Polen nach der Wahl
Zurück nach Europa, zurück zur Demokratie

Polen hat gewählt, und es sieht so aus, als müsste die nationalkonservative PiS ihre Macht abgeben. Der bisherige Oppositionsführer Tusk will unter anderem das Verhältnis zur EU befrieden und Polen wieder zu einem „normalen“ Land machen.

    Eine Frau lehnt sich aus einem Fenster und fotografiert mit ihrem Handy eine Massendemostration der polnischen Opposition - über ihr hängt die polnische, neben ihr die europäische Flagge.
    Polen und die EU: Die Chancen, dass das Verhältnis wieder besser wird, sind mit der Wahl in Polen sprunghaft gestiegen. (picture alliance / AA / Jakub Porzycki)
    Polen steuert nach der Parlamentswahl auf eine radikale Kehrtwende zu. Die regierende nationalkonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ist zwar als stärkste Kraft aus der Abstimmung hervorgegangen, hat aber keine Mehrheit mehr.
    Eine Schlüsselrolle kommt nun Oppositionsführer Donald Tusk zu, dessen liberalkonservatives Wahlbündnis Bürgerkoalition (KO) auf dem zweiten Platz landete, aber im Gegensatz zur PiS realistische Optionen für eine Koalition mit anderen Parteien hat. Sollte Tusk die Regierungsbildung gelingen, wird das Land mit hoher Wahrscheinlichkeit innen- wie außenpolitisch deutliche Richtungswechsel vollziehen. Tusk will unter anderem den Dauerclinch mit der Europäischen Union beenden und das Land wieder demokratischer machen.

    Inhalt

    Offizielles Endergebnis der Wahl in Polen

    Bei der Wahl in Polen hat die bisher regierende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) rund 35,4 Prozent der Stimmen geholt und wird mit 194 Abgeordneten stärkste Kraft im neuen Parlament. Für die liberalkonservative Bürgerkoalition (KO) des früheren Regierungschefs Donald Tusk stimmten 30,7 Prozent. Der christlich-konservative Dritte Weg kam auf 14,4 Prozent, das Linksbündnis Lewica auf 8,6 Prozent. Die ultrarechte Konfederacja holte knapp 7,2 Prozent.
    Damit hat die Opposition alle Möglichkeiten, das Land künftig zu regieren. Das Dreierbündnis von Bürgerkoalition, Drittem Weg und Neuer Linke kommt zusammen auf 248 der insgesamt 460 Sitze im Parlament und hat damit eine Mehrheit der Mandate. Auch im Senat, der weniger bedeutenden zweiten Kammer des Parlaments, gewann die Opposition die Mehrheit der Sitze. Die Wahlbeteiligung betrug etwa 74 Prozent - das ist der höchste Wert seit dem Ende des Kommunismus 1989.
    Das Ergebnis sei durchaus überraschend und so nicht von den Meinungsforschungsinstituten vorhergesagt worden, betont Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts. Das gelte für die hohe Wahlbeteiligung, den relativ großen Vorsprung der drei oppositionellen Parteienbündnisse vor der PiS als auch für das schlechte Abschneiden der rechtsextremen Konfederacja. Dass so viele Polen zur Wahl gegangen seien, sei ein „Fest der Demokratie“ und zeige, dass die polnische Zivilgesellschaft sehr engagiert sei und sich von der PiS nicht habe einschüchtern lassen, sagt Loew.
    Der Politikwissenschaftler Basil Kerski spricht sogar von „historischen Wahlen“. Die Wahlbeteiligung sei polnischer Rekord und spiegele die Stimmung im Land wieder. Die Menschen seien zu den Wahlurnen gegangen, um eine proeuropäische und „friedliche Revolution zu vollziehen“, sagt Kerski. Das Abstimmungsverhalten der Frauen habe sich außerdem gegen die „schlimme Abtreibungspolitik“ der PiS gerichtet.
    Zur Wahl aufgerufen waren rund 29 Millionen Menschen ab 18 Jahren. Sie entschieden über die Verteilung der 460 Sitze im Sejm und der 100 Sitze im Senat für die kommenden vier Jahre. Zeitgleich abgehalten wurde ein Referendum über Migration, das Renteneintrittsalter und andere Themen. Polen ist das fünftbevölkerungsreichste Land der EU und deren sechstgrößte Volkswirtschaft.

    Wer hat die größten Chancen, Polen künftig zu regieren?

    Die PiS ist bei der Wahl mit einigen Prozentpunkten Abstand stärkste Kraft geworden, aber hat nach derzeitigem Stand keine echten Optionen, um an der Macht zu bleiben. Denn es fehlt schlicht ein Koalitionspartner. Der Dritte Weg hat eine Zusammenarbeit mit der PiS bereits klar und deutlich ausgeschlossen. Wie auch die Neue Linke und die Bürgerkoalition mit Tusk an der Spitze hatte der Dritte Weg im Wahlkampf versprochen, die Macht der PiS zu brechen und die Beziehungen zur Europäischen Union wieder zu normalisieren. Es wird erwartet, dass sich die drei Parteien nun auch zusammentun.
    Tusk sagte kurz nach der Wahl, die Demokratie habe gewonnen. So ähnlich sieht es auch Róża Thun. Sie ist Europaabgeordnete der Partei Polska 2050, die wiederum Teil des Bündnisses Dritter Weg ist. Nach den Erfahrungen mit der PiS, die den demokratischen Staat habe zerstören wollen, sei den drei potenziellen Bündnispartnern klar, was das Wesentliche sei, sagt Thun - nämlich die Rechtsstaatlichkeit zurückzubringen. Für die Abgeordnete ist das eine dringende Aufgabe: „Wir haben wirklich keine Zeit. Wir müssen uns sehr beeilen.“

    Wie ist der weitere Ablauf – wann steht eine neue Regierung in Polen?

    Die polnische Verfassung sieht vor, dass der Präsident des Landes einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragt. Staatsoberhaupt Andrzej Duda hatte bereits vor der Wahl angedeutet, dass er sich an die politische Gepflogenheit halten wird, einem Vertreter der stärksten politischen Kraft diesen Auftrag zu erteilen – und das ist erst einmal die PiS. Das vorgeschlagene Kabinett muss dann vom Parlament bestätigt werden.
    Scheitert dies – was angesichts der neuen Machtverhältnisse im Sejm wahrscheinlich ist - kann das Parlament mit seiner Mehrheit eine Regierung bilden – und dann schlägt vermutlich die Stunde von Donald Tusk. Doch bis dahin können noch einige Wochen der Unsicherheit vergehen.
    Bei der Bürgerkoalition gibt man sich dennoch siegesgewiss: Der liberale Politiker Marek Krząkała sagte im Deutschlandfunk, er rechne damit, dass es spätestens Mitte Dezember eine neue Regierung gebe – mit Donald Tusk als Regierungschef an der Spitze.

    Warum galt die Abstimmung als Richtungswahl? Welche Hoffnungen ruhen auf Donald Tusk?

    Die PiS-Regierung hat sich in den vergangenen acht Jahren in der Bevölkerung mit Sozialreformen beliebt gemacht, fiel aber zugleich durch populistische Töne, Härte gegenüber Geflüchteten und Versuche auf, den Rechtsstaat zu schwächen und Medien unter ihre Kontrolle zu bringen. Wegen dieser Politik geriet die polnische Regierung immer wieder mit der EU aneinander - die EU-Kommission klagte mehrfach gegen auch in Polen umstrittene PiS-Reformen und hält wegen der gefährdeten Unabhängigkeit der Justiz 35 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbau-Fonds zurück.
    Ein weiterer Vorwurf der Kommission an die polnische Regierung waren gravierende Mängel bei der Korruptionsbekämpfung - und auch das Verhältnis zu Berlin steuerte wegen Forderungen nach Weltkriegsreparationen in Höhe von 1,3 Billionen Euro auf einen Tiefpunkt zu.
    Deswegen wurde der Ausgang der Wahl in Brüssel und Berlin mit Spannung erwartet. Denn ein möglicher Machtwechsel in Warschau bedeutet mit großer Wahrscheinlichkeit eine grundsätzliche Wende in der polnischen Innen- und Außenpolitik. Die drei oppositionellen Parteienbündnisse, die sich unter der Führung von Donald Tusk zusammentun könnten, stehen für einen proeuropäischen Kurs und eine Haltung gegenüber Deutschland, die versöhnlicher und kooperativer ist.
    Tusk hat im Wahlkampf dafür geworben, Polen wieder zu einem „normalen“ Land zu machen – er meinte damit vor allem eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und die Entpolitisierung der Justiz. Auf seiner Agenda stehen außerdem Steuererleichterungen für Arbeitnehmer und Rentner und eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Und er will den jahrelangen Streit mit Brüssel um die von der PiS initiierte Justizreform beenden.

    Wie groß wäre der Spielraum einer neuen Regierung unter Tusk?

    Bürgerkoalition, Dritter Weg und Neue Linke: Trotz der Mehrheit im Sejm könnte es eine Regierung unter Donald Tusk schwer haben. Das liegt an besonderen Machtbefugnissen des polnischen Präsidenten. Dieser kann ein Veto gegen Gesetzesbeschlüsse einlegen – und das Parlament kann dieses Veto nur mit einer Dreifünftel-Mehrheit zurückweisen.
    Der derzeitige Amtsinhaber Andrzej Duda war einst selbst PiS-Mitglied, trat nach seiner Wahl formal aus, gilt aber immer noch als parteitreu und könnte Parlamentsbeschlüsse, die ihm nicht gefallen, schlicht blockieren. Die nächste Präsidentschaftswahl findet erst 2025 statt – bis dahin könnte also die polnische Regierung im ungünstigsten Fall handlungsunfähig sein.
    Doch politische Beobachter sehen auch Möglichkeiten für Tusk, mit Duda zu kooperieren. Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, erinnert daran, dass Duda die PiS-Politik zwar grundsätzlich unterstützt, aber auch in der Vergangenheit einige Male sein Veto eingelegt habe.
    Die Hoffnung im Tusk-Lager sei nun, dass der Präsident sich in den zwei Jahren, die ihm in seiner Amtszeit bleiben, zurückhalte und einer neuen Regierung nicht allzu viele Steine in den Weg lege, sagt Loew: „Auch weil der Präsident noch ein Leben nach der Präsidentschaft haben möchte.“ Es gebe Spekulationen, dass Duda dann gern einen Posten bei einer internationalen Organisation einnehmen würde - und dazu bräuchte er die Unterstützung der liberalen Parteien: „Möglicherweise ist das ein Weg, auf dem das Präsidentenlager und die Opposition zusammenkommen können.“

    ahe