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Podiumsdiskussion über Ukraine
Ruhe nach der Revolution?

Der Europaabgeordnete Jo Leinen, der Schriftsteller Jurko Prohasko und der Musiker und Autor Serhij Zhadan - unter anderem diese Personen des öffentlichen Lebens diskutierten nun an der Berliner Akademie der Künste über die Lage in der Ukraine. Neutral war das Podium damit ganz und gar nicht besetzt, meint Cornelius Wüllenkemper.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    "Wir stellen schon jetzt fest, dass die ursprünglichen Ideen des Maidan bereits wieder von der Politik blockiert werden. Die gleichen Gesichter sind an der Macht, Leute, die man schon kennt. Die Regionen werden weiterhin von Oligarchen beherrscht. Unsere Revolution richtete sich nicht gegen Janukowitsch, sondern gegen das System. Wir wollen das ganze Land und das alte System ändern!"
    Serhij Zhadan, der ukrainische Dichter, Musiker und Übersetzer, hat auf dem Maidan in Kiew und in der ostukrainischen Stadt Charkiw für die Revolution gekämpft. Auf dem Podium in der Berliner Akademie der Künste bemerkte er, im Osten der Ukraine, wo seine Familie lebt, seien die Menschen dabei, ein ukrainisches Nationalgefühl zu entwickeln. Mit Kleidung und Esspaketen unterstützten immer mehr Ostukrainer die schlecht ausgestatteten ukrainischen Soldaten, die die Grenze zu Russland sichern. Nach der Bürger-Revolution komme jetzt der schwierigste Teil der Umwälzung: die politische Implementierung der Ziele des Maidan. Einen authentischen Bericht jenseits der medialen Meinungsschwemme hatte die Akademie der Künste angekündigt, einen neutralen Blick auf die ebenso verstörenden wie verwirrenden Vorgänge der letzten Wochen. Neutral war das Podium aber ganz und gar nicht besetzt. Ein Blick aus russischer Sicht hätte der Diskussion gut getan und den "Bericht aus der Ukraine" etwas differenzierter ausfallen lassen. Neutral wolle auch er keineswegs sein, betonte der Lemberger Schriftsteller und Übersetzer Jurko Prochasko. Ihn wundere vor allem, wieso man auch im Westen ausschließlich von der ukrainischen "Krise" spreche.
    "Putin hat uns mit seiner Invasion und mit seiner Annexion das größte Kompliment gemacht. Er ist einer der wenigen, der richtig erkannt hatte: Das ist eine Revolution! Und diese Revolution ist seinem Regime ein Tod! Ich verstehe diese Putin-Invasion als den Versuch, diese Revolution zu verhindern, zu kompromittieren. Und dann, wenn es schiefgeht, dann wird man sagen: seht, wir haben es schon immer gewusst."
    Elmar Brok, Europaabgeordneter der Union, der als einer der ersten westlichen Politiker überhaupt mit dem Maidan-Rat ein Abkommen über dessen politischen Ziele unterzeichnet hatte, warnte: die Ukraine brauche schnellstmöglich rechtsstaatliche Reformen und vor allem eine glaubhafte Persönlichkeit, die für die Ziele des Umsturzes stehe. Gelänge es Putin, durch anti-westliche Propaganda im Osten und Süden des Landes für Verunsicherung und Instabilität zu sorgen, würde schnell der Ruf nach einem autoritären Führer laut, der dann freilich von Moskau eingesetzt werde. Der sozialdemokratische Europaabgeordnete Jo Leinen betonte dabei die entscheidende Rolle der EU im Prozess der ukrainischen Selbstfindung. Brüssel dürfe nicht den Fehler begehen, durch überzogene Spar- und Reformvorgaben den starken revolutionären Impuls der Menschen zu ersticken.
    "Mir ist wie Schuppen von den Augen gefallen, dass es nicht um ein Assoziierungsabkommen, ein Handelsabkommen geht. Sondern um das Abschütteln eines Systems, was Unterdrückung bedeutet, was Rechtsstaatslosigkeit bedeutet. Es ist wirklich die Sehnsucht nach dem Europa, nach der Europa-Idee, die eigentlich nach wie vor eine hehre, große Idee ist, auch wenn man oft den Glauben daran verliert. Und die Jugend will definitiv zu diesem Europa gehören."
    Leinen forderte, die Visumspflicht abzuschaffen und den Menschen eine bessere Altersversorgung in Aussicht zu stellen, noch bevor die nominellen Kriterien für EU-Beitrittsverhandlungen erfüllt seien. Und wahrlich kann man sich die Frage stellen, ob die EU in der Dauerkrise von Wirtschaft und Finanzen womöglich gerade von der Ukraine lernt, was die europäische Idee eigentlich ausmacht? Nicht nur die Ukraine ist auf dem Weg der Selbstfindung. Mindestens ebenso brisant ist dieser Tage die Frage nach der Identität der Europäischen Union. Angesichts der selbstlosen Entschlossenheit der Bürgerrevolutionäre erscheint es ganz so, als ob die Ukraine der europäischen Idee gemeinsamer Werte neues Leben einhauchen könnte.