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Poe oder der Horror der Sprache

Bis heute ist ungeklärt, warum Edgar Allan Poe im Alter von nur vierzig Jahren in einem Krankenhaus von Baltimore im Delirium starb. Der Autor hatte gerade eine Lesereise abgeschlossen, er trug sich mit Heiratsplänen - hatte aber gleichzeitig testamentarische Verfügungen getroffen in dem Vorgefühl, schöpferisch ausgebrannt zu sein.

Bernd Mattheus |
    Wie wird man Edgar Allan Poe? Das Kind armer Schauspieler ist mit drei Jahren bereits Vollwaise, sein Vater hatte die Familie geflohen, seine Mutter war an Tuberkulose gestorben. Edgar wächst als Pflegekind der Familie des Großkaufmanns John Allan in Richmond, Virginia, auf. Der Achtzehnjährige bricht mit seinem Ziehvater, muß wegen vermeintlicher Verschwendungssucht das Studium aufgeben und tritt in die Armee ein. 1832 debütiert er als Erzähler, gewinnt einen Preis und verdient fortan als Redakteur des "Southern Literary Messenger" von Baltimore seinen Lebensunterhalt. 1836 ehelicht er seine Cousine, die noch nicht 14jährige Virginia. Da es seinerzeit nicht üblich ist, daß man Autoren für ihre Buchveröffentlichungen Tantiemen zahlt, leidet der Haushalt unter notorischer Geldknappheit. Wenn er nicht zur Flasche greift, hält sich der Dichter an Laudanum, d.h. an Opiumtinktur, ein ‚Allheilmittel', das bis zum 1. Weltkrieg frei verkäuflich war wie heute etwa Aspirin. Virginias vorzeitigen Tod, ebenfalls infolge von Tuberkulose, überlebt Poe keine drei Jahre.

    Eine solche Vita, sei sie auch noch so sehr von Erfahrungen des Verlassenwerdens und des Sterbens geprägt, ist keine unabdingbare Voraussetzung für Autorschaft.

    In seinen facettenreichen Studien legt der Hamburger Philosoph und freie Schriftsteller Thomas Collmer in erster Linie die unbewußten Schichten in Poes Texten frei, indem er diese mit dem biographischen Subtext konfrontiert. So weise z.B. eine Erzählung wie Der Massenmensch Poe einerseits als Gesellschaftskritiker aus, der die Maschinenhaftigkeit der Menschen in der Masse, ihr Gelebtwerden attackiert. "Die Atomisierung", schreibt Collmer, "die psychische, sexuelle, soziale und kommunikative Verarmung ist bei dem wandernden Zombie, den Poe schildert, klar bezeichnet." Andererseits lasse sich der Text entziffern als die Suche des Autors nach dem leiblichen Vater, der die Familie verlassen hatte.

    Darüber hinaus wird Poe selbst als Psychoanalytiker avant la lettre bezeichnet, als Erforscher einer Art "Antarktis der Seele". Nach Collmer gestaltete Poe in Der schwarze Kater "die schreiende Rückkehr des Verdrängten", wie sich in der Erzählung Der Alb der Verkehrtheit der "Drang zur Selbstzerstörung" artikuliere. Dieser "Zwitter aus Essay und integrierter Erzählung", heißt es, sei beispielhaft für Poes "implizite Anthropologie und Psychologie", gewissermaßen eine "Vorarbeit zur Psychoanalyse des ‚späten' Freud, seinem oft als skandalös pessimistisch empfundenen Modell einer konfliktvollen Dualität von Lebens- und sogenannten Todestrieben."

    Am schlüssigsten lesen sich Collmers Ausführungen, wenn er zum zentralen Thema seines Buchs zurückkehrt, nämlich dem Motiv von Stimmen, Geräuschen, Schreien und Schweigen, Sprechen und Nichtsprechen (nicht sprechen können) in den Texten Poes. Es ist bereits in der frühen Erzählung mit dem bezeichnenden Titel Der Atemverlust anzutreffen.

    Hatte 1933 Marie Bonaparte in ihrer psychoanalytischen Studie über Poe die unzähligen sterbenden oder toten Frauen im Werk des Amerikaners als Indiz gedeutet, daß der Autor nekrophile Wünsche symbolisch gestaltet, also sublimiert habe, so stellt Collmer nicht die vermeintliche Suche nach der toten Mutter, sondern den lebenslangen Konflikt Poes mit seinem Pflegevater in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. John Allan, der, sei es auch nur als Initiale A., als zweiter Vorname Edgar Poes stets präsent war, hatte den Dichter weder adoptiert noch ihm etwas vom Erbe hinterlassen. "Für Poe lag der Schlüssel, sein Ressentiment abzuarbeiten und (wenn möglich) zu überwinden, in seiner Schreibkunst." Entsprechend interpretiert Collmer die Erzählung Das verräterische (besser: das schwatzende) Herz als mörderische Rachephantasie Poes, die sich auf den Kaufmann John Allan bezieht.

    Über die individuelle Biographie hinausweisend erkennt Collmer bei Poe das Bestreben, "der Vater seiner selbst zu werden", sich selbst hervorzubringen. Damit benennt er, meine ich, einen Anspruch, die geheime Triebfeder eines jeden Dichters oder Künstlers, der diesen Namen verdient. Der "Horror der Sprache" im Titel von Collmers Studien ist als Grauen vor der Sprache zu verstehen. Poe revoltiert mit seinen schweigenden bzw. die verständliche Kommunikation verweigernden Protagonisten gegen die Sprache - in ihrer Eigenschaft als Gesetz, Gott, Vater, universelles Tauschmittel und Garantin der Vernunft. "Es ist ‚der Despot'", zitiert Collmer Deleuze und Guattari [sprich: Gattari] , "der die Stimme und die Schrift erschafft - bei Poe hatte John Allan diese Rolle inne. Der Kampf gegen den Vater ist hier der Kampf mit der Sprache gegen die Sprache, der Kampf um die eigene (den Vater negierende) Sprache. Eine ‚orthodoxe' Freudianerin wie Marie Bonaparte...unterschätzt die Rolle der Sprache und entsprechend sowohl das Begehren der Selbstkonstitutivität wie auch (damit zusammenhängend) das nach Selbstauflösung."

    Ließ Poe noch stellvertretend die Protagonisten seiner bizarren Fiktionen - schweigend, schreiend, lautmalend etc. - Körpersprache praktizieren, indem er in den diskursiven Text Triebgeschehen quasi einschmuggelte, so verwarfen seine späteren Erben derartige Umwege. Thomas Collmer demonstriert dies u.a. am Beispiel des späten Antonin Artaud, William Seward Burroughs' sowie des Dichters und Rocksängers Jim Morrison.