Mitten hinein in die Abgründe des Gesundheits- und Pflegesektors blickt die Konzertinszenierung "Zauberburg". Angelehnt an Thomas Manns Zauberberg-Sanatoriumswelt, ins Schwäbische gebracht. Die Uraufführung der Musik von Max Andrzejewski in der Regie von Jeffrey Döring ist im Gemeindesaal, mit per Video zugeschaltetem Chor, und nicht wie geplant auf der eigentlich titelgebenden Esslinger Burg. Die strengen Hygieneregeln werden kurzerhand zum Teil der Inszenierung. Selbst auf den Straßen der Innenstadt tragen alle Menschen nun Masken, denn das ist die Voraussetzung dafür, dass das Festival derzeit nicht abgebrochen werden muss. Konzerte im Jugendclub abgesagt, Produktionen in Kirchen und Theatern dürfen stattfinden. Die Stadt tut viel dafür, das Podium Festival auch finanziell nicht ins Bodenlose stürzen zu lassen.
Beim flexiblen Umgang mit der aktuellen Krisensituation hilft ein Anliegen, das sich im Podium Esslingen institutionalisiert hat, sagt der künstlerische Leiter des Festivals, Steven Walter: "Auf zugewandte Weise Musik erlebbar zu machen und dabei kreativ zu sein. Und auch die Freude zu haben an einer Unsicherheit, am Unbestimmten und Unbekannten, Dinge aufeinander prallen zu lassen."
"Anmut unter Druck"
Wer beim Podium Festival in Esslingen auftritt, ist bereit, etwas zu wagen.
Steven Walter: "Mut. Die beste Definition, die ich dafür gefunden habe, ist von Ernest Hemingway, der gesagt hat: "Courage is grace under pressure." Also Anmut unter Druck. Die Fähigkeit, unter großem Druck trotzdem Schönes zu machen. Was man oft erfährt, ist unter Druck eine Regression zum Gewohnten, Altbekannten, zum Sicheren. Und Mut ist eben die Fähigkeit, unter Druck das Schöne, Unbekannte zu suchen."
Der Pianist Mathias Halvorsen und der Geiger Mathieu van Bellen haben sich zum zweiten Mal eine Puccini-Oper vorgenommen und sämtliche Gesangs-, Chor- und Orchesterparts auf ihre beiden Instrumente verteilt, während auf einer Leinwand hinter ihnen die Texte und Szenenanweisungen ablaufen.
Mathias Halvorsen (Pianist): "Wir gestalten die Charakterfarben, und das Publikum muss sich die Figuren im Geiste zusammensetzen. Ich glaube, das wird nicht weniger gut funktionieren als in La Bohéme, sondern besser. Aber diesmal haben wir eben das Werk nicht lange entwickelt und zusammen erarbeitet, sondern jeder hat sich allein vorbereitet – weil wir uns wegen Corona nicht früher treffen durften. Wir spielen diesmal sehr viel riskanter. Jetzt setzen wir gerade zwei Stunden Musik in drei Tagen zusammen. Das wird wild!"
"Es ist unser Job als Zeitgenossen, das erlebbar zu machen"
Die Verdichtung von Puccinis Musik auf zwei Instrumente funktioniert hervorragend. Dass so genannte unsterbliche Werke, mit denen sich klassische Musiker beschäftigen, automatisch ewig relevant bleiben und sich jedem Menschen sofort erschließen, sei ein Irrtum. Man müsse sie als ausführender Künstler auch zugänglich machen wollen, sagt Steven Walter. Egal ob bei einem Festival der Experimente wie Podium oder beim traditionellen Beethovenfest in Bonn, das er ab der kommenden Spielzeit leiten wird.
"Die Musik ist ja nicht das Problem, sondern es sind ja wir als handelnde Akteure, wie wir sie vermitteln können, denn Beethoven ist tot, die meisten Komponisten, deren Werk wir erarbeiten, sind nicht mehr da. Es ist unser Job als Zeitgenossen, das erlebbar zu machen. Wir sind nicht deswegen zum Beispiel als Beethovenfest wertvoll, weil da Beethoven drin steht, sondern wir müssen dem gerecht werden – Beethoven gerecht werden. Da sind wir wieder bei #bebeethoven."
#bebeethoven ist ein Förderprogramm der Kulturstiftung des Bundes, in dem anlässlich des Beethovenjahres drei Jahre lang zehn Künstlerinnen und Künstler gefördert worden sind, die eng mit dem Podiumfestival Esslingen verbunden sind. In diesen Tagen zeigen die #bebeethoven-Fellows dort Ausschnitte aus ihrem derzeitigen Schaffen. Ab der nächsten Woche werden die Konzerte in Bonn fortgesetzt."
Steven Walter: Musikleben darf sich nicht hinter Routinen, Ritualen oder Werken verstecken
Der Pianist und Komponist Kaan Bulak schafft einen sehr eigenen Klangkosmos mit seinem selbst gebauten "augmented piano", einem "elektroakustisch erweiterten Klavier". Im Zusammenklang mit einem Streichquartett eröffnet es eine Körperlichkeit, eine Dreidimensionalität von Kaan Bulaks eigenen Kompositionen, aber auch seiner Transkriptionen von alter Musik von Gesualdo oder, nochmals 600 Jahre zuvor, der frühesten Komponistin des Abendlandes, Kassia, die im neunten Jahrhundert geistliche Hymnen schuf. In Kaan Bulaks Heimatstadt, dem damaligen Konstantinopel.
"Kassia hat so komponiert, dass sie die Hauptmelodie aufgeschrieben hat, und dann gab es einen zweiten Chor, der improvisiert hat, die "Isokratema". Und das hat mich sehr an die Ambient-Musik der 90er-Jahre erinnert, in der man einen Drone-Bass hat und darüber ist eine weiche, fast verschwindende Melodie und alles klingt super sphärisch."
Kaan Bulak und Mathias Halvorsen; die Cembalistin Elina Albach, die Monteverdis Marienvesper einer modernen "Vesper for the new dark age" entgegenstellt oder das Stegreif Orchester, das neue Konzertformate entwickelt – es sind solche Künstler, die aus kreativen Schmelztiegeln wie dem Podium Festival Esslingen heraus die Relevanz klassischer Musik für unsere heutige Welt bekräftigen. Und künstlerische Netzwerker wie Steven Walter.
"Wir müssen suchen nach einem Musikleben, das sich nicht hinter irgendwelchen Routinen, Ritualen oder auch Werken versteckt, sondern damit volle Kiste auf die Welt prallt! Und diese Explosion auch zulässt. Das sind die Menschen und Strukturen, die wir suchen müssen, die das ermöglichen."