Dieses Internetvideo wurde über 600.000 Mal aufgerufen. Es zeigt offenbar Auseinandersetzungen mit jungen Demonstranten vor dem Haus Jaroslaw Kaczynkis, Parteichef der Regierungspartei PiS. Man sieht junge Demonstranten, vor allem auch einen jungen Mann, der anscheinend ein Ordnungsgeld wegen Ruhestörung erhalten hat – und sich beschwert, dass protestierende Kaczynski-Anhänger nicht belangt worden seien. Unabhängig von der Frage nach der Authentizität dieser Aufnahmen und danach, wer sie warum ins Netz gestellt hat, erkennt man eines doch wieder: das trotzige Selbstbewusstsein junger Polen auch und gerade in direkter Auseinandersetzung mit der Staatsmacht.
"Sie wollen uns zum Schweigen bringen, weil wir uns Demokratie wünschen. Wir sind ein Problem für Jaroslaw Kaczynski, ein Dorn in seinem Auge. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, denn wenn wir jetzt aufgeben, verlieren wir Polen für immer."
Was ist passiert mit Teilen der polnischen Jugend? Monatelang sah man auf den Protesten gegen die PiS-Regierung fast ausschließlich Ältere, oft Aktivisten der Solidarnosc-Zeit, die teils sogar die alten Lieder der 1990er-Jahre neu anstimmten.
Jugend geht nun auch auf die Straße
Seit Ende letzter Woche aber hat sich das unübersehbar verändert. Mit dem Anschwellen der Proteste gegen die Justizreform sind auf einmal junge Polen auf der Straße. Einige, die wir zufällig ansprechen, erklären ihren Widerstand so:
"Ich finde das unglaublich, und kann einfach nicht fassen, was gerade passiert. Mein Vater saß im Gefängnis während der Proteste in der Volksrepublik Polen. Ich habe viel darüber gehört, und jetzt soll ich mich bald in einer ähnlichen Situation befinden? Es ist noch nicht so schlimm wie früher, aber es geht in diese Richtung. Schrecklich, dass wir keine Kontrolle haben und sie machen können, was sie wollen."
"Ich habe vielleicht nicht genug geschätzt, was ich hatte. Ein normales Land. Jetzt genieße ich die letzten Momente der Freiheit. Als ich im Fernsehen die Übertragung im Parlament sah, kamen mir die Tränen. Sie flossen einfach. Es ist schrecklich, wenn ich daran denke, was in meinem Land passiert."
Ganz Polen rätselt nun, warum bei einem Teil der Jugend plötzlich der Groschen gefallen zu sein scheint. Waren die bisherigen Themen zu abstrakt, etwa der Kampf um das Verfassungsgericht?
"Hier geht's um unsere Rechte. Die Politisierung des Gerichtswesens kann dazu führen, dass ich verurteilt werde für etwas, was ich nicht getan habe. Dass ich ins Gefängnis komme für was ich sage, was ich glaube. Und dass ich nicht mehr so leicht ins Ausland fahren kann."
"In der Schule habe ich gelernt, es gibt Gewaltenteilung. Ich fühle mich daran gebunden. Vielleicht ist es nicht das beste System, vielleicht möchte ich was anderes, aber schlimmer sollte es nicht werden."
Junge Polen sind eher konservativ
Interessant ist, dass viele junge Polen eher konservativ sind, man spricht von der Generation Johannes Paul II. Familie, Nation, klassische Werte, der Kirchgang am Sonntag: Es sind gerade sie, die nun oftmals protestieren, gerne mit Nationalflagge in der Hand. Bislang, so der Warschauer Soziologe Mikolaj Czesnik im privaten Radiosender TOK FM, war diese Generation nicht politisch aufgetreten, jedenfalls nicht im engeren Sinne.
"Junge Menschen, die jetzt demonstrieren, könnten zu einer Art Avantgarde werden, und wie Multiplikatoren wirken. Vor allem in den heutigen Zeiten schneller, intensiver Kommunikation. Ich denke, es könnte zu einer Art Mode werden, gegen die Regierung zu demonstrieren. Denn sie wird gesehen, wie ein strenger Vater oder Betreuer, einer, der was wegnimmt, Freiheit beschneidet. Dieses Bild wird aufgebaut, und die jungen Leute teilen im Internet ihr Aufbegehren. Es sind schöne Erlebnisse. Dagegen den Justizminister und seine Projekte zu liken, wäre vielen peinlich."
Entsteht da eine neue, politische Generation, die den Mächtigen noch auf Jahre das Leben schwer machen wird? Zarte Ansätze gab es schon unter der Vorgängerregierung, als Jugendliche gegen Regeln zur Internetüberwachung opponierten, auch letzten Herbst, als es gegen Abtreibungen ging. Erstmals aber gehen junge Menschen nun wegen ganz grundsätzlicher Fragen auf die Straße.
EU ist vielen Jüngeren sehr wichtig
Ein wichtiger Faktor ist dabei vermutlich die EU. Denn die Europäische Union ist vielen Jüngeren wichtig, die Reisefreiheit, die Möglichkeiten, über die Grenzen des Heimatlandes hinaus zu schauen. Viele schwenken auch EU-Flaggen, neben der polnischen. Letzte Woche kritisierte die EU-Kommission die Justizreform scharf. Bald darauf strömten mehr und mehr junge Leute im ganzen Land zu den Protesten.
"Polen wäre in der aktuellen Situation nicht in die EU aufgenommen worden, und die Frage stellt sich, ob wir in der EU bleiben. Der PiS-Staat zeigt, er will die EU nur, um Geld zu bekommen. Wir teilen diese Auffassung nicht."