Die polnische Stadt Kielce im Sommer 1946. Das Gerücht verbreitet sich, Juden hätten ein christliches Kind entführt, um es zu ermorden und dessen Blut für vermeintliche jüdische Rituale zu nutzen. In einem Pogrom, an dem auch Polizisten und Soldaten beteiligt sind, werden 42 Überlebende des Holocaust ermordet, rund 80 verletzt. In der Stadt im Südosten Polens lebten bis 1941 25.000 Juden; nach dem Krieg waren rund 200 in den Ort zurückgekehrt. Der polnisch-US-amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross hat in seinen bahnbrechenden Büchern "Nachbarn" und "Angst" nachgewiesen, wie tief der Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft verwurzelt war. Aber dennoch - wie konnte so ein Pogrom wie Kielce – ein Jahr nach der Shoah - geschehen? Jan Tomasz Gross, Professor für Geschichte an der Princeton University:
"Ich denke, es hat damit zu tun, dass viel von dem Besitz, der den Juden gehörte, nach deren Tod in die Hände der lokalen Bevölkerung geriet. Und es hat auch damit zu tun, dass Einheimische nach dem Überfall der Deutschen 1939 zu deren Komplizen gegen die Juden wurden. So fühlten sich viele Einheimische durch die Rückkehr der Juden bedroht. Das alles traf auf ein antisemitisches Klischee, dass die Kommunisten Juden seien, und die Macht in Polen übernommen hätten: also die Juden wurden als eine Bedrohung wahrgenommen, und so geschahen diese furchtbaren antisemitischen Ausschreitungen."
Der Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sieht noch eine weitere Ursache für das Pogrom von Kielce: den Jahrhunderte alten katholischen Antijudaismus:
"Der polnische Antisemitismus war auch sehr stark religiös geprägt. Deshalb hat da der Ritualmordvorwurf noch gegriffen und hat dann die Katastrophe ausgelöst. Für die Situation der polnischen Gesellschaft war Antisemitismus eine Einstellung, die ganz natürlich und selbstverständlich war mit einer langen und auch religiösen Tradition."
Auch wenn neun an dem Pogrom Beteiligte zum Tode verurteilt wurden - das Pogrom von Kielce war ein Fanal für die polnischen Juden: Sie waren in ihrer Heimat nicht mehr sicher.
"So haben die Juden das verstanden. Der größte Teil von ihnen ist dann Richtung Westen geflohen und hat dann sein Heil in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands gesucht."
Mehr als 100.000 Holocaust-Überlebende verließen 1946/47 Polen, gingen in die Camps für Displaced Persons in die deutschen Westzonen und warteten dort auf die Ausreise nach Israel oder Nordamerika.
Aber Polen war 1946 kein Einzelfall. Auch in Rumänien, Ungarn, der Tschechoslowakei und in Jugoslawien kam es zu antisemitischen Übergriffen. Auch hier organisierte die zionistische Organisation Berihah die Ausreise von insgesamt 250.000 Holocaust-Überlebenden.
Die kommunistischen Staatsparteien in Osteuropa hatten kein Interesse daran, den Antisemitismus zu problematisieren. Das galt besonders für Polen. In der Volksrepublik durfte über die Verbrechen von Kielce nicht publiziert werden. Der Historiker Jan Tomasz Gross, der 1969 aufgrund des damaligen Antisemitismus Polen verließ und in die USA emigrierte:
"Viele Jahre wurden die Ausschreitungen verschwiegen. Keine Gesellschaft will mit so schrecklichen Dingen konfrontiert werden, die einmal geschehen sind. Und es gab auch keine Politiker in Polen, die offen darüber reden wollten. Die kommunistische Partei wollte nicht mit irgendwelchen jüdischen Themen in Verbindung gebracht werden wegen der vorherrschenden Vorurteile in der polnischen Bevölkerung, dass die Kommunisten doch alles Juden seien, dieses jüdische-bolschewistische Klischee war sehr verbreitet."
Gerade der katholische geprägte Antisemitismu sei ideologischer Kitt für die polnische Gesellschaft, sagt Wolfgang Benz. Als im 19. Jahrhundert kein polnischer Staat existierte, hielten ethnische und religiöse Überhöhungen das Nationalgefühl zusammen. Die Auswirkungen seien noch heute zu spüren:
"Bis zum heutigen Tag ist die Judenfeindschaft in Polen vor allem ein christlich-katholischer Antijudaismus, wie er etwa von Radio Maria propagiert wird, wie er vom niederen Klerus ganz selbstverständlich mit den alten Vorwürfen – vom Gottesmordvorwurf bis zur Ritualmordlegende – das wird praktiziert, das ist Teil der Volksfrömmigkeit."
Radio Marija ist ein katholischer Radiosender, der von sechs Priestern und drei Nonnen redaktionell geleitet wird. Der staatliche Rundfunkrat in Polen hat Radio Marija wiederholt wegen antisemitischer Beiträge gerügt.
Die katholische Kirche habe sich in ihrer Breite bis heute nicht kritisch mit dem eigenen Antijudaismus auseinandergesetzt, meint Benz.
"Die Inhaber der Bischofsstühle distanzieren sich, aber das spielt für das katholische Volk gar keine Rolle, und dieses innige Gemeinschaft zwischen Nationalstolz, polnischem Patriotismus und Katholizismus alter Art, für den die Juden als Gottesmörder, als Nicht-Bekehrungswillige, als Verweigerer der Heilslehre die natürlichen Feinde sind, das wird noch lange funktionieren."
In Polen ist nach dem Ende des Kommunismus neues jüdisches Leben erwacht – das zeigt vor allem das jährlich stattfindende internationale Festival in Krakau. Doch zugleich kommt es immer wieder zu antisemitischen Aktionen – wie im vergangenen November in Breslau, als eine jüdische Puppe verbrannt wurde. Die neue national-konservative Regierung distanziert sich vom Antisemitismus, allerdings beobachtet Wolfgang Benz deren Politik mit großer Sorge:
"Wenn man so national-stolz agiert und sich darstellt, dann braucht man Feinde. Es gibt "natürliche" Feinde: die Russen oder die Ukrainer, aber historisch sind auch die Juden seit eh und je zu Feinden des polnischen Selbstempfindens stilisiert worden. Deshalb sehe ich schon mit einiger Beklommenheit, wie sich nationalkonservative Politik in Polen derzeit positioniert."