Warschau, 3. Mai 1791. Nach einer dramatischen Parlamentssitzung im Königsschloss unterzeichnet der polnische König Stanislaw August Poniatowski eine neue, moderne Verfassung. Sie orientiert sich an der französischen Aufklärung, beschneidet die Privilegien des Adels, gewährt dem Bürgertum politische Rechte und sichert den leibeigenen Bauern größere Rechtssicherheit zu. Das "liberum veto", womit ein einzelner Adliger durch sein Einspruchsrecht bislang die Beschlüsse des Parlaments verhindern konnte, wurde durch ein Mehrheitsprinzip ersetzt.
"Vergessen wir nicht: Eigentlich nur in [den] Vereinigten Staaten gab es damals eine Verfassung, die vier Jahre vorher verabschiedet wurde. Polen war in dem Sinne das zweite Land in der Welt und der erste Staat in Europa, der sich eine moderne, tatsächlich fortschrittliche Verfassung zulegte."
Ein letzter vergeblicher Versuch
Die polnische Schriftstellerin Ewa Maria Slaska. Die Verfassung vom 3. Mai war ein letzter - vergeblicher - Versuch polnischer Reformkräfte, die Unabhängigkeit des polnisch-litauischen Doppelstaates zu retten. Seit 1569 bestand er aus einer Union des Königreichs Polen mit dem Großfürstentum Litauen. Der Historiker Robert Traba:
"Der große polnische Staat, noch Ende [des] 17. Jahrhunderts eine Million Quadratkilometer groß, ist am Ende des 18. Jahrhunderts ein Bestandteil des Spieles zwischen [den] großen Mächten Preußen, Österreich und Russland und eigentlich an der Schwelle der Niederlage dieses Staates. Und dieser Akt selbst war symbolisch wichtiger als praktisch ... weil, das war das letzte Gesetz überhaupt, das verabschiedet wurde von dem polnischen freien Sejm, also Parlament, im Jahre 1791."
Gescheiterte Reformen
Die Verfassungsreformen konnten nicht umgesetzt werden: Der Weg zu einem modernen, liberalen politischen System wurde von Polens Nachbarn verhindert: Sie sahen darin eine Bedrohung ihrer absolutistischen Herrschaftsformen. 1772 war Polen von Russland, Preußen und Österreich zum ersten Mal geteilt worden. 1792 kam es zum Krieg mit Russland, denn die russische Zarin Katharina II. war nicht gewillt, den Einfluss der Französischen Revolution, die "französische Pest", wie es hieß, an der Weichsel hinzunehmen. 1793 wurde Polen ein zweites Mal geteilt. Nach der dritten Teilung von 1795 verschwand es schließlich für 123 Jahre ganz von der Landkarte.
Die Mai-Verfassung bekam nachträglich eine überhöhte Bedeutung: Sie stand als Symbol für die Hoffnung auf einen eigenen, unabhängigen Staat. Nach der vollständigen Teilung des Landes nahm die Erinnerung an das Reformwerk Züge nationaler Manifestationen an, polnisch-patriotische Künstler huldigten ihr in Literatur, Malerei und Musik: 1834 erschien etwa im Pariser Exil das polnische Nationalepos "Pan Tadeusz" von Adam Mickiewicz, in dem es heißt:
"Und die Gedanken der Alten entführt die Musik ins Vergangne,
In die einst glücklichen Zeiten, da der Senat, die Erwählten
Nach jenem denkwürdigen Tage im Ratsaal am dritten des Maies
Fröhlich den König feierten, der mit dem Volke vereint war ..."
Bis heute im Gedächtnis
Als nach dem Ersten Weltkrieg 1918 wieder ein polnischer Staat entstand, wurde der "Tag der Verfassung von 1791" zum Nationalfeiertag erhoben. In der Nazi-Zeit wurde er verboten und in der sozialistischen Volksrepublik Polen als Feiertag abgeschafft, aber aus dem Gedächtnis der geschichtsbewussten Polen konnte der 3. Mai nie verdrängt werden: In den 70er-Jahren demonstrierten polnische Oppositionelle alljährlich an diesem Tag gegen die Willkürherrschaft des realsozialistischen Staates.
Seit 1990 ist der "Tag der Verfassung" wieder Nationalfeiertag: Ein bedeutender Tag für Polens politische Kultur, der an den langen, schweren Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit erinnert – und durch die gegenwärtigen innenpolitischen Spannungen eine besondere Brisanz bekommt.