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"Politik ist einfach eingearbeitet in die Textur des Lebens"

1973 in Karatschi geboren ist Kamila Shamsie in einer bekannten pakistanischen Familie groß geworden. Ihre Mutter ist eine landesweit bekannte kritische Journalistin, ihre Großmutter war Schriftstellerin. Als Kind begann sie bereits Geschichten zu schreiben und hat nie wieder aufgehört, weil sie begriff, dass ihr etwas Wichtiges fehlen würde, wenn sie nicht mehr schreiben würde.

Von Johannes Kaiser |
    Sie besuchte nach Abschluss der Oberschule in Karatschi ein College in den USA, machte einen Abschluss in Creative Writing an der University of Massachusetts, lebt heute vorwiegend in London, schreibt dort u.a. Kolumnen für den "Guardian". Ihr erster Roman "In The City Of Sea" ist bislang nicht übersetzt, jetzt ist ihr fünfter auf Deutsch erscheinen.

    "Ich fange mit einem ganz kleinen Bild an und das geistert eine Weile in meinem Kopf herum. Wenn es dort lange genug bleibt, weiß ich, dass es nie mehr verschwinden wird, und ich denke dann darüber nach, was aus diesem Bild erwachsen könnte, welche anderen Bilder sich einfügen und peu á peu bekomme ich eine vage Vorstellung von einer Geschichte. Ich fange an zu schreiben, ohne besonders viel zu wissen, weil ich besser denke, wenn ich schreibe. Sobald ich mit dem Schreiben anfange, kommen mir neue Ideen."

    Mit einem ungewöhnlichen Bild begann für die pakistanische Schriftstellerin Kamila Shamsie auch ihr fünfter Roman "Verglühte Schatten".

    "Ich habe ein Buch darüber gelesen, was in Hiroshima passierte, als die Bombe fiel, und da gab es ein Detail: Bei Frauen, die einen weißen Kimono mit schwarzen Mustern trugen, reflektierte das Weiße die Hitze und das Schwarze sog sie auf, sodass sich Tattoos auf ihren Rücken einbrannten. Ich las das und mir erschien sofort das Bild einer Frau, die auf ihrem Rücken Tattoos von drei Vögeln hat und ich wusste, das ist meine Figur, über die ich eine Geschichte schreiben werde."

    Hiroko Tanaka überlebt zwar den Bombenabwurf mit drei in die Haut gebrannten Kranichabbildern, aber sie verliert ihren Vater und ihren Verlobten. Schockiert und verstört verlässt die junge Japanerin ihre Heimat und reist nach Indien zu der Halbschwester ihres Verlobten und deren Ehemann, dem britischen Rechtsanwalt Burton. Dort trifft sie den jungen Hausangestellten Sajjid, einen indischen Moslem, an dem Harry, der junge Sohn der Burtons, sehr hängt. Hiroko verliebt sich in den Inder. Sie heiraten gegen alle Widerstände und Vernunft. Als kurz nach der Unabhängigkeit Indien geteilt wird und das moslemische Pakistan entsteht, überall blutige Unruhen ausbrechen, flieht beide aus Delhi nach Karatschi. Sie bauen sich ein neues Leben auf, beide Flüchtlinge, beide fremd. Dort besucht sie regelmäßig Harry, den mit seinem Vaterland England außer den Eltern nichts verbindet, der inzwischen in den USA lebt, aber liebt Sajjid und Pakistan über alles liebt. Nach Sajjids gewaltsamem Tod wird Hiroko nach New York ziehen.

    Kamila Shamsie, in Karatschi geboren, in den USA aufs College gegangen, in London inzwischen zuhause, wirbelt in ihrem Roman Nationen und Nationalitäten durcheinander. Er ist ein Abbild der globalen Migrationsströme des 20. Jahrhunderts. Seine Protagonisten haben nicht nur eine Heimat. Da spiegeln sich durchaus autobiografische Erfahrungen der Schriftstellerin wieder.

    "In jedem Kapitel finden Sie jemanden, der aus dem Ort selbst stammt und jemanden, der nicht daher kommt und daraus ergeben sich eine Menge Wechselwirkungen. Ich sehe, wie Ideen über Nationen, die Leute mitbringen, aufeinanderstoßen. Was passiert auf individueller Ebene, wenn diese Ideen menschliche Gestalt annehmen? Mich interessieren solche Überlagerungen, weil meine Familie aus Menschen besteht, die von hier oder dort eingewandert sind. Meine Großmutter wurde in Berlin geboren, zog nach Delhi und dann nach Pakistan und meine drei anderen Großeltern sind alle in Indien geboren und dann bei der Teilung über die Grenze gekommen. Es gab also viel Kommen und Gehen. Und es ging darum, eine neue Heimat zu finden und sich mit den Leuten dort zu arrangieren. Wie macht man das? Mir gefällt an der Figur Hiroko besonders gut, dass sie an diese verschiedenen Orte kommt, aber nicht unbedingt das Gefühl hat, nun zum Insider werden zu müssen, vielmehr eine Möglichkeit findet, so zu leben, dass sie stets nach vorne schaut und sich nicht zu sehr um Unterschiede kümmert."

    Der Roman erzählt nicht nur die ungewöhnliche Lebensgeschichte des indisch-japanischen Ehepaars in Karatschi, sondern auch die ihres Sohnes Raza, der mit dem Leben nicht recht klarkommt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er sich als Außenseiter fühlt, weil er das japanische Aussehen seiner Mutter geerbt hat. Er möchte dazugehören und das führt ihn unverhofft in ein Trainingscamp afghanischer Mudschaheddin-Kämpfer gegen die Sowjets. Doch dort will man ihn nicht behalten. Ironie des Schicksals: Nach der Befreiung Afghanistans von den Taliban wird Raza dort für einen privaten amerikanischen Sicherheitsdienst arbeiten und plötzlich unter furchtbaren Verdacht geraten.

    "Raza ist ein sehr verwirrter Charakter. Er ist der interessante Fall eines Jungen, der viel zufriedener sein sollte, als er ist. Seine Eltern haben viel eher Grund, das Gefühl zu haben, dass ihnen von der Welt übel mitgespielt wurde. Sie hätten eine Menge Gründe, sich über die Welt zu beklagen, aber sie haben es nicht gemacht. Raza dagegen, der nur an einem Ort und in dieser liebevollen Familie aufgewachsen ist, hat ständig das Gefühl, nicht dazuzugehören und ist permanent unzufrieden, fühlt sich in seiner eigenen Haut nicht wohl. Seine Geschichte handelt vor allem von diesem Unbehagen, nicht er selbst sein zu wollen, sich zu wünschen, jemand anderes zu sein und das führt zu einer Menge miserabler Entscheidungen und bringt sehr viel Ärger mit sich."

    Razas Unbeherrschtheit kostet letztlich seinen Vater das Leben. Indirekt ist auch Harry daran schuld, denn der hat sich vom amerikanischen Geheimdienst anwerben lassen. Die CIA aber spielte bekanntermaßen in Pakistan eine wichtige Rolle bei der finanziellen und militärischen Unterstützung des Kampfes der Taliban gegen die Sowjets. Harry mischt hier mit.

    "Ich wollte keine typisch amerikanische CIA-Figur beschreiben, die nach Pakistan und Afghanistan kommt und dort nur Feinde und strategische Ziele sieht. Er sollte ein etwas komplizierterer Charakter sein, der auf seine Art und Weise die Pakistanis mehr liebt als alle anderen. Am liebsten auf der ganzen Welt aber ist ihm Sajjid, der erst Inder war und dann Pakistani wird. Harry spricht fließend Urdu. Doch es gibt bei ihm auch diese andere Seite des Planens und strategischen Denkens. Er testet, wie viel er sich erlauben kann. Harry hat einen ausgeprägt amoralischen Charakterzug. Allerdings diskriminiert er niemanden. Für ihn ist keine Nation einer anderen überlegen. Es ist einfach so nur, dass er auf der einen Seite steht und möchte, dass sein Team gewinnt. Er liebt die Menschen, deren Land er in Chaos stürzt. Die Beziehung von Harry und Raza ähnelt einer Vatersohn-Beziehung. Sie bewundern einander und das ist für beide ziemlich schlecht und führt jeden von ihnen in schlimme Situationen. Sie erkennen jeder in dem andern ein Stück von sich selbst."

    Ins Spiel kommt auch noch Kim, Harrys Tochter - ein echt amerikanisches Mädchen, das in New York lebt, nie aus dem Land rauskam, von der Welt nichts versteht, nach dem 11. September vor jedem bärtigen Fremden ängstlich zurückschreckt und sich von Hiroko in ein waghalsiges Unternehmen hineinziehen lässt, das ihre Fähigkeiten überschreitet.

    Es fehlt Kamila Shamsies Roman "Verglühte Schatten" nicht an dramatischen Momenten. Da liegt allerdings bei der Auswahl der Handlungsorte auch nahe. Nagasaki, Delhi, Karatschi und New York sind geschichtliche Brennpunkte des letzten halben Jahrhunderts. Die Geschichte der beiden Familien, der indisch-pakistanisch-japanischen und der englisch-deutschen, spiegelt diese Ereignisse wieder. Deren Schicksal über zwei Generationen wird von der Politik maßgeblich bestimmt, ob sie es wollen oder nicht. Das ist wieder eine Erfahrung, die die Schriftstellerin mit ihren Protagonisten teilt.

    "Das Leben ist politisch. Wenn man in Pakistan in den achtziger und neunziger Jahren aufgewachsen ist, dann ist Politik nichts, was von ihrem täglichen Leben abgetrennt ist. Politik bedeutet, dass es den einen Tag nicht sicher genug ist, in die Schule zu gehen, oder man kann an einem anderen Tag nicht mit seinen Freunden an den Strand fahren, weil es Unruhen gibt. Es bedeutet, dass ein Onkel unter Hausarrest gestellt wird. Die Politik ist immer da. Sie ist einfach eingearbeitet in die Textur des Lebens der Menschen. Ich habe also Geschichten immer in dem Zusammenhang gesehen. Wenn ich etwas schreiben will, frage ich mich, in welchem Jahr es stattfinden soll und was in dieser Nation in dem Jahr geschehen ist, und in diesem Buch kommt das stärker raus als sonst."

    Kamila Shamsie ist es gelungen, einen politischen Roman über den indisch-pakistanischen Halbkontinent zu schreiben, ohne die Politik in den Vordergrund zu schieben oder irgendein Feindbild zu bedienen. Ihre Protagonisten sind nicht Akteure, sondern Leidtragende der Geschichte. Das sichert ihnen unser Mitgefühl. Ihr Schicksal schlägt uns in Bann.

    Kamila Shamsie: "Verglühte Schatten". Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer. Berlin Verlag 2009, 480 Seiten, 22,95 Euro