Im Sommer 2024 tauchte das Poliovirus in Abwasserproben in Gaza auf, ein Kind wurde gelähmt. Ein Schock, denn der Erreger war dort zuletzt vor einem Vierteljahrhundert nachgewiesen worden. Die Angst vor einer Ausbreitung des Virus und der durch ihn ausgelösten Krankheit war so groß, dass sich das israelische Militär und die Hamas auf eine mehrtägige Feuerpause einigten, um 640.000 Kinder impfen zu können.
In Palästina wurden seither keine neuen Funde gemeldet, dafür tauchte das Virus andernorts auf, etwa in Abwasserproben in Großbritannien, Spanien, Polen und Deutschland – darunter in den Metropolen Köln, Hamburg und München. Beobachter befürchten, dass das Virus weitaus stärker zirkuliert als bisher angenommen.
Was ist Polio?
Polio ist die Kurzform von Poliomyelitis. Der Name setzt sich aus dem griechischen Polios („grau“) und Myelos („Rückenmark“) zusammen. Der Begriff wurde 1847 von dem deutschen Pathologen Albert Kussmaul geprägt und weltweit übernommen. In Deutschland ist die Infektionskrankheit auch unter dem Namen Kinderlähmung bekannt. Eine irreführende Bezeichnung, denn das Virus befällt auch Erwachsene, wie ein Fall in den USA zeigt. Dort lähmte das Virus im Jahr 2022 einen jungen US-Bürger in Rockland County im Bundesstaat New York, wo die regionale Impfrate bei nur 40 Prozent lag.
Das Virus wird oral aufgenommen und vermehrt sich im Darm. Von dort erreicht es über Schmierinfektionen neue Wirte. In seltenen Fällen befällt das Virus das Rückenmark und zerstört sogenannte Motoneuronen. Die Folge sind manchmal lebenslange Lähmungen, oft sind Arme und Beine betroffen. Wenn das Poliovirus die Steuerung der Atemmuskulatur beeinträchtigt, droht der Tod.
War das Virus nicht bereits besiegt?
Noch Mitte des 20. Jahrhunderts erkrankten weltweit Zehntausende an Polio. 1952 wurden allein in den USA über 58.000 Menschen gelähmt, 3.000 starben – darunter sehr viele Kinder. Der Medizinhistoriker Gareth Williams beschreibt, wie das Land damals regelrecht in Panik verfiel. Laut einer Umfrage aus dieser Zeit war nur die Angst vor einem Atomkrieg mit der Sowjetunion größer als die Angst vor dem Poliovirus.
Zwei Impfstoffe brachten die Wende. Vor genau 70 Jahren, 1955, wurde das Salk-Vakzine zugelassen. Der Totimpfstoff wird per Spritze verabreicht. 1961 kommt dann das Sabin-Vakzine auf den Markt. Ein Schluckimpfstoff, der auf inaktivierte Viren setzt
Beide Impfstoffe sind so erfolgreich im Kampf gegen das Virus, dass sich 1988 die GPEI gründet: die Global Polio Eradication Initiative. Ihr Ziel: die weltweite Eliminierung des Poliovirus – von Medizinern Eradikation genannt. Ein Vorhaben, das mit der Ausrottung der Pocken erst einmal in der Geschichte der Menschheit gelungen ist.
Weshalb verbreitet Polio sich wieder?
Es werden grob drei Varianten – Serotypen genannt – des Poliovirus unterschieden. Typ 1 hat in der Vergangenheit die meisten Ausbrüche verursacht und ist für rund 80 Prozent aller Poliofälle verantwortlich. Heute tritt dieser Typ nur noch in Afghanistan und Pakistan fortwährend gehäuft auf.
Die Wildtypen 2 und 3 gelten dagegen seit 2015 beziehungsweise 2019 als ausgerottet. Experten schätzen, dass die Impfungen seit ihrer Einführung 99 Prozent aller Infektionen verhindert haben. Ein erstaunlicher Erfolg.
Die vollständige Eradikation ist aber bis heute nicht gelungen, trotz jahrzehntelanger Forschung und Arbeit sowie Investitionen im Milliardenbereich.
In Afghanistan wurden im vergangenen Jahr 23 Infektionen mit wilder Polio registriert, im benachbarten Pakistan waren es 55. Einerseits eine überschaubare Zahl von Infektionen, andererseits ein Anstieg um das Sechsfache im Vergleich zum Vorjahr.
Im Jahr 2023 hatten sich insgesamt nur zwölf Menschen mit wilder Polio infiziert. Experten warnen, dass sich das Virus von Zentralasien aus schnell wieder in andere Teile der Welt ausbreiten kann, etwa wenn Menschen, die sich unbemerkt infiziert haben, mit dem Flugzeug reisen und so das Virus in andere Länder tragen.
Die größte Gefahr geht heute jedoch von mutierten Polioviren aus. Diese können entstehen, wenn der per Schluckimpfung verabreichte Lebendimpfstoff in Gebieten eingesetzt wird, in denen viele Menschen noch nicht gegen Polio geschützt sind. Denn die inaktivierten Viren werden über den Mund aufgenommen und von den so Geimpften wieder ausgeschieden. Über den fäkal-oralen Übertragungsweg kann das Virus dann Personen im Umfeld der Geimpften anstecken, sodass diese ebenfalls einen Schutz gegen Polio aufbauen.
Die so entstehende stumme Immunität ist ein großer Vorteil des Lebendimpfstoffs. Er wird heute deshalb vor allem in Ländern mit schlechter medizinischer Versorgung eingesetzt, weil so schnell viele Menschen geschützt werden können.
Doch die Impfung hat auch einen Nachteil: Da das verimpfte Virus nicht tot ist, sondern lediglich unschädlich gemacht wurde, steigt mit jeder Übertragung das Risiko einer Mutation. Und diese Mutation kann dann die lähmenden Eigenschaften des Wildvirus zurückerlangen.
Impfpolio betrifft also nicht den Menschen, der geimpft wird, sondern jene, die in dessen Umfeld leben und selber nicht durch ein Vakzin geschützt sind. Derart mutierte Viren waren zuletzt für die meisten Infektionen global verantwortlich. Betroffen waren und sind vor allem Länder auf dem afrikanischen Kontinent wie Tschad, Nigeria oder Äthiopien. Aber auch bei den in Gaza und in europäischen Abwässern gefundenen Viren handelt es sich um Impfpolio.
Wie konnte Impfpolio ein derart großes Problem werden?
Dass Impfpolio heute ein großes Problem ist, dafür ist auch ein 2016 global umgesetzter Impfstoffwechsel verantwortlich. Der sogenannte Switch, an dem sich 155 Länder beteiligt haben, war ein lange geplanter Schritt. Denn um Polio weltweit zu eradizieren, muss nicht nur der Wildtyp ausgerottet werden, sondern auch alle abgeleiteten Viren.
Da bereits seit Jahren alle dokumentierten Fälle von Infektionen mit Polioviren Serotyp 2 und Serotyp 3 nicht mehr auf wilde, sondern auf mutierte Impfviren zurückgehen, ist klar, dass der Lebendimpfstoff Schritt für Schritt auszuschleichen ist. Der Plan: Durch den Umstieg auf Totimpfstoff soll sichergestellt werden, dass kein mutterfähiges Material mehr in die Umwelt gelangt.
Der Switch sah vor, dass zunächst der Schutz gegen den Serotyp 2 aus der Lebendimpfung ausgeschlichen wird. Der war in seiner wilden Form das letzte Mal 1999 nachgewiesen worden und tauchte seitdem nur noch als Impfpolio auf. Und so wurde im Rahmen des Switchs der trivalente Lebendimpfstoff durch eine bivalente Variante ersetzt, die nur noch gegen Polioviren vom Serotyp 1 und 3 schützt.
Der Plan scheiterte unter anderem an logistischen Problemen. So war etwa der Totimpfstoff nicht überall rechtzeitig verfügbar. Der aber war in der Übergangszeit nach Einführung des neuen Vakzins dringend notwendig, da man lokale Ausbrüche von Impfpolio Typ 2, gegen den Kinder nun ja nicht mehr geimpft worden waren, bereits erwartet hatte.
Die New York Times hat errechnet, dass sich die Zahl der Infektionen mit mutierten Impfstoffviren von 2018 auf 2019 und von 2019 auf 2020 jeweils verdreifacht hat. Ein von der GPEI selbst in Auftrag gegebener Bericht zum Switch beschreibt die Umstellung als “uneingeschränkten Misserfolg”, in dessen Folge sich impfstoffabgeleitete Viren in über 50 Länder verbreiteten und dort mehr als 3.300 Kinder lähmten. Die Kosten zur Bekämpfung dieser Ausbrüche würden sich auf 1,8 Milliarden US-Dollar belaufen.
Wie geht es weiter im Kampf gegen Polio?
Der beste Schutz gegen Polio ist die flächendeckende Impfung von Kindern. Denn klar ist: Solange noch ein Mensch das Virus in sich trägt – sei es in seiner wilden oder mutierten Form – kann es sich erneut weltweit ausbreiten. Lückenhafte Kühlketten und schlechte Straßen erschweren die Gesundheitsversorgung in vielen von Polio betroffenen Ländern.
Doch nicht nur logistische Herausforderungen sind zu bewältigen. Vorbehalte und medizinisch unbegründete Ängste vor der Impfung erschweren den Kampf gegen das Virus in vielen Ländern.
Um Polio zu eradizieren, ist laut Weltgesundheitsorganisation eine Impfquote von 95 Prozent erforderlich. Eine Quote, die selbst viele Industrienationen nicht erreichen. Deutschland ist keine Ausnahme.
Hinzu kommen regionale Unterschiede innerhalb einzelner Länder. Solange also auch in Europa nicht deutlich mehr Eltern ihre Kinder gegen Polio impfen lassen, wird das Virus weiter zirkulieren und Menschen lähmen.