Archiv


Polens neue Hipster

Innerhalb kürzester Zeit hat sich Polen nach dem Kalten Krieg in eine emsige, junge Marktwirtschaft verwandelt. Nun folgt die nächste Umwälzung. Von einer kritiklosen Konsumgesellschaft in eine, die Umweltfreundlichkeit, Entspannung und Entschleunigung schätzen lernt.

Von Jan Pallokat |
    Vor ein paar Jahren waren Fahrrad-Fahrer in Warschau noch belächelte Exoten und eine Tour durch die Stadt ein Wagnis: Gilt es doch, nicht an den kantigen Regen-Rinnen am Fahrbahn-Rand hängen zu bleiben; mit Autofahrern zurechtzukommen, die keinerlei Erfahrung mit Radlern haben und im Zweifel an die eigene Vorfahrt glauben. Daran hat sich wenig geändert, und doch ist Fahrrad-Fahren plötzlich Trend. Man sieht sie überall, gern mit Fahrradhelm und Anzug, mutig auf der umtosten Fahrbahn oder sicherheitshalber auf dem Bürgersteig, junge Leute und Geschäftsmänner, die so aussehen, als könnten sie sich ein Auto durchaus leisten.

    "Seit zwei Jahren erleben wir einen sehr sprunghaften Anstieg – leider kommt die Infrastruktur da nicht mit. Ich erinnere mich noch an Zeiten, da kannte man alle Radfahrer auf dem Weg zur Arbeit persönlich. Heute fährt man in Kolonne."

    Sagt Wojczech Kaszubach, ein Pionier der Szene. Seine Initiative "Masa krityczna", "kritische Masse", fing vor 15 Jahren an, mit Sponti-Aktionen den Straßenverkehr gezielt zu stören. Etwa, in dem die damals überschaubare Gruppe an wichtigen Kreisverkehren der Stadt unentwegt Runden drehte, und so ein kleines Chaos auslöste, um auf Radfahrer-Nöte aufmerksam zu machen.

    Damals jagte die Polizei die Radler-Aktivisten. Heute gibt sie Begleitschutz bei den auf viele 100 Teilnehmer angewachsenen, regelmäßigen und längst legendär gewordenen Radfahrer-Demos. Und die Stadtverwaltung setzte sich mit einem mobilen Fahrrad-Verleih an zentralen Orten der Stadt an die Spitze der Bewegung; das System wird rege in Anspruch genommen. Und die neue Liebe der Warschauer zum Radeln ist nicht die einzige Veränderung, die ins Auge fällt.

    Anna, Mutter eines kleinen Kindes, hat gerade einen großen Bund Öko-Mohrrüben in ihren Wagen gepackt und weiteres Gemüse vom Warschauer "Biobasar". Der Markt für Öko-Produkte öffnet immer samstags in einer ehemaligen Fabrik für Ess-Besteck; in den alten staubigen Fabrikhallen hängen noch riesige rostige Abluft-Hauben in der Luft. Heute umrahmen sie ein neuartiges Markttreiben: Die Verkäufer von Kirschen, Fisch oder selbst gebackenem Brot haben in Kladden diverse Öko-Zertifikate zur Hand.

    "Uns liegt daran, dass man hier Produkte direkt vom Erzeuger kauft. Das garantiert eine andere Qualität, und auch einen anderen Preis, weil die Zwischenhändler wegbleiben. Den ersten Basar starteten wir vor drei Jahren, damals in einem kleinen Raum mit 20 Verkäufern. Und jetzt gibt es schon 70 Verkäufer und 2000 Kunden jede Woche."

    Sagt Jonna Zuchlinska von "Biobasar". Öko-Läden suchte man vor wenigen Jahren noch vergebens in Warschau; die Menschen kauften in riesigen Märkten von Carrefour oder Tesko ein, Hauptsache bunt und lange haltbar. Jetzt geht, wer was auf sich hält, zum Biobasar. Vor allem wohlhabende Warschauer mit großen, eigentlich nicht sehr ökologischen Limousinen.

    "Es gibt mehrere Gründe für diese Entwicklung. Einer: Zivilisationskrankheiten. Immer mehr Menschen leiden unter Unverträglichkeiten und Allergien gegen bestimmte Zusatzstoffe, sie brauchen unbehandelte Produkte. Ein zweiter Punkt: Es ist einfach modisch. Schauen Sie sich nur die Einkaufs-Taschen an. Früher ging man einfach los. Jetzt muss es eine bestimmte Tasche sein, wieder verwertbar und ökologisch. Sie sehen gut aus, sind bunt bedruckt: eine Frage der Mode."

    Radfahren, Öko-Einkaufen – der Soziologe Henryk Domanski kann die Liste noch fortsetzen.

    "Bestimmte Dinge werden aus Berlin und London übernommen. Aber der Inhalt verändert sich. Nehmen wir dieses westliche Phänomen des Grillens. Das nimmt bei uns fast schon humoristische Züge an. Schauen Sie sich jetzt im Sommer in diesen Plattenbau-Siedlungen um. Da grillen die Leute zwischen den Wohnblocks. Das ist doch eigentlich skurril. So was sieht man im Westen nicht."

    Die Lust, neues auszuprobieren, westliche Vorbilder zu imitieren, wird vor allem in den großen Städten gelebt, in Warschau, Breslau, Krakau, betont der Gesellschafts-Wissenschaftler.

    "Zwei weitere Beispiele. Joggen, und auch Rollerskating. Zu beidem gehört auch eine spezifische Art, sich zu kleiden. In der Provinz wäre das schon eine Provokation, etwas jenseits der Norm und des Korrekten. In der Provinz gelten diese Normen und die Menschen sind bemüht, nicht allzu sehr abzuweichen, denn das würde dort eher negativ gesehen werden."

    Auch in den Städten gibt es Widerstand. Zwar gilt es in bestimmten Kreisen inzwischen geradezu als schick, schwule Freunde zu haben – noch vor wenigen Jahren versteckte sich die Szene und war stets auf der Hut. Andererseits ist die Regenbogen-Installation auf dem Warschauer Erlöser-Platz erst vergangene Woche ein fünftes Mal angezündet worden. Und seit die Warschauer Bürgermeisterin ankündigte, auf der Marszalkowski-Straße, einer wichtigen Nord-Süd-Achse, eine Fahrrad-Spur einzurichten, machen entnervte Autofahrer ihrem Frust im Internet Luft. "Ihr macht unser Warschau zum Dorf" zählt da noch zu den milden Formulierungen. Und dennoch: Das Tempo, mit dem viele Polen neue Dinge aufnehmen, experimentieren, das Gewohnte hinterfragen, ist hoch – und zeigt, dass das Land viel offener geworden ist und toleranter.