Archiv


Polen befürchten Emigrationswelle

Ab dem 1. Mai genießen Beschäftigte aus osteuropäischen EU-Ländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt die volle Freizügigkeit. Während viele Polen auf höhere Löhne hoffen, sind die Arbeitgeber in Alarmbereitschaft: Sie fürchten, dass sie nicht mehr genug qualifizierte Facharbeiter finden.

Von Florian Kellermann |
    Die Cafeteria der Universität in Zielona Gora: Mateusz und Kamil haben sich eine Flasche Cola gekauft und stützen den Kopf missmutig in die Hände. Gerade haben die Informatik-Studenten erfahren, dass Seminare, mit denen sie fest gerechnet hatten, ausfallen werden. Mateusz ist enttäuscht von seiner Hochschule:

    "Sie bringen uns hier fast nur Programmieren bei. Vieles andere fällt unter den Tisch, die Verwaltung von Netzwerken zum Beispiel oder Computergrafik. Ich hoffe, das ändert sich noch. Ansonsten muss mich eben anderswo weiterbilden."

    Der 22-Jährige studiert im schlesischen Zielona Gora, weil er sich hier zu Hause fühlt. Er ist in der Stadt mit ihren 100.000 Einwohnern aufgewachsen und will später auch hier arbeiten. Der Blick in die Zukunft macht ihm aber mindestens genauso viel Kopfzerbrechen wie das Studium.

    Denn Mateusz möchte einmal eine Familie gründen - und dafür brauche er mindestens umgerechnet 650 Euro im Monat, sagt er. Viele Firmen zahlten Studienabgängern aber nur 400 Euro. Deshalb denkt er darüber nach auszureisen, nach Deutschland:

    "Viele Kommilitonen machen sich solche Gedanken. Manche wollen sogar auf jeden Fall weg, weil sie sich im Westen mehr Perspektiven erhoffen. Vielleicht reisen ja so viele aus, dass die Arbeitgeber auch hier höhere Gehälter zahlen müssen."

    Rechtliche Beschränkungen gibt es für Mateusz und seine Studienkollegen bald nicht mehr: Vom 1. Mai an können sie ohne spezielle Arbeitserlaubnis in Deutschland eine Stelle annehmen. In Zielona Gora und im ganzen westlichen Polen wird das viele locken: Die Grenze zu Deutschland ist nicht weit, wer auf der anderen Seite beschäftigt ist, kann pendeln oder zumindest am Wochenende nach Hause zur Familie fahren.

    Schon seit 2004 beweisen viele Polen, dass sie bereit sind, Arbeit außerhalb Polens anzunehmen, um sich einen höheren Lebensstandard leisten zu können. Damals trat das Land der Europäischen Union bei. Einige westliche Länder handelten eine Übergangsfrist aus, andere wiederum öffneten ihren Arbeitsmarkt sofort, zum Beispiel Großbritannien. Hier siedelten sich seitdem 550.000 Polen dauerhaft an.

    Die Wirtschaftswissenschaftlerin Krystyna Iglicka hat diese Emigration untersucht:

    "Nach England sind vor allem Junge ausgewandert, die noch keine Erfahrung am Arbeitsmarkt hatten. Aber nach Deutschland werden auch Ältere gehen - einfach, weil das Risiko nicht so hoch ist. Deutschland ist nahe, und viele Polen haben dort schon Verwandte oder Bekannte, die ihnen helfen. Ich rechne mit einer neuen Emigrationswelle."

    Unklar ist allerdings, wie groß die Welle sein wird. Krystyna Iglicka rechnet mit einer Million neuen Arbeitssuchenden aus Polen. Die polnische Regierung dagegen geht von wesentlich geringeren Zahlen aus. 400.000 würden es maximal sein, erklärt das Wirtschaftsministerium - wer Recht hat, wird sich zeigen.

    Während viele Polen auf höhere Löhne hoffen, sind die Arbeitgeber in Alarmbereitschaft. Sie fürchten, dass ihnen die Facharbeiter weglaufen und die Lehrlinge ausbleiben. In den westlichen Bezirken sollen schon deutsche Firmen unterwegs sein, die gezielt Arbeiter abwerben. Davon hat auch Wladyslaw Komarnicki gehört, ein Bauunternehmer aus Gorzow bei Frankfurt an der Oder. Er ist empört:

    "Ich arbeite mit meiner Firma seit 18 Jahren in Deutschland, und nie durfte ich dort Hauptauftragnehmer sein. Ich musste immer als Subunternehmer arbeiten. Jetzt wollen uns deutsche Firmen auch noch die Facharbeiter wegnehmen. Das dürfen wir nicht zulassen."

    Viel können polnische Unternehmer allerdings nicht gegen die Abwanderung tun. Sie können es sich nicht leisten, die Gehälter drastisch anzuheben. Bei den jungen Polen haben sie mit einem zweiten Nachteil zu kämpfen - mit dem polnischen Ausbildungssystem: Das deutsche Modell mit Berufsschule und Praxis im Betrieb gilt als vorbildlich, in Polen lernen die Azubis zu viel Theorie, sagen Experten. Mutige junge Menschen - und damit gerade die Besten - könnten es also vorziehen, gleich mit der Ausbildung in Deutschland zu beginnen.

    Mateusz, der Informatiker, will erst einmal abwarten. Vielleicht findet er ja doch eine gute Arbeit in Zielona Gora, hofft er. Mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu, dass er Angst hat, sich in Deutschland von seinem geliebten Auto trennen zu müssen:

    "Das ist 30 Jahre alt und produziert so viele Abgase, dass die Deutschen mich damit wahrscheinlich gar nicht nach Berlin hinein fahren lassen würden. In Zielona Gora gibt es Gott sei Dank noch keine so strengen Auflagen."