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Poesie statt Vergangenheitsbewältigung

Eine Wundertüte voller Entdeckungen ist das Theaterfestival "Neue Stücke aus Europa". Besonders die Theaterabende aus dem ehemaligen Ostblock überzeugen in diesem Jahr. Es scheint, der Balkan hat den Fall des Eisernen Vorhangs und die Folgen verarbeitet und wendet sich erneut der Poesie zu.

Von Ruth Fühner | 21.06.2010
    Ein nackter schwarzer Bühnenkasten, ein Geviert aus weißen Bänken, vier großartig-lässige Schauspieler und ein sanfter Komiker, dem die geschwellte Brust die Jackettknöpfe zu sprengen droht – mehr braucht es nicht für das erste Theaterwunder dieser Biennale. "Angenehmschrecklich" heißt das Stück der bulgarischen Autorin Jana Borissowa. Ein Traum von einem Garten mit Rosen, Springbrunnen und einer Allee aus Walnussbäumen kommt darin vor, ein imaginäres Rückzugsgebiet für eine verletzte Seele. Doch die Träumerin bleibt darin nicht allein. Auch ihre Freunde mühen sich, keins der Pflänzchen am Wegesrand zu knicken, wollen die prekäre Balance des Unglücks nicht stören, die sie alle verbindet, die beiden scheu liebenden Brüder, die schrille Bedürftige und die selbstgenügsame Gärtnerin. Zwar geht es hier anti-illusionistisch zu wie einem Labor; aber trotzdem entsteht eine Atmosphäre von schwebender Poesie, in der jede Spur von Sentiment und Beziehungsrealismus sofort verpufft. Dass den Worten ohnehin nicht zu trauen und alle Sprache Spiel ist, illustriert als Schriftzug an der Wand Gertrude Steins berühmtes Diktum von der Rose die eine Rose die eine Rose ist. Ein hinreißendes, kluges kleines Stück, das souverän auch über die ästhetischen Mittel der Postmoderne verfügt.

    Das tut auch, auf ganz andere Weise, der serbische Festivalbeitrag. Milena Markovics "Puppenschiff" ist eine wüste, wütende Collage aus Grimms Märchen, ein dunkles Musical auf einer zugemüllten Bühne. Erzählt werden Bruchstücke aus der Geschichte einer Menschenfresserin, die einmal ein abenteuerlustiges, neugieriges Mädchen war, dann eine missbrauchte Frau, schließlich, als erfolgreiche, aber ihrer eigenen Potenz ungewisse Künstlerin, ein alkoholkrankes Monster, zu Tode gebracht wie die Hexe in "Hänsel und Gretel". Die Inszenierung lebt von der großartigen Jasna Duricic, die Kind und Wrack zugleich ist, stark und schwach, Opfer und Täterin, Glut unter der Asche.

    Ein Paradigmenwechsel? In der Vergangenheit schienen die Theaterproduktionen vom Balkan bei den "Neuen Stücken aus Europa" meist zuständig für die jüngste, blutige Vergangenheit, die politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen nach 89, das Erbe der jugoslawischen Bürgerkriege. Jetzt scheint die Zeit für poetische Zugriffe und individuelle Schicksale gekommen zu sein. Der Raum allerdings, der sich dabei eröffnet, ist nur scheinbar befriedet. In Wirklichkeit ist er geprägt von sexistischer Gewalt in ihren gröberen und subtileren Spielarten - zur Beruhigung also kein Grund.
    Das machte auch die Produktion aus Italien deutlich; Emma Dantes "Die Nutten", ein Stück aus dem Transvestitenmilieu, schrill und derb und hochartifiziell. Leider steckt der Erzählungsreigen – von Missbrauch und Diskriminierung, Gewalt und romantischen Träumen - voller Klischees; zwischen furiosen Anleihen aus Volkstheater, "La Cage aux Folles" und Bildender Kunst fand nicht mehr statt als Aufklärung mit dem Zeigefinger.

    Genau das Gegenteil leistet sich der mittlerweile international wohl berühmteste Gast der diesjährigen Biennale, der Lette Alvis Hermanis. In "Marta vom Blauen Hügel" erzählen zwölf Personen, aufgereiht an einem Abendmahlstisch, Legenden, die sich um eine dörfliche Heilerin ranken. Um Kritik an diesen Zeugnissen haarsträubenden Aberglaubens geht es Hermanis kaum, eher darum, sie als ein Stück aussterbender Folklore zu dokumentieren - dramaturgisch leider vollkommen spannungslos, aber sehenswert wegen der phänomenal ausgewählten Typen, die hier versammelt sind: Jeden von ihnen glaubt man auf Anhieb zu kennen – aus der Bibliothek, der Sparkassenfiliale oder vom Wochenmarkt.

    Die Neuen Stücke aus Europa sind und bleiben eben eine Wundertüte – manch großer Name enttäuscht, dafür sind Entdeckungen zu machen, wo man sie nicht vermutet. Und das ist gut so, denn: Was könnte neugieriger machen auf ein Theaterfestival?