„In Berlin sprach das Landgericht die Urteile im Politbüro-Prozess“, meldete die Tagesschau am 25. August 1997. „Wegen der Todesschüsse an der Mauer erhielt der frühere Staats- und Parteichef Krenz eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren. Er wurde sofort im Gerichtssaal verhaftet. Die beiden Mitangeklagten Schabowski und Kleiber wurden zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt.“
Krenz: „Ich bin kein Totschläger"
Seit November 1995 hatten Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber als Repräsentanten des ehemaligen DDR-Machtapparats auf der Anklagebank gesessen. Der Vorwurf: "Totschlag und Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR". Eine Anschuldigung, gegen die sich Krenz vehement wehrte: „Ich bin kein Totschläger und werde stellvertretend für jene DDR-Bürger verurteilt, die ihr Leben in der DDR nicht kriminalisieren lassen wollen.“
Staatsanwälte und Richter, die aus den Justizbehörden der alten Bundesrepublik kamen, betraten damals Neuland; Bernhard Jahntz, Vertreter der Anklage: „Der unmittelbar handelnde Täter, der den Finger am Abzug hatte, der ist leicht festgestellt und da ist die juristische Anknüpfung einfach. Die Strukturen bis hinauf zum Politbüro zu erarbeiten, das ist insbesondere für die Justiz, die nun nicht mit dem Politbüro groß geworden ist, das hat ein bisschen mehr Aufwand erfordert.“
Erste "Mauerschützen-Prozesse" ab September 1991
Im September 1991 hatten bereits sogenannte Mauerschützen vor Gericht gestanden. Erstmals mussten sich vier ehemalige Grenzsoldaten wegen tödlicher Schüsse auf einen Republikflüchtling verantworten. Chris Gueffroy, damals 20 Jahre alt, hatte im Februar 1989 fliehen wollen, er wurde am letzten Metallgitterzaun von zwei Kugeln getroffen und verstarb noch im Grenzstreifen. Er war das letzte Opfer, das durch den Einsatz von Schusswaffen an der Berliner Mauer ums Leben kam.
Gerhard Werle, Professor für Strafrecht an der Humboldt-Universität Berlin: „Manche haben gesagt, die Kleinen will man hängen, die Großen lässt man laufen. Der Grund war aber einfach, dass man an die Großen, an die Führung sehr viel leichter herankam, wenn festgestellt wurde, zu welchen Tötungen, unter welchen Umständen ist es gekommen. Und deshalb sind die Prozesse erstmal gegen die Todesschützen an der Grenze angelaufen. Und erst mit einer gewissen Verzögerung ist man die Leiter hochgestiegen auf die mittlere Befehlsebene und dann bis hoch zum Politbüro.“
Bewährungsstrafen für die Schützen
Im ersten Mauerschützen-Prozess wurde ein Angeklagter wegen Totschlags zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, ein weiterer zu zwei Jahren auf Bewährung, zwei Angeklagte wurden freigesprochen. Der Bundesgerichtshof hob die Urteile dann auf, im neuen Verfahren verhängte das Gericht nur noch Bewährungsstrafen. Die Urteile wurden später vom Bundesverfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt, waren jedoch wegen des milden Strafmaßes in der Öffentlichkeit umstritten. Gleichwohl eröffneten sie der Justiz die Möglichkeit, höhere Strafen für die Befehlsgeber zu fordern.
Jene Nacht im Februar 1989 hätte alle ins Unglück gestürzt, sagte der Angeklagte Andreas K. am Rande des Prozesses. Seither wäre kein Tag vergangen, am dem er nicht hätte daran denken müssen. Zu seiner Rechtfertigung sagte er: „Uns hat man das immer wieder so gesagt, dass Leute, die sich einer Verhaftung entziehen, Verbrecher sind. Und wer nichts verbrochen hat, der hat keinen Grund, sich einer Verhaftung zu entziehen. Und Leute, die praktisch auf Anruf und auf Warnschüsse nicht stehen bleiben, sind praktisch irgendwelche Straftäter, die irgendwas verbrochen haben, und so ist das in jedem Land.“
Befehlsketten und Beschlüsse in der DDR rekonstruieren
Um auch „die Großen“, die Verantwortlichen in Partei und Regierung, zur Rechenschaft ziehen zu können, mussten die Behörden Zuständigkeiten, Befehlsketten und Beschlüsse in der DDR rekonstruieren. Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin: „Die Ermittler, also die damalige Zentrale Ermittlungsstelle ZERV, die haben ja alle Akten beigezogen, die damals in den Archiven des Zentralkomitees der SED lagen, die im Nationalen Verteidigungsrat lagen. Die Beschlüsse, die dazu geführt haben, dass beispielsweise die Selbstschussautomaten aufgebaut wurden, die waren vorhanden. Und insofern konnte man nachvollziehen, wer ist für diese Beschlüsse mitverantwortlich, politisch. Und natürlich auch die militärisch Verantwortlichen, die das durchgesetzt haben. Aber die DDR hat immer betont, das ist das Recht jeden Staates, seine eigenen Grenzen so zu schützen, wie er das für richtig hält.“
Alle Fluchtversuche an der innerdeutschen Grenze registriert
Zudem konnten die Staatsanwälte auf die Unterlagen der ehemaligen Erfassungsstelle Salzgitter der Landesjustizverwaltungen zurückgreifen. Dort wurden seit 1961 alle gewaltsam unterbundenen Fluchtversuche an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze registriert.
Den Verantwortlichen in Partei und Regierung sei das Unrecht ihres Handelns bewusst gewesen, sonst hätten sie nichts vertuschen wollen, meint Ulrike Poppe, eine der führenden Bürgerrechtlerinnen in der DDR und erste Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
„Sie haben die Schützen vergattert zum Schweigen, sie haben deren Namen aus allen Akten gelöscht, also aus allen Registern, ob das Munitionsquittungen waren oder Verpflegungsscheine. Sie kamen nicht mehr vor, sie wurden versetzt, sie wurden aus dem Wäschebuch und aus der Kaderakte getilgt. Die Ärzte verfälschten den Totenschein. Die Leiche wurde gegen den Willen der Eltern verbrannt. Die Urne wurde im Friedhofsbuch nicht eingetragen. Die Einwohnermeldeämter registrierten die Flüchtlinge als ‚ungesetzlich verzogen‘, auch die Toten. Das sind ja alles Nachweise davon, wie vorsichtig sie damit umgingen in dem Wissen, dass das von der Weltöffentlichkeit als Unrecht verurteilt wird.“
Genaue Zahl der Todesopfer unklar
Wegen der Täuschungsmanöver lässt sich die genaue Zahl der Todesopfer wohl nie mehr ermitteln. Experten wie der Historiker Gerhard Sälter von der Stiftung Berliner Mauer gehen von insgesamt mehr als 600 aus. „Wir wissen es noch immer nicht ganz genau; 600, 650 Todesopfer an der innerdeutschen Grenze, in der Ostsee und in Berlin. Was wir immer und regelmäßig vergessen, es hat ja in Berlin auch schon vor 1961 ein Grenzregime gegeben, das ist ja nicht mit der Mauer angefangen. Und wir haben 39 Todesopfer auch in Berlin schon vor Mauerbau.“
Die Ermittler fanden in den Archiven von Partei und Regierung keinen formellen Schießbefehl. Doch wie war zum Beispiel die Warnung von Willi Stoph, die Flucht von DDR-Bürgern nicht untätig hinzunehmen, zu verstehen? Als indirekte Aufforderung zum Schusswaffen-Gebrauch? Stoph war als langjähriges Mitglied des Politbüros und Vorsitzender des Ministerrates einer der führenden DDR-Funktionäre. Noch vor dem Mauerbau hatte er erklärt: „Der Ministerrat erachtet es für notwendig, auch weiterhin geeignete Maßnahmen gegen Menschenhandel, Abwerbung und Sabotage zu treffen. Wir sind nicht länger gewillt, tatenlos zuzusehen.“
SED-Politbüro als Machtzentrum der DDR mitverantwortlich
Willi Stoph saß ab Mai 1991 wegen der Tötungen an der innerdeutschen Grenze 15 Monate in Untersuchungshaft, dann wurde das Verfahren wegen krankheitsbedingter Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Staatsanwälte wie Bernhard Jahntz hatten keine Zweifel, dass das SED-Politbüro als Machtzentrum der DDR für die Maueropfer verantwortlich war.
„Das war der Klassenauftrag, dass gegebenenfalls die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze über die Unverletzlichkeit eines Menschenlebens gestellt wurde aus Staatsraison; das war die Machtstruktur, in die sie sich begeben haben und an der sie dann mitgewirkt haben, als sie im Politbüro waren.“
Das Schießen wurde angeordnet
Jeder wusste, dass die Grenzsoldaten bei einem Fluchtversuch scharf schießen würden, ermuntert von Offizieren und Mitgliedern des Politbüros. Tödliche Schüsse belohnten die Verantwortlichen mit Orden, Prämien und Extra-Urlaub. Jochen Staadt vom SED-Forschungsverbund: „Es gibt Reden zum Beispiel von Albert Norden im September 1961, nachdem Willy Brandt an der Mauer über einen Lautsprecher gesprochen hat und gesagt hat, schießt nicht auf eure deutschen Brüder, hat Albert Norden vor Grenztruppen gesprochen und hat gesagt, das sind Verräter, schießt auf diese Leute. Und die Soldaten wurden aufgefordert, sich zum Schusswaffen-Gebrauch selbst zu verpflichten von Politbüro-Mitgliedern in diesen Reden. Viele, die im Dienst an der Grenze waren, berichten, dass sie mündlich vor dem Einsatz an der Grenze vergattert wurden und dass dort das Schießen als Maßnahme, wenn Flüchtlinge an die Grenze kommen und wenn die Gefahr besteht, dass sie durchbrechen, angeordnet wurde.“
Prozess gegen die frühere DDR-Staatsführung im November 1992
Nachdem sich Mauerschützen 1991 erstmals vor Gericht hatten verantworten müssen, begann der erste große Prozess gegen die frühere Staatsführung der DDR im November 1992. Angeklagt waren unter anderen Erich Honecker, Ex-Stasi-Chef Erich Mielke und Willi Stoph. Ihre Verfahren wurden wegen Verhandlungsunfähigkeit aus Krankheits- und Altersgründen eingestellt. Anders im Falle von Ex-Verteidigungsminister Heinz Keßler. Er erhielt siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe wegen Totschlags, sein Stellvertreter Fritz Streletz fünfeinhalb Jahre.
Drei Jahre später mussten sich die Politbüro-Mitglieder Krenz, Schabowski und Klaiber vor Gericht verantworten. Egon Krenz, als Nachfolger Erich Honeckers der letzte Generalsekretär der SED, bestritt die Rechtmäßigkeit des Verfahrens. „Ich gehe davon aus, dass dies ein politischer Prozess ist, in dem ich mich auch politisch verteidige. Ich denke, dass niemand, der nicht in der DDR gelebt hat, das Recht hat, über die DDR zu urteilen.“
Krenz betrachtete das Verfahren als Siegerjustiz
Ein sicher fragwürdiges Rechtsverständnis. Demnach wäre eine Einrichtung wie der Internationale Strafgerichtshof nicht denkbar. Krenz weiter: „Ich bin nicht für Tote an der Grenze verantwortlich, und hier aus diesem Gerichtssaal werden die historischen Fragen verbannt, und auf diese Art und Weise will man schlicht und einfach meine politische Tätigkeit in der DDR kriminalisieren.“
Egon Krenz fühlte sich im Recht, er betrachtete das Verfahren als Siegerjustiz. Ein unbegründeter Vorwurf, der sich aber womöglich auf eine Äußerung des damaligen Bundesjustizministers bezog. Im September 1991 hatte Klaus Kinkel auf dem Deutschen Richtertag erklärt, er baue auf die deutsche Justiz. Es müsse gelingen, das SED-System zu delegitimieren – was sicherlich nicht die Aufgabe deutscher Gerichte war.
Der „Lauf der Weltgeschichte“
Krenz berief sich zu seiner Verteidigung auf den sogenannten „Lauf der Weltgeschichte“: Er wies jegliche Schuld von sich und versuchte, die frühere Sowjetunion für die Todesopfer an der Mauer verantwortlich zu machen. Letztlich sei auch die DDR ein Spielball der Großmächte im Kalten Krieg gewesen.
„Bisher ist es ja so, dass hier Geschichte nicht auf-, sondern Geschichte umgearbeitet wird. Und zwar umgearbeitet im Sinn und zugunsten der alten Bundesrepublik Deutschland. Hier stoßen ja nicht nur zwei Rechtsordnungen aufeinander, sondern auch zwei Geschichtsbilder. Das Urteil steht vom ersten Tag an fest, das ist ja alles nur noch der Versuch, diese Verhandlung rechtsstaatlich zu bemänteln.“
Krenz bis zuletzt kämpferisch
In den Mauerschützen-Prozessen tauchte wiederholt der Hinweis auf das sogenannte ‚Rückwirkungsverbot‘ auf. Dieses Verbot schließt eine nachträgliche Verfolgung von Straftaten aus, die in der DDR vor 1989 begangen und wegen fehlender gesetzlicher Grundlage nicht geahndet wurden. Es sei denn, es handelt sich um Kapitalverbrechen wie die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge - ein elementarer Verstoß gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte, zu denen sich auch die DDR bekannt und entsprechende Konventionen unterzeichnet hatte.
Bis zum Abschluss des Verfahrens gab sich Egon Krenz kämpferisch, immer noch der loyale SED-Sozialist. „Ich habe auch gesagt, dass ich einen Freispruch in diesem Prozess nicht erwarte und ich mich dafür auch schämen würde, solange die Grenzsoldaten und meine Freunde, die bereits im Gefängnis sitzen, nicht freigesprochen werden.“
Schabowski bekannte sich zu einer moralischen Verantwortung
Anders als Egon Krenz bekannte sich der Mitangeklagte Günter Schabowski zu einer moralischen Verantwortung für die Maueropfer, sah für sich aber keine Schuld, die strafrechtlich geahndet werden sollte. „Wesentlich ist sicherlich, dass ich nicht in den Chorus einstimme, dass das hier nur eine Vorstellung von Siegerjustiz ist. Aber ich habe natürlich die Erwartung daran geknüpft, dass das ein Prozess sein muss, der sich von Sachaspekten, Sachgesichtspunkten leiten lassen muss. Und dann ist es sicherlich auch die Deutlichkeit, mit der ich mich vor den Opfern an der Mauer und vor den Angehörigen entschuldigt habe.“
Zu Schabowskis Auftritt vor Gericht erklärte der Nebenkläger Horst Schmidt, Vater eines 1984 an der Mauer erschossenen jungen Mannes: „Es tut gut, jemanden zu finden, der wenigstens moralisch die Schuld eingesteht und nicht sagt, das war so und das war der Kalte Krieg, was man von Egon Krenz z.B. hört, das musste so sein und wird verniedlicht. Insofern ist es positiv, so was zu hören.“
Interesse der Öffentlichkeit lässt nach
Der Politbüro-Prozess zog sich 115 Verhandlungstage hin: Die lange Dauer und die vergleichsweise milden Strafen, die in den vorangegangenen Mauerschützen-Prozessen verhängt worden waren, hatten das Interesse der Öffentlichkeit merklich sinken lassen. Der Politbüro-Prozess lieferte zudem weder spektakuläre Enthüllungen oder Bekenntnisse, noch ließ sich der Vorwurf der Siegerjustiz erhärten. Wenn, dann verfolgten eher Ost- als Westdeutsche die langatmigen Verhandlungen.
Am 25. August 1997, dem Tag der Urteilsverkündung, beherrschte daher nicht der Prozess die Nachrichten, sondern eine mögliche Kabinettsumbildung der Regierung Kohl in Bonn. Nur wenige Gegner und Anhänger des letzten SED-Generalsekretärs hatten sich vor dem Landgericht in Berlin-Moabit versammelt.
„Noch einmal schlugen die Gefühle hoch, als Egon Krenz heute zum Gericht kam. ‚Mörder‘ riefen die einen – ‚Egon‘ die anderen.“
Bilanz von 115 Tagen Verhandlung
Der Versuch einer Bilanz von 115 Tagen Verhandlung: Von ursprünglich sieben Angeklagten war zwischenzeitlich einer verstorben, drei waren wegen ihres hohen Alters und schlechter Gesundheit ausgeschieden. Der Vorsitzende Richter wurde wegen Befangenheit ausgetauscht. Die Angeklagten hatten vergeblich die Einstellung gefordert und Staatsmänner wie Gorbatschow und Kohl als Zeugen vorladen wollen. Die Anklage, "Totschlag und versuchter Totschlag" in 15 Fällen, war auf vier Fälle reduziert worden. Egon Krenz bekam sechseinhalb Jahre Freiheitsstrafe, Günter Schabowski und Günther Kleiber jeweils drei Jahre.
Die Urteile seien relativ milde ausgefallen, meint Staatsanwalt Bernhard Jahntz: „Wir hatten zu vergleichen bei der Verfolgung von Straftaten: War das, was wir im Blick haben, nach DDR-Strafrecht strafbar, also zum Tatzeitpunkt am Tatort. Dann hatten wir zu vergleichen, ob es nach unserem Strafrecht strafbar war. Und dann hatten wir das für den Täter mildeste Gesetz anzuwenden.“
Fragen auf nach dem Umgang mit Unrechtsregimen
Gibt es einen Nachhall von Prozessen wie diesem? Der Politbüro-Prozess sensibilisierte, warf Fragen auf nach dem Umgang der Justiz mit Unrechtsregimen: Hatte die bundesdeutsche Justiz nach 1945 nicht versagt und NS-Verbrecher laufen lassen? Wohingegen sie nach 1989 Kommunisten gnadenlos verfolgte? Oder zeugt der unterschiedliche Umgang davon, dass Richter und Staatsanwälte aus der Vergangenheit gelernt hatten?
Gerhard Sälter von der Stiftung Berliner Mauer: „Wir hatten nach 1945 im Regelfall Gerichte, wo Leute saßen und Staatsanwaltschaft, die diese Ämter schon vor 45 hatten. Und nach 89 haben wir Leute gehabt aus dem Westen, die über Leute aus dem Osten geurteilt haben. Und das fällt leichter. Wir haben auf der einen Seite nach 1945 vielfachen, millionenfachen Massenmord, der schleppend bis wenig geahndet worden ist. Und wir haben auf der anderen Seite 600 Todesopfer in 40 Jahren, die vergleichsweise schnell und deutlich geahndet worden sind.“
Bürgerrechtlerin Poppe: "Keine Pauschalurteile gefällt"
Der Bundesgerichtshof bestätigte die Urteile des Landgerichts Berlin im Politbüro-Prozess. Nachdem auch eine Verfassungsbeschwerde erfolglos blieb, traten die SED-Funktionäre ihre Haftstrafen an. Wegen guter Führung saß Egon Krenz nur knapp vier Jahre im Gefängnis, teilweise im offenen Vollzug; Kleiber und Schabowski kamen nach 10 Monaten wieder frei.
Das Resümee der früheren DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe: „Da sieht man, es handelt sich um einen Rechtsstaat, man hat nicht Siegerjustiz geübt, keine Pauschalurteile gefällt, man hat jeden Fall individuell untersucht und nur die wirklich nachweisbare Schuld analysiert und zur Grundlage für die Verurteilung genommen. Auf der anderen Seite kann man aber auch den Schluss ziehen, dass dieser Rechtsstaat oder überhaupt ein Rechtsstaat möglicherweise gar nicht das geeignete Instrumentarium hat, um Staatskriminalität eines vorangegangenen Regimes angemessen zu ahnden.“
Juristisch, politisch und historisch wichtig
Gleichwohl sind Verfahren wie der Politbüro-Prozess juristisch, politisch und historisch wichtig. Der Historiker Gerhard Sälter und der Jurist Gerhard Werle: „Sie haben deutlich gemacht und bewiesen, was an der Grenze passiert ist. Und sie haben gezeigt, dass das Unrecht systematisch angelegt war. Und damit haben sie eine deutliche Aufklärungsfunktion gehabt.“
„Da sehe ich auch den eigentlichen Wert, den Langzeitwert der Prozesse, dass das historische Geschehen, das das dokumentiert ist, das klar ist, was abgelaufen ist, dass da Menschen erschossen werden sollten, die von a nach b gehen wollten, dass es da Verantwortlichkeiten gab von ganz oben bis ganz unten und dass man das alles nach den strengen Regeln der Gerichtsverfahren feststellen konnte.“