Romanfigur, Grenzgänger, Hegelianer, oder Unfehlbarer – die Überschriften, unter denen Joseph de Weck den französischen Präsidenten analysiert, verraten bereits zu Beginn des Buches den Blick des Autors auf Emmanuel Macron: Er ist trotz aller Kritik wohlwollend. Und auf alle Fälle unterhaltsam. Frankreichs Karikaturisten täten sich schwer mit Macron, schreibt de Weck. Und weiter:
"Jacques Chirac war der hünenhafte Bonvivant. Nicolas Sarkozy der ordinäre Kleine, der sich aufplustern muss. François Hollande der lüsterne, schwabbelige Angsthase. Doch was genau soll man an Macron überzeichnen? Er ist weder groß noch klein. Der Nordfranzose misst einen Zentimeter weniger als der Durchschnitt, nämlich 1,73 Meter. Schmächtig, aber nicht zu übersehen. Eine gewisse Eleganz, wiewohl mit Zahnlücke."
Ein leichter Einstieg, um dann schnell zur Politik Macrons zu kommen. Die beschreibt der Autor als mindestens genauso schwer zu fassen wie die Person Macrons selbst. Beides lässt sich nicht in Schubladen stecken oder in ideologische Kategorien einteilen – schon gar nicht in das traditionelle Rechts-Links-Schema. Das kehrt de Weck immer wieder hervor.
"Die Linke beschimpft ihn als ‘Präsident der Reichen’ und ‘neoliberalen Abbauer des Sozialstaats’. In der Tat: Reiche, die ihr Vermögen in Aktien und Finanzmarktanleihen halten, profitieren übermäßig von Macrons Steuersenkungspolitik. Er ist stolz darauf, ‘pro business’ zu sein, und schwächt, ohne zu zögern, den Arbeitnehmerschutz. […] Aber: Als Präsident hat er den Netto-Mindestlohn und die Mindestrente stärker angehoben als seine beiden Vorgänger zusammengenommen. Ein neues Gesetz, das die Nationalversammlung auf seine Initiative hin verabschiedet, erlaubt der Steuerfahndung, Daten sozialer Netzwerke wie Instagram zu verwenden, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen — wenn sie beispielsweise behaupten, nicht in Frankreich zu leben oder arm zu sein."
Der geschichtsbewusste Philosophenpräsident
Der Autor hat den Präsidenten für sein Buch nicht interviewt, aber sehr gut beobachtet. Er beschreibt ihn differenziert, detailreich und im Laufe des Buches zunehmend kritisch. De Weck nennt den einstigen Shooting-Star Macron einen "geschichtsbewussten Philosophenpräsidenten". Macron wolle weniger ein Manager sein als ein "in langen Zeiträumen denkender Staatsmann." Mit Emmanuel Macron säße seit Francois Mitterrand wieder ein Intellektueller im Elysée, findet Joseph de Weck. Einer, der bei seinem Amtsantritt erklärt, er werde ein "jupiterhafter Präsident" sein, der Autorität nicht scheut, der über dem politischen Klein-Klein schweben möchte. De Weck erinnert aber gleichzeitig daran, wie wichtig es Macron ist, in Kontakt mit den Bürgern zu sein. Die sogenannte "Große nationale Debatte", die Macron ins Leben rief, als die Proteste der Gelbwesten das Land in Atem hielten, ist das beste Beispiel dafür.
"Macron ging auf Frankreich-Tournee und reihte 16 Aussprachen von insgesamt 93 Stunden aneinander. Er hörte zu, gab recht, widersprach und erläuterte, was das Zeug hält. In diesen ‘Großen Debatten’ war manchmal geradezu körperlich zu spüren, wie sich im Publikum die Frustration und Spannung in Luft auflösten. Trotz des anbrechenden und in Frankreich stets rebellischen Frühlings verebbten die Proteste."
Ohne, dass Macron seine politischen Ziele aufgeben musste, findet de Weck.
"Durch Gelbwesten-Aufstand und Pandemie hindurch zeigt sich Macron anpassungsfähig, aber er weicht kaum von den großen Linien seiner Politik der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ab."
Die französische Misstrauensgesellschaft
Seine Analyse des französischen Präsidenten paart de Weck mit einem Porträt Frankreichs. Er greift in seinem Buch auf ein beeindruckendes Wissen und gründliche Recherche zurück. Details zur Wirtschafts- oder Sozialpolitik vermittelt er mit einer Leichtigkeit, die auch komplizierte Sachverhalte gut verständlich macht und ein rundes Bild der bisherigen Amtszeit Macrons zeichnet. Wer erinnert sich heute - nach den zähen Monaten der Corona-Pandemie - noch daran, dass Macron, der als Reformer angetreten war, zu Beginn seiner Legislatur tatsächlich reformierte und die Arbeitslosigkeit in Frankreich zurückfuhr?
Mit seinen Landsleuten geht de Weck hart ins Gericht. Er kritisiert die starke Binnensicht der Französinnen und Franzosen, spricht von einer "Misstrauensgesellschaft" und stellt sogar fest, das Land biete denjenigen, die für Weltuntergangsstimmung anfällig seien, das volle Programm:
" ... viele Franzosen fühlen sich als Opfer einer nicht enden wollenden Farce. Präsidenten kommen und gehen. Doch egal, wen das Volk wählt, ob links oder rechts, jede Regierung sieht sich gezwungen, wegen des wachsenden Schuldenbergs und der anhaltenden Schwäche der Wirtschaft Einschnitte am Sozialstaat hier und Abstriche an den Arbeitnehmerrechten dort vorzunehmen. Das gibt Nahrung für das in Frankreich sehr präsente Narrativ eines déclassement: eines französischen Abstiegs in die zweite oder dritte Liga. Frankreich werde abgehängt, dem Land gehe es schlecht, so die von Buch zu Buch und von Leitartikel zu Leitartikel bekräftigte Dauermeinung. […] Deutschland kommt hier eine besondere Rolle zu. Permanent wird der Vergleich mit dem großen Nachbarn am anderen Ufer des Rheins gesucht, ob es denn um Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, die Zahl der jährlichen Streiktage oder die der Patentanmeldungen geht. Rundum scheint die Bundesrepublik besser abzuschneiden."
Die Rolle Europas: Macron und Merkel
Auch de Weck zieht eine Reihe von Vergleichen mit Deutschland. Dabei stellt er immer wieder Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron gegenüber.
"Macron will Europa zum Kern der politischen Debatte machen und geht ganz anders vor als Bundeskanzlerin Angela Merkel, die jeden Kompromiss vorwegnimmt, beziehungsweise schmiedet, noch bevor eine Auseinandersetzung überhaupt stattfinden kann."
Interessant ist auch die außen- und europapolitische Bilanz Macrons, die de Weck zieht. Die allgemeine Wahrnehmung ist oft, dass der französische Präsident nicht weit gekommen ist mit seinen Vorschlägen für ein vertieftes Europa, mit denen ihn vor allem Angela Merkel hängen ließ. De Weck resümiert, Macron habe daraufhin einen diskreteren, diplomatischeren Weg gewählt, um in der EU doch etwas zu bewegen. Er schildert dies am Beispiel der Corona-Pandemie, als Italiens Volkswirtschaft – die drittgrößte der EU – auf Talfahrt ging.
"Macron drängt auf eine Lösung, doch prescht er dieses Mal nicht mit einem fertigen Patentrezept vor und verzichtet auf Reizwörter wie ‘Eurobonds’. Er agiert im Hintergrund, lässt Rom und Madrid Vorschläge unterbreiten und lädt Berlin ein, eigene Ideen einzubringen. Nachdem sich innerhalb der Bundesregierung der Wind gedreht hat, ergreift Merkel Macrons offene Hand: Beide unterbreiten den deutsch-französischen Vorschlag eines schuldenfinanzierten Euro-Wiederaufbaufonds. […] Der 750 Milliarden Euro schwere Europäische Wiederaufbaufonds ist von historischer Tragweite — nicht so sehr wegen der Summe, sondern weil damit ein bis vor kurzem noch undenkbarer Präzedenzfall geschaffen ist. Die EU-Länder nehmen gemeinsam Schulden auf, um Mitgliedern in Not und in finanzieller Schieflage unter die Arme zu greifen. Das deutsche Tabu einer ‘Schuldenunion’ ist gebrochen."
Gezielte Provokationen
Generell, so glaubt de Weck, schrecke Macron vor Tabubrüchen nicht zurück. Egal ob diese seine Privatleben betreffen – wie seine Ehe mit einer 25 Jahre älteren Frau – oder Äußerungen auf der politischen Weltbühne. Dort, so de Weck, leiste sich Macron die eine oder andere Provokation, wenn er zum Beipsiel der NATO den ‘Hirntod’ diagnostiziert. Macrons Chancen auf eine zweite Präsidentschaft hält de Weck für realistisch. Linke Wähler würden für eine bisher vorhergesagte Stichwahl zwischen Macron und der extrem Rechten Marine Le Pen entscheiden, glaubt der Autor. Sind sie bereit, Macron trotz ihrer vehementen Ablehnung gegen den amtierenden Präsidenten ihre Stimme zu geben und damit Le Pen zu verhindern?
"Eine zweite Runde Macron würde Frankreich und Europa wahrlich guttun",
befindet der Autor am Ende seines gelungenen Buches. Ein Aspekt aber fehlt de Wecks Werk: die Sicht der sogenannten "kleinen Leute". Das ist schade, gerade weil die Politik von Präsident und Regierung, weil Frankreichs Politikerinnen und Politiker so vielen Menschen im Land nichts mehr sagen. Wenn ein derart großes Misstrauen gegen die Regierenden vorherrscht, wenn eine Bewegung wie die Gelbwesten den kompletten Reformplan des ehrgeizigen Präsidenten ins Wanken bringen und zum Teil ganze Landesteile lahmlegt, wüsste man gern mehr dazu. Aber die Betroffenen kommen – im Gegensatz zu vielen Intellektuellen und Wissenschaftlern – nicht zu Wort.
Joseph de Weck: "Emmanuel Macron. Der revolutionäre Präsident"
Verlag Weltkiosk, Berlin. 201 Seiten, 20 Euro.
Verlag Weltkiosk, Berlin. 201 Seiten, 20 Euro.