Lügen und Politik
Wie die Wahrheit noch zu retten ist

Überall Lügen, auch in der Politik, die Wahrheit scheint einen schlechten Stand zu haben. Doch ohne sie geht es nicht, kann Gesellschaft nicht funktionieren. Doch auch wenn die Wahrheit bedroht ist, ist sie noch längst nicht verloren.

Ein Einwurf von Lukas Gedziorowski |
    "Wir lügen" steht in Sprühfarbe auf einem Wahlplakat von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (2021)
    Politiker stehen unter Generalverdacht, Lügner zu sein. Doch meistens handelt es sich eher um Halbwahrheiten - oder um Vergesslichkeit, wie es wirklich war. (imago images / Friedrich Stark)
    Politik und Lügen, das gehörte immer schon zusammen. Die Philosophin Hannah Arendt schreibt: Lügen scheine zum „Handwerk des Politikers und Staatsmannes“ zu gehören, ja es habe schon immer sogar als erlaubtes Mittel gegolten. Der Autor Roger Willemsen hielt das Lügen sogar für die „Kernkompetenz“ von Politikern. Und auch ein Politiker wie Tino Chrupalla (AfD), der es mit der Wahrheit selbst nicht so genau nimmt, sagte in diesem Jahr in einem Interview mit dem SWR: „Lügen gehört zur Politik.“ Der jüngste FDP-Skandal scheint es mal wieder zu bestätigen.
    Abgesehen vom Gemeinplatz des lügenden Politikers sind Lügen allgegenwärtig, auch im Alltag - jeder tut es. Darüber hinaus verbreiten sich Unwahrheiten in Form von gezielten Fake News und Desinformationskampagnen, mittlerweile verstärkt durch künstliche Intelligenz; laut Weltwirtschaftsforum eines der größten Bedrohungen der Gegenwart.

    Ist Wahrheit out?

    Seit der ersten US-Präsidentschaft von Donald Trump ist vom postfaktischen Zeitalter die Rede. Der Vorwurf der Lüge wird mittlerweile inflationär in alle Richtungen gebraucht: von der „Corona-Lüge“ ist die Rede wie von der „Impf-Lüge“, der „Asyl-Lüge“ und der „Klima-Lüge“. Je nachdem, welche "Wahrheitsvorstellung" gerade vertreten wird. Wahrheit scheint eher zur Gefühlssache geworden zu sein. Wissenschaft? Vernunft? Aufklärung? Überbewertet. Unsere Entscheidungen treffen wir als evolutionäre Schnelldenker ohnehin meist lieber aus dem Bauch heraus.
    Wenn alles nur subjektiv und abhängig von Kontext ist, dann gibt es keine Objektivität und auch keine Wahrheit, sondern eben bloß „alternative Fakten“, die uns oft ein angenehmeres, einfacheres Weltbild vermitteln. Zugleich gerät die Wahrheit unter Verdacht: Schon Hannah Arendt stellt fest, dass absolute Wahrheitsansprüche eher die Sache von totalitären Regimen sind. Die Neurowissenschaft bestärkt das, indem sie behauptet, dass die Welt nur in unserer Wahrnehmung konstruiert wird und wir keinen unmittelbaren Zugriff auf sie haben. Als säßen wir alle privaten Illusionen auf, die unsere Gehirne konstruieren.
    Kann man da Politikern überhaupt noch den Vorwurf der Lügen machen, wenn sie nur tun, was ohnehin alle tun? Selbstverständlich. Denn irgendeine gemeinsame Schnittmenge von Werten, Ideen, Vorstellungen müssen wir haben, sonst wäre ein Zusammenleben gar nicht möglich. Der moralische Anspruch an gewählte Volksvertreter ist besonders hoch, umso tiefer ist der Fall, wenn das Vertrauen gebrochen wird. Derartige Ereignisse gab es immer wieder: gebrochene Wahlkampfversprechen, Plagiatsvorwürfe, Spendenaffäre.
    Oft bestand der eigentliche Skandal jedoch nicht in der Sache selbst, die man zu vertuschen versuchte, sondern im Vertuschen, also der Lüge. (Abgesehen von vertuschten Menschenrechtsverbrechen und Kriegen, die oft auch mit Lügen begannen - angefangen von den beiden Weltkriegen über die Kriege in Vietnam und im Irak bis hin zur russischen Invasion in der Ukraine.)

    Vertrauen in die Demokratie schwindet

    Kein Wunder also, dass man seit Jahren Umfrage-Ergebnisse liest, die den Eindruck bestätigen: Politiker gehören zu den Berufsgruppen, denen man am wenigsten traut. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen vertraut auch den politischen Parteien nicht, der Wert des "Eurobarometers" der Europäischen Kommission befindet sich seit 2020 auf einem Tiefstand.
    Im Jahr 2021 stellte eine Studie eine „Wahrheitskrise der Demokratie“ fest. Knapp mehr als die Hälfte der Befragten (Politiker, Pressesprecher, Journalisten) sah sich als Teil einer „postfaktischen Demokratie“, in der der Wahrheitsgehalt der Aussagen eher unwichtig sei. Und laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung waren 2023 nur 48,7 Prozent der Deutschen zufrieden mit der Demokratie.
    Womit wir beim eigentlichen Problem wären: Der Vertrauensverlust in Politiker führt zu einem Vertrauensverlust ins politische System, in die Demokratie. Was wiederum zur Folge hat, dass sich immer mehr Menschen Populisten zuwenden, den Feinden dieses Systems, die sich am meisten der Lügen bedienen, die sie ihren politischen Gegnern unterstellen.
    Ihre Anhänger folgen - sitzen in den meisten Fällen wohl unbewusst - einer paradoxen Logik: Wenn Politiker ohnehin lügen, kann man auch die wählen, bei denen die Lüge Programm ist, weil sie behaupten, was man auch selbst denkt – obwohl es nur eine gefühlte Wahrheit ist. Mit anderen Worten: Man wählt die Lügner, weil man sich selbst belügt. Und das scheint wiederum in Ordnung zu sein, frei nach dem Motto: Bevor mich die anderen verarschen, tue ich es lieber selbst – und wähle die, die mich darin bestärken. Das ist wohl die fatalste Lüge, der man nur am schwersten entkommt.

    Das System funktioniert - jedenfalls in Deutschland

    Wer sich über „die da oben“ aufregt und sich dem Fatalismus ergibt, das System sei kaputt, der läuft einem Denkfehler auf. Er oder sie verkennt, dass die dreiste Politiker-Lüge jedenfalls in funktionierenden Demokratien eigentlich selten vorkommt. Das meiste sind schlimmstenfalls Halbwahrheiten, Vereinfachungen, vage Versprechungen, ausweichende Antworten, inkonsequentes Handeln, (faule) Kompromisse, die in einer Demokratie unvermeidlich sind.
    Und nicht erst der Fall FDP zeigt: Die meisten echten Lügen fliegen schnell auf und haben bei großem Gewicht auch Folgen. Politiker ziehen Konsequenzen und treten zurück. Das bedeutet aber, dass das System mit seinen Kontrollmechanismen wie der Presse funktioniert.
    Das Beispiel USA zeigt, wie es in einer defekten Demokratie läuft: Dort hat Donald Trump laut Washington Post allein während seiner ersten vierjährigen Amtszeit als US-Präsident mehr als 30.000 Lügen oder irreführende Aussagen verbreitet. Danach führte seine wiederholte Lüge von angeblichem Wahlbetrug zum Sturm aufs Kapitol und kostete sogar Menschenleben. Trotz dieses Putschversuchs kam Trump bislang ungestraft davon und darf nun sogar zum zweiten Mal das Land regieren. Hier versagte die Kontrolle der Justiz. Davon sind wir in Deutschland zum Glück weit entfernt.

    Wichtiger als Wahrheit ist die Suche nach ihr

    Wer einzelne Politikerlügen zum Anlass nimmt, das demokratische System infrage zu stellen, der trägt dazu bei, dass es weiter ausgehöhlt und schließlich zerstört wird. Dann wird die Lüge so sehr zum Normalfall, dass sie zur absoluten, von oben diktierten Wahrheit - in einem autoritären System, in dem andere Meinungen, die Basis der demokratischen Diskussion, nicht mehr gelten. Das enthebt Politiker nicht der Verantwortung, ehrlich mit Wählern und Nicht-Wählern umzugehen. Es steht mehr auf dem Spiel als ihre Karrieren oder die Durchsetzung ihrer Ziele.
    Dasselbe gilt für uns Wähler, die wir trotz unterschiedlicher Perspektiven, Wahrnehmungen und Interessen, immer noch in derselben Realität leben. Wichtiger als unser jeweiliger Anspruch auf Wahrheit und das Rechthaben ist die ständige Suche nach ihr. Dabei ist ständige Skepsis notwendig, nicht zuletzt bei unseren eigenen Urteilen, denn, so soll es der us-amerikanische Schriftsteller Philip K. Dick einmal formuliert haben: „Wirklichkeit ist das, was weiterhin existiert, wenn wir aufhören, daran zu glauben.“