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Polit-Satire von Ian McEwan
Eine Kakerlake macht Brexit

Literatur ist immer auch ein Spiegel ihrer Gegenwart. In Romanen werden politische Umbrüche fiktionalisiert und reflektiert, so auch in Ian McEwans Polit-Satire „Die Kakerlake“. Die Sprache, die McEwan dazu wählt, trage jedoch mit zur Verrohung des öffentlichen Diskurses bei, kritisiert Tanya Lieske.

Tanya Lieske im Gespräch mit Miriam Zeh |
Buchcover Ian McEwan: "Die Kakerlake"
Als Jim Samsa eines Morgens erwachte, fand er sich in seinem Bett in den britischen Premierminister verwandelt: Ian McEwan ist in seiner Satire "Die Kakerlake" keine Pointe zu bissig (Buchcover Diogenes Verlag / Hintergrund imago / Manngold)
Großbritannien hat gewählt. Umgehend kündigte der Parteichef der siegenden Tories und künftige Premierminister Boris Johnson an, die Arbeit am Brexit noch heute aufzunehmen. Diese politischen Erosionen beschäftigen natürlich auch die Literatur. Gerade hat der britische Autor Ian McEwan eine Politiksatire veröffentlicht, in der es genau darum geht: Ein britischer Premierminister setzt ein nationales Erneuerungsprogramm um, mit dem er sich gegen Europa stellt.
Beißende Politsatire und Schlüsselroman
"Die Kakerlake" beginnt mit einer Verwandlung. Eine Kakerlake erwacht eines Morgens als britischer Premierminister. Man denkt sofort an Franz Kafka. "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt", lautet der erste Satz seiner "Verwandlung". Ian McEwan nennt seinen Protagonisten in deutlicher Anlehnung Jim Sams. Doch hier hören alle Gemeinsamkeiten schon auf. Was bei Kafka eine Allegorie auf die Ängste eines Menschen vor inneren und äußeren Kräften ist, wird bei McEwan zu einer beißenden Politsatire, meint Büchermarkt-Kritikerin Tanya Lieske.
Jim Sams ist Premierminister von Großbritannien, er will allein und als starker Mann einen so genannten Reversalismus durchführen. Mit einem vollkommen unsinnigen Wirtschaftsprogramm will er Geldströme umkehren - wer arbeitet, muss dafür bezahlen, und wer einkaufen geht, bekommt Geld geschenkt. Nach Lieskes Einschätzung wird hier ein Land willentlich ins Desaster geführt, eben genau wie beim Brexit.
Das liest sich stellenweise sehr unterhaltsam mit viel Gerangel am Kabinettstisch, so Lieske. Der mit großem Machtinstinkt ausgestatteten Premier gehe ohne Skrupel vor, jedes Mittel, auch das der Lüge und der Denunziation sei ihm recht, um seinen Reversalismus-Plan durchzusetzen. Als Schlüsselroman angelegt seien die meisten der Protagonisten mühelos zu erkennen. Mit seinem "pheromonalen Unbewussten" erkennt der Premier Jim Sams sogar, dass alle Kollegen am Kabinettstisch ehemals Kakerlaken waren.
Beitrag zur Verrohung des öffentlichen Diskurses
Hier äußert Lieske Vorbehalte gegen McEwans Roman. Es sind außerliterarische: Der Autor arbeitet mit Ekel- und mit Wimmelmotiven, es gibt Setzungen zu Essensabfällen, zu Exkrementen, zur Kanalisation und zur Dunkelheit. Gleich zu Auftakt will der Premier am liebsten eine Schmeißfliege verspeisen. Was hier stattfindet ist - bei aller Komik - Teil einer Verrohung des öffentlichen Diskurses.
Gerade aber in Zeiten, in denen die politische Elite versagt, müssen Künstlerinnen Verantwortung übernehmen, betont Lieske. Das gelte besonders für Autoren, denn sie arbeiten mit dem Material, mit dem die Auseinandersetzung geführt werden wird: mit Worten und mit Wörtern. McEwan, der sonst immer gerne Interviews gibt, hat im Vorfeld alle Interviewanfragen zu diesem Roman abgelehnt.
Ian McEwan: "Die Kakerlake"
Aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Diogenes Verlag, Zürich, 144 Seiten, 14 Euro.