"Dzien dobry" – "Guten Tag." Ein junger Mann Anfang 30, polnischer Herkunft, betritt die Apotheke in der South Ealing Road. Sie ist eine nicht allzu belebte Geschäftsstraße, 200 Meter weiter vorne hält die Piccadilly Line, die U-Bahn-Linie, die zum Flughafen Heathrow führt. Außen am Backstein-Reihenhaus steht in großen grünen Lettern "Richards Pharmacy". Darunter etwas kleiner der Name der polnisch-stämmigen Inhaberin der Apotheke: Dudzinska.
"Ealing ist eine Gemeinde mit sehr vielen Polen. Einige davon sprechen noch kaum englisch. Denen fällt es dann leichter, hier zu mir kommen, als zu einer Apotheke an der Hauptstraße mit viel Betrieb. Hier können sie sich besser verständigen und mir sagen, was sie brauchen."
Der Kunde, der gerade hereingekommen ist, heißt Gregorz und arbeitet seit 14 Jahren schon auf dem Bau in London. Dann meint er etwas überraschend und unter dem Applaus von Frau Dudzinska, dass er mit dem, was David Cameron von der EU will, völlig einverstanden ist.
"Wenn du in ein anderes Land kommst, dann musst du selbst dem Land erst einmal etwas geben. Natürlich kann etwas passieren, man verliert seinen Job, hat Probleme mit der Gesundheit oder in der Familie. Aber erst einmal musst du ein, zwei oder drei Jahre Steuern bezahlen. Und danach kann man Unterstützung erwarten, denn dann hast du ja selbst vorher Geld eingezahlt."
Gregorsz nimmt selbst keine Unterstützung in Anspruch, er fühlt sich jung und verdient auch so viel, dass er keinen Anspruch auf sogenannte In-Work-Benefits hätte. In-Work-Benefits sind staatliche Zuschüsse zum Lohn von Geringverdienern. Je nachdem können sie – wenn der Ehepartner nichts verdient - 500 Pfund, also 650 € oder mehr pro Monat betragen. Dazu kommt Kindergeld auch für Kinder, die zuhause in Polen leben.
"99 Prozent derjenigen, die hierher kommen, arbeiten doch, wirft die Apothekerin ein. Wir beschäftigen hier polnische Angestellte, sie arbeiten wirklich hart. Ist es nicht so, Christina?" fragt sie ihre Angestellte. "Das sind die Regeln der EU, ich kann Cameron verstehen, dass er das ändern will. Er will die britische Bevölkerung schützen. Er ist Brite, wir sind nur Ausländer. Wir kamen hierher und wir müssen das akzeptieren."
Der Bahnhof Ealing Broadway, vielleicht gut einen Kilometer weiter. Hier gleich nebenan hat der Historiker Piotr Stolarski sein Büro. Er arbeitet im Local History Center und betreut das Stadtteilarchiv. Der Mitdreißiger trägt einen modischen Vollbart und Brille und erklärt, dass die polnische Gemeinde in Ealing heterogen sei. Kurz gesagt: Die Etablierten betrachten die Neuankömmlinge etwas kritisch.
Wir stehen vor dem Portal der polnischen Kirche von Ealing, ursprünglich anglikanisch wurde sie schon im 19.Jahrhundert von polnischen Christen gekauft und ist seitdem katholisch. Ein Straßenbauarbeiter mit gelber Warnweste kniet unter der Empore andächtig auf dem blanken Steinboden. Sonntags sei die Kirche brechend voll, 4500 Gläubige verteilen sich auf acht Messen.
"Seit 2004 kamen viele polnische Migranten hierher, also seit dem EU-Beitritt. Viele zwischen 20 und 30, viele gehen in die Kirche. Sie haben jetzt selbst Familie und schicken ihre Kinder zu den polnischen Samstagsschulen. Das ist eine sehr lebendige örtliche Kirchengemeinde."
Der Turm der Kirche läuft spitz hoch in den Himmel, sie sieht viel älter aus mit ihren massiven grauen Steinen als 19. Jahrhundert. Stolarski selbst hat längst einen britischen Pass, er ist mit drei Jahren schon hierher gezogen. In der Schule kann er sich nicht erinnern, von englischen Mitschülern gehänselt worden zu sein.
In der ersten Etage des modernen und großen Einkaufszentrums von Ealing ist das Archiv untergebracht – als Teil der Stadtbibliothek. "In den letzten 15 Jahren ist das Stereotyp vom polnischen Bauarbeiter und Handwerker entstanden. Die Polen werden geschätzt, weil sie gut und für wenig Geld arbeiten. Aber wenn Sie das Stereotyp immer und immer wieder benutzen, dann entsteht der Eindruck, dass die gesamte polnische Community nur aus Wanderarbeitern besteht. Und von denen nähmen einige den Briten den Job weg."
Piotr Stolarski ist selbst promovierter Historiker, sein Vater arbeitete als Professor für Maschinenbau an einer Hochschule in London. Diskriminierung gebe es in London schon, an den Blicken im Bus spüre er manchmal die Geringschätzung. Deswegen verursacht ihm die Debatte über EU-Migranten und ihre Sozialansprüche einiges Unbehagen.
"Wenn die Zuschüsse denn wirklich der britischen Wirtschaft schaden, dann ist halt solch eine Lösung nötig. Aber dann ruft der Historiker in Erinnerung, dass Polen im Zweiten Weltkrieg zusammen mit Briten gekämpft haben. Und wie sehr Polen in seiner Geschichte gelitten habe. Grundsätzlich ist es richtig, wenn Polen in Großbritannien oder das Land Polen von der EU Unterstützung erhalten. Wenn wir in Europa Solidarität anstreben, dann müssen wir an die Geschichte Europas denken – und nicht nur oberflächlich an das, was jetzt gerade geschieht."