Carsten Liesenberg vom Landesamt Thüringen für Denkmalpflege und Archäologie wartet im denkmalsanierten Haus "Neustädter Straße 101" gleich hinter dem Bahnhof. Wir sitzen in der Schauwohnung zwischen floralen Wänden und schlichtem hellen Mobiliar. Hier fand man 2017 originale Wandfassungen aus den 1920er Jahren. Liesenberg ist Tessenow-Kenner und machte die Stadt Pößneck auf ihr kulturelles Erbe mit vierundsiebzig noch bestehenden Bauten des Reformarchitekten aufmerksam. Dieses wird derzeit im Rahmen einer Sonderausstellung namens "undogmatisch modern" dokumentiert:
"Es sind drei Siedlungen und davon liegt eine relativ weit außerhalb. Am Gruneberg. Das ist die erste Siedlung gewesen, die auch den ländlichsten Charakter hat. Und dann sind es zwei Siedlungen in der Nähe des unteren Bahnhofes, wo die Eisenbahn nach Jena abfährt. Die Siedlung Am Gries und Neustädter Straße /Saalbahnstraße. Und diese letzte Siedlung, das ist schon eine Siedlung, wo es dann Mietshäuser sind. Die anderen beiden sind Ein- und Zweifamilienhäuser."
Zweckmäßige Wohnungen für den Aufbau nach dem Ersten Weltkrieg
Wie in vielen anderen Städten Deutschlands war nach dem Ersten Weltkrieg auch in der Industriestadt Pößneck der Wohnraum knapp. Der Siedlungsbau Heinrich Tessenows von 1920 bis 1923 ist eng verbunden mit der sozialen Frage guten Wohnens für alle. Im Mittelpunkt standen Anforderungen an Licht, Luft, Hygiene und gesunde Lebensführung. Auf den ersten Blick wirken die Häuser unscheinbar, eher zweckmäßig. Vieles durch die Jahrzehnte überformt. Doch die Anordnung der Bauten und deren Architektur ergibt in jeder Siedlung ein Ganzes. In der Mitte ein Platz, ein Hof, eine Straße, erklärt Liesenberg:
"Eigentlich ist das Schöne an Tessenows Lösungen, dass man sie nicht merkt, wenn sie funktionieren. Es verbreitet eine Atmosphäre, anders als bei den gängigen Vorstellungen von der klassischen Moderne, wo man die großen weißen Flächen hat und die sehr aseptische Atmosphäre, wo alles sauber ist, kaum Pflanzen sind. Diese Dogmatik, die es bei vielen Vertretern des Bauhauses gab, die gesagt haben, ab jetzt baut man nur noch Flachdächer, ab jetzt gibt es überhaupt keine Ornamente mehr, ab jetzt macht man nur noch diese Farbgebung. Das ist bei Tessenow anders. Deswegen ist die Verbindung von Städtebau, Architektur und Innengestaltung bis hin zur Möblierung bei ihm so wichtig."
Wohnküche als zentraler Raum für die Familie
"Die Häuser sind sehr unterschiedlich. Wir wohnen in einem sieben mal acht, fast quadratischen Baukörper mit Flachbau dran, wo wir Bad und Küche drin haben. Andere Häuser sind mit schräger Wand, weil sie ein Giebeldach haben. Was den Häusern allen gleich ist, der größte Raum ist die Wohnküche. Das war Bestandteil des Konzepts von Heinrich Tessenow, dass die Familie einen beheizten Raum hat mit Essecke, mit Herd, wo sich alles versammeln und treffen konnte. Die Wohnküche ist für viele noch der zentrale Raum."
... ergänzt Siegbert Würzl. Er lebt seit 1947 in einer der Siedlungen. Für jedes Haus plante Tessenow einen Garten zur Selbstversorgung und Kleinviehhaltung, eine Bank und einen Apfelbaum. Würzl kann sich noch gut erinnern, wie man sich vor den Häusern traf und miteinander ins Gespräch kam. Die meisten Grundstücke der Tessenow- Siedlungen sind in Privatbesitz. Nach 1989 wurde der Denkmalschutz durch Bürgerbegehren und zum Teil fachlicher Fehleinschätzung größtenteils aufgehoben.
Siedlungen sollen wieder unter Denkmalschutz stehen
Die Stadt Pößneck plant, die unterschiedlichen Siedlungen wieder neu unter Schutz zu stellen. Laut der Kommunalen Wohnungsgesellschaft, die noch sieben unsanierte Objekte mit Originaldetails im Bestand hat, wird zukünftig achtsamer saniert und neuer Wohnraum geschaffen. Mit Blick auf weitere Sanierungen hat Denkmalpfleger Carsten Liesenberg klare Erwartungen:
"Ich halte es nicht für sinnvoll, Dinge in den Ursprungszustand zurückführen, die ganz stark verändert sind. Es geht darum, dass man es zum einen vom Stadt-, und Straßenbild wieder stärker erkennbar macht und an bestimmten Stellen, z.B. in der Modellwohnung Neustädter Straße, wo auch noch mehr vorhanden ist, modellhaft Dinge mit stärkerem Substanzbezug saniert."
Bewohner der Häuser sollen einbezogen werden
Liesenberg will, dass die Bewohner der Siedlungen in den Prozess mit einbezogen werden. Und er hofft, dass mit dem Projekt undogmatisch modern der Stadt Pößneck selbst größere Aufmerksamkeit widerfährt, die Bewohner sich stärker mit ihrem industriellen und kulturellen Erbe identifizieren und die Stadt auch wieder wachsen kann. Das hofft auch Bürgermeister Michael Modde:
"Besonders toll fand ich den Ansatz, dass Tessenow wohl gesagt hat, dass die Idealform des Zusammenlebens so Städte mit 15.000 bis 20.000 Einwohner sind, wobei das auch stimmt. Man kennt sich, man ist vernetzt, die Sozial-, und Kriminalstatistik tut ein Übriges, die ist nicht so hoch wie in Großstädten, weil die Anonymität einfach nicht da ist. So dass man darüber nachdenken muss, ob das nicht auch ein Mittel ist, der Überfrachtung der Großstädte entgegenzutreten, indem man diese Kleinen und Mittelstädte aufwertet. Und dass das vielleicht auch eine Zukunftsidee hat."