Kroatien erinnert in seinen Umrissen an einen Bumerang. Ziemlich genau in der Beuge dieses Bumerangs liegen die Plitvicer Seen, sehr nahe an der Grenze zu Bosnien. Das fällt auf, je näher das Ziel kommt. Ob aus den gepflegten Tourismusorten an der Adria kommend oder aus der belebten Gegend um Zagreb und Karlovac: Die Zahl der im Rohbau steckengebliebenen Häuser nimmt zu. Mitunter steht eine alte Hausruine daneben, mitunter haben Fassaden Einschusslöcher, verfallene Gebäude heben sich vom Waldrand ab, die von der Natur überwuchert werden: Bilder, wie es sie jenseits der Grenze, in Bosnien, zuhauf gibt.
Im Jugoslawienkrieg hatte es Pläne gegeben, die Plitvicer Seen zu sprengen, was nicht nur eine Katastrophe für die Natur, sondern auch für die unterhalb lebende Bevölkerung bedeutet hätte. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Kriegsende am Balkan sind die Wunden nicht vernarbt. Nach den Kämpfen reichte das Geld für ein neues Haus vielfach nicht mehr, um es zu verputzen.
Hier mittendrin tut sich eine landschaftliche Schönheit ersten Rangs auf. Wenngleich anfangs viel Geduld und fester Glaube an das Kommende nötig ist. Öffentliche Verkehrsmittel scheinen die Plitvicer Seen nur spärlich anzufahren, Parkplätze sind rar. Die meisten lenken ihr Auto über Stock und Stein in den angrenzenden Wald, um es dort zwischen den Bäumen abzustellen. An den Kassen herrscht babylonisches Sprachengewirr, am Buffet drängen sich die Besucher um Bratwurst und Burger. Ein schmaler Waldweg und Stufen führen hinunter zum Jezero Kozjak, jenem breiten See im Tal, der die oberen von den unteren Seen trennt. Zwischen seinen Ufern pendeln elektrisch betriebene Fährboote. Eine Gruppe aus Japan sitzt in einem von ihnen, ausgerüstet mit Strohhüten und Kamerataschen.
Viele Menschen unterwegs
Am anderen Ufer fällt die Entscheidung zwischen der kleinen Route zu den als Canyon eingeschnitten liegenden unteren Seen oder der größeren, etwa dreistündigen Route zu den oberen Seen. Im Gänsemarsch stapfen die Besucher los, nach links, zur längeren Variante. Trotz vieler Menschen dominiert die Natur: Bächlein plätschern, Vögel zwitschern. Vergessen sind die mühsame Anfahrt und die ungeordnete Blechkarawane im Wald. Aus dem Weg wird ein Pfad aus querliegenden Holzknüppeln, wird bisweilen ein Steg, eine Holzbrücke.
Der erste See glänzt in der Sonne: Huflattich wächst am Rand, im glasklaren Wasser liegen von Algen überzogene Baumstämme kreuz und quer und wirken wie riesige Korallen. Dürre Äste schauen heraus. Auf der anderen Seite rauscht in mehreren Wasserfällen das Wasser eines ein paar Meter höher gelegenen Sees herab. Eigentlich sind es gar keine Seen, sondern wiederholt gestautes Fließgewässer. Die Besucher zücken ihre Kameras. Immer, wenn jemand auf dieser Einbahn durchs Freilichtmuseum der Natur fotografiert, und das sind fast alle irgendwann, kommt die Prozession ins Stocken. Zahlreiche Sprachen mischen sich ineinander.
Franzosen sind auf Motivsuche. Inder in bunten Gewändern ziehen ebenso dahin wie eine tschechische Jugendgruppe oder Schmäh führende Österreicher und analysierende Deutsche. Auch eine arabische Großfamilie ist samt Kinderwagen unterwegs.
Zwischen zwei Seen macht ein Ehepaar auf einer der spärlichen Bänke entlang der Route Pause: Neven und Ljubica Jovanovic sind gebürtige Kroaten, leben aber schon lange in Berlin und sind seit ein paar Jahren in Rente. Sie machen Urlaub in der alten Heimat. Neven ist zum vierten Mal an den Plitvicer Seen. Deshalb kennt er auch die beste Zeit für einen Besuch der Seen.
"Also im Frühjahr, gerade im Mai-Monat oder im September, Oktober. Tageszeit, ab Morgen, acht Uhr, wenn ist der Park offen, ja das ist die beste."
Nevens Frau Ljubica ist zum dritten Mal hier und jedes Mal begeistert vom Naturschauspiel.
"Also die Farbe von See, Wasserfall und die Natur, grün und grüne Anlage ist schön. Und die Luft. Und was verbindet uns, weil wie wir klein waren, wegen der Winnetou-Filme, das will jeder sehen. Winnetou wurde gedreht am Plitvicer See."
"Der Schatz am Silbersee" wurde hier gedreht
Aber auch "Der Schatz im Silbersee". Um den einstigen Drehort zu besichtigen, hätten wir die kürzere Route nehmen müssen. Den Silbersee hat einer der unteren Seen abgegeben. Und eine der rund 100 Höhlen im Nationalpark, gleich über dem See, war der Lagerort des Schatzes. Die Karl-May-Filme der 60er-Jahre: Winnetou und Old Shatterhand, Pierre Brice und Lex Barker. Gedreht wurden sie alle im ehemaligen Jugoslawien, im Karstgebirge – und an den Plitvicer Seen. Es steckte politische Absicht von Staatspräsident Tito dahinter, als er damals westliche Produktionen in sein sozialistisches, aber blockfreies Land holte. Bei der Recherche im Internet stoße ich auf eine Seite, die sich auf Winnetous Spuren geheftet hat und alle Drehorte dokumentiert. Penibel sind Filmeinstellungen von damals Aufnahmen von heute gegenüber gestellt: Es hat sich nicht viel an den Naturkulissen verändert.
Trotz der täglich hindurch ziehenden Besucherschlangen ist die Natur intakt geblieben. Niemand übertritt das Badeverbot, niemand wirft Müll weg. Das ständig wechselnde Schauspiel überwältigt. Nicht nur die Frösche lassen sich nicht stören, in und an den Plitvicer Seen leben mehrere Fischarten, Fluss- und Bachkrebse, Schmetterlinge und 20 Fledermausarten. Aber auch größere Tiere wie Braunbär, Luchs, Wolf, Hirsch, Reh und Wildschwein sind im Nationalpark heimisch. Hinzu kommen 1267 verschiedene Arten von Pflanzen, selbst fleischfressende und viele, die nur hier und nirgendwo sonst vorkommen.
Wieder stürzt ein Wasserfall in ein tiefer gelegenes Becken. Das Grundphänomen der 16 kaskadenartig miteinander verbundenen Seen in der Mitte Kroatiens ist das Entstehen von Travertinbarrieren, welche die Gewässer aufstauen. Kristalle aus Kalziumkarbonat lagern sich seit der letzten Eiszeit vor 6.000 bis 7.000 Jahren ab. Diese Kalksteingebilde sind zu Staumauern zwischen den einzelnen Seen geworden, jeder mit eigenem Charakter, eigenem Aussehen.
Wasser rinnt durch Moos und Gras
Während der Wanderung stellen sie sich als Becken und Pfannen dar, als Tümpel und Fjorde, als überschwemmte Lichtungen eines Urwalds und stille Teiche. Am Ufer laufen die Seen über, ihr Wasser rinnt durch Moos und Gras in den nächsten See, oder es stürzt über Stufen abwärts, fallend, spritzend, staubend. Und immer wieder das gleichförmige Rauschen, wenn es sich über den Rand nach unten ergießt. Behutsam ordnet sich der Besucherweg aus Holzknüppeln der Natur unter, umfängt die Becken, quert sie an schmaler Stelle, steigt seitlich unmerklich an, von einem See zum nächsten. Je länger wir unterwegs sind, desto weniger Menschen sind um uns herum, bis man gegen Ende ziemlich alleine wandert.
Dunkel, einer Alpenklamm ähnlich, bewegt sich das Wasser zwischen den Becken dahin, oder es hoppelt über bemooste dunkle Steine zur nächsten Kaskade. Einmal rieselt es wie aus einem Zapfhahn, ein andermal stürzt es dahin, als wäre ein Schaff umgedreht worden. Dürre Baumstämme beugen sich müde über die Wasseroberflächen, Moose und Flechten hängen wie nasse Bartfetzen vom Scheitel der Wasserfälle. Das Wasser steht still wie ein Bergsee, es plätschert wie ein Bach im Park, und es zischt wie aus einem Gartenschlauch. Tausende Bilder halten die Plitvicer Seen bereit.
Am obersten, einem weit ausgebreitet zwischen den Wäldern liegenden See, haben sich Neven und Ljubica Jovanovic an einer Labestation niedergelassen. Nach dreistündiger Wanderung sind sie müde, aber zufrieden.
"Mir hat es sehr gut gefallen. Wir haben einen sehr schönen Tag gehabt, Sonnenschein, und Wasser ist klar, und alles ist perfekt."
Beide sind sich einig über den Ausflug.
"Ich glaube, das letztes Mal. Drei Mal reicht. Ja, bin ich nicht mehr die Jüngste. Und ist ein bisschen anstrengend. Sehr schön, aber bin ich müde. Nur für die lieben Menschen, aber allein werde ich nicht mehr. Vielleicht, wenn ich 20 Jahre jünger bin, wäre es mir egal."
Oft liegen nur wenige Meter Höhenunterschied zwischen den benachbarten Seen. Im äußersten Fall sind es 78 Meter, über die das Wasser in die Tiefe stürzt. Sein Grün hat viele Farben: türkis und smaragd, lindgrün und giftig, grell und mild, elegant und matt. Die Plitvicer Seen halten jede Schattierung bereit.
Hinter der Labestation wartet ein Unimog mit zwei angehängten Wägelchen auf die Besucher, um sie an den Ausgangsort zurückzubringen. Langsam tuckert er die Müden talwärts durch hellen Buchen-, Fichten- und Tannenwald. Es ist eine gehörige Portion sanfter Tourismus, die täglich durch das Naturwunder Plitvicer Seen geschleust wird – und dennoch bleibt er sanft und das Naturwunder intakt.