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Polen
Aktivisten protestieren nach Selbstverbrennung eines Mannes

Mitten in der polnischen Hauptstadt Warschau hat sich ein Mensch selbst angezündet. Er wollte seine Tat politisch verstanden wissen - als Aufschrei gegen die rechtskonservative Regierung. Das war vor zwei Wochen, inzwischen ist der Mann tot. Gestern Abend fand eine Gedenkfeier für ihn statt.

Von Florian Kellermann |
    Trauerkundgebung in der ponischen Hauptstadt Warschau für den 54-jährigen Piotr Szczesny, der sich öffentlich selbst angezündet hatte
    Trauerkundgebung in der ponischen Hauptstadt Warschau für den 54-jährigen Piotr Szczesny, der sich öffentlich selbst angezündet hatte (Deutschlandradio / Florian Kellermann)
    "Ich, ein einfacher, grauer Mensch", steht auf die schmutzige Wand gesprüht. So hat Piotr Szczesny sich in einem seiner Abschiedsbriefe selbst genannt. Darunter leuchten hunderte Grablichter an diesem unwirtlichen Ort zwischen Bushaltestelle und Betontreppe. Der Platz der Paraden atmet noch den Geist des Kommunismus, im Hintergrund stemmt sich der Kulturpalast aus der Stalin-Zeit gegen den feuchten Nachthimmel.
    Jerzy Radziwilowicz, 67 Jahre alt, ist zum ersten Mal hier - seit jenem schrecklichen Donnerstag vor zwei Wochen:
    "Diese Tat war der tragischste Ausdruck für das, was in vielen von uns steckt. Er wollte uns wirklich etwas sagen. Gleichzeitig steht die Tat auch für die Ratlosigkeit, die Hilflosigkeit, die wir gegenüber dem empfinden, was in Polen passiert."
    Es war die erste offiziell angemeldete Gedenkfeier für Piotr Szczesny, die gestern Abend vor dem Kulturpalast stattfand. Genau hier hatte sich der 54-Jährige mit einer leicht brennbaren Substanz übergossen und angezündet. Vor wenigen Tagen starb der Chemiker im Krankenhaus, seit seiner Tat war er bewusstlos gewesen.
    Gegen die "faktische Zerstörung" der unabhängigen Justiz
    Der Abschiedsbrief wird verlesen, mit dem sich der Verstorbene an seine Landsleute wandte:
    "Ich protestiere dagegen, dass die Regierenden die Prinzipien der Demokratie verletzen. Insbesondere gegen die faktische Zerstörung des Verfassungsgerichts und das System unabhängiger Gerichte."
    An anderer Stelle heißt es:
    "Ich rufe euch alle auf: Wartet nicht länger. Die Regierung muss gestürzt werden, bevor sie unser Land ganz vernichtet und uns die Freiheit ganz nimmt. Ich liebe die Freiheit über alles. Wacht auf, es ist noch nicht zu spät!"
    Auch von seiner Krankheit berichtet Piotr Szczesny in seinem letzten Brief, von seinen Depressionen. Trotzdem wollte er seinen Selbstmord als politische Tat verstanden wissen.
    "Die Regierung muss gestürzt werden, bevor sie unser Land ganz vernichtet" - das schrieb Piotr Szczesny in seinem Abschiedsbrief.
    "Die Regierung muss gestürzt werden, bevor sie unser Land ganz vernichtet" - das schrieb Piotr Szczesny in seinem Abschiedsbrief. (Deutschlandradio / Florian Kellermann)
    Aber kann eine derart radikaler Schritt angemessen sein im heutigen Polen, in dem es doch immerhin eine parlamentarische Opposition gibt und unabhängige Medien? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Einige regierungskritische Publizisten sprachen von einer Märtyrertat. Sie stellten sie in eine Reihe mit den Selbstverbrennungen von Oppositionellen in totalitären Regimen.
    "Wir müssen uns alle bemühen, wieder miteinander zu sprechen"
    Anders reagierte Agnieszka Wisniewska vom ebenfalls regierungskritischen Internetportal "Politische Kritik":
    "Ich kommentiere das nicht. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, kein Aufsehen um Selbstmorde zu machen."
    Aber auch auf Regierungsseite wurde die Tat von einigen politisch interpretiert, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Innenminister Mariusz Blaszczak erklärte, die Opposition sei schuld am Tod von Piotr Szczesny. Er sei der irrationalen Propaganda gegen die Regierung zum Opfer gefallen.
    "Ich kann die Freiheit nicht abgeben" - dieses Lied ließ der 54-Jährige mit einem Rekorder erklingen, als er Hand an sich legte. Auch gestern vor dem Kulturpalast wurde es gespielt. Wie die Tat von Piotr Szczesny auch zu bewerten sei, sie sollte doch alle zum Innehalten bringen, meinte Agnieszka Krzyk, technische Angestellte der Universität Warschau:
    "Wir müssen uns alle bemühen, wieder miteinander zu sprechen. Eine Mauer ist gewachsen, die mitten durch die Gesellschaft geht. Wir müssen diese Spaltung überwinden."