Neuer Anlauf - alte Vorbehalte: Der in Lissabon zur Verhandlung stehende Vertrag ist die "größte Bedrohung für die britische Nation seit dem Zweiten Weltkrieg". So jedenfalls formuliert es die "Sun". Bedenken, die auch andere Zeitungen im Königreich zu regelrechten Kampagnen veranlasst haben. Fast 40.000 Unterzeichner hat der "Daily Telegraph" mit seinem Appell gefunden, die Regierung solle Wort halten und den EU-Vertrag einer Volksabstimmung unterwerfen, und mehr als 100.000 Leser unterstützen mit ihrem Namen einen fast gleich lautenden Aufruf der "Sun". Martin Zagatta mit Einzelheiten:

    "Der Sun geht es darum, dass der Premierminister ein Referendum versprochen hat über diesen Vertrag und wir fordern ja nur dieses Referendum", argumentiert George Pascoe Watson. Der "Sun"-Chefredakteur kann auf Umfragen verweisen, wonach wieder einmal fast 60 Prozent der Briten meinen, die EU habe viel zu großen Einfluss auf ihr Leben. Vier von fünf Befragten wollen per Volksabstimmung über den EU-Vertrag entscheiden - so wie Tony Blair ihnen das einst in Aussicht gestellt hat. Die Unterhauswahl vor zweieinhalb Jahren hat die Labour-Partei auch mit dem Versprechen gewonnen, die Briten über den Verfassungsvertrag, der später in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, abstimmen zu lassen. Eine Zusage, die Blairs Nachfolger Gordon Brown auf den EU-Reformvertrag nun allerdings nicht anwenden will.

    "Wenn das der alte Vertrag wäre, dann würde es ein Referendum geben. Aber weil wir uns in den Verhandlungen durchgesetzt haben mit unserem Einsatz für britische Interessen und alle Ausnahmeregelungen, alle für uns wichtigen roten Linien erreicht haben, ist das nicht nötig", so hat Brown sein umstrittenes Vorgehen jetzt im Unterhaus verteidigt. Er pocht vor allem auf die ausgehandelten Ausnahmen beim Sozial- und Arbeitsrecht, die Großbritannien mehr Flexibilität ermöglichten. Außerdem werde die gesamte Grundrechte-Charta der EU auf der Insel ja nicht rechtsverbindlich.

    Mit dieser Sicht ist der Premierminister aber gehörig unter Druck geraten, seit der Europa-Ausschuss des Unterhauses zu dem Ergebnis gekommen ist, der vorliegende Vertrag sei eben doch mit der gescheiterten Verfassung gleichzusetzen. Außerdem könnten die britischen Ausnahmeregelungen vom Europäischen Gerichtshof ausgehebelt werden, befürchtet das Gremium. Selbst Parteifreunde, Abgeordnete wie Ian Davidson, fordern Brown inzwischen öffentlich auf, Wort zu halten und ein Referendum zuzulassen. Seine Weigerung sei "offenkundig unehrlich" kritisiert sogar die frühere EU-Verfassungsunterhändlerin Gisela Stuart - Wasser auf die Mühlen der Opposition:

    "Das ist ein ganz offenkundiger Bruch eines feierlichen Wahlversprechens und zeigt, dass der Premierminister keineswegs gewillt ist, offen mit der britischen Bevölkerung umzugehen, so William Hague", sagt der frühere Chef der konservativen Tories. Dieser Vorwurf wiegt doppelt schwer, seit Gordon Brown im letzten Moment vor der Ansetzung von Neuwahlen zurückgeschreckt ist. Ein politisches Manöver, mit dem der Schotte den Umfragen zufolge viele Sympathien verspielt hat. Und verweigert er seinen Landsleuten nun eine Abstimmung über den EU-Vertrag - dann, so die Voraussagen, wird das Brown zusätzlich in Bedrängnis bringen.

    Ein Referendum sei letztlich wohl unvermeidlich. Bei der Abstimmung werde es aber wohl nicht um den Vertrag gehen, weil der Premierminister da zwangsläufig verlieren würde, stattdessen werde wohl danach gefragt, ob Großbritannien in der EU bleiben solle oder nicht, sagt Nigel Farage voraus, der Chef der United Kingdom Independence Party. Die anti-europäische Unabhängigkeitspartei, die es mit ihrer Forderung nach Austritt aus der EU bei der letzten Europawahl immerhin auf 17 Prozent der Stimmen gebracht hat, ist wieder im Aufwind, wie so oft im Vorfeld von EU-Gipfeln.

    Nun doch noch ein Referendum anzusetzen, einen neuerlichen Kurswechsel, wie mit den Neuwahlen, wird sich die Regierung kaum leisten können. Doch Gordon Brown wird sich wohl schwer tun, den Vertrag, dem er jetzt in Lissabon zustimmen will, dann auch durch das britische Parlament zu bringen.