Beim Thema Asyl und Migration steckt die Europäische Union in einer Sackgasse. Nun soll vor allem das umstrittene Dublin-Verfahren überarbeitet werden. Kernpunkt darin ist, dass Geflüchtete dort Asyl beantragen müssen, wo sie erstmals europäischen Boden betreten. Vor der Vorstellung der Kommissionspläne äusserte sich Julian Lehmann vom Global Public Policy Institute im Deutschlandfunk. Der politische Berater für Migrations- und Menschenrechtsfragen erklärt, warum er besagte Dublin-Verordnung für von der Leyens gordischen Knoten hält.
System für gerechte Verteilung liegt seit 2016 auf Eis
Julian Lehmann: Und zwar deswegen, weil die beschämende Regelung dafür gesorgt hat, dass alle anderen Vorschläge zur Reform des Asylsystems auf Eis liegen seit 2016. 2016 gab es bereits einen Vorschlag, aber der fand in den Mitgliedsstaaten keine Mehrheit. Ich glaube, es ist inzwischen klar, dass ein anderes System besser wäre, nämlich eines, das die Staaten an den Außengrenzen nicht zu denjenigen macht, die vor allem die Asylsuchenden aufnehmen müssen, dass ihnen auch gleichzeitig dabei keinen Anreiz gibt, gute, menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, also ein System, das die Asylsuchenden gerechter über die Mitgliedsstaaten verteilt, und zwar entweder immer oder wenigstens dann, wenn die Zahlen der Asylverfahren eine bestimmte Schwelle überschreiten. Die Frage ist aber leider nicht nur, was gut wäre, sondern auch, wofür es eine Mehrheit gibt.
"Verteilschlüssel und Notfallmechanismus"
Bastian Rudde: Okay, wie könnte denn dieses System Ihrer Vorstellung nach konkret aussehen?
Lehmann: Ich glaube, das Beste wäre, wenn man das jetzt neu denken würde, dass es einen Verteilschlüssel gäbe oder einen Notfallmechanismus, so wie er 2016 angedacht war, in dem aber nicht die Möglichkeit besteht, dass sich einzelne Staaten rauskaufen – das war die Option 2016, die auch am strittigsten war. Dort hätte man sich gewissermaßen durch die Zahlung eines Geldbeitrages von der Aufnahme von Flüchtlingen verabschieden können. Mein Eindruck ist, dass die Kommission jetzt auf jeden Fall auch vermeiden will, solche Möglichkeiten zu schaffen, sich rauszukaufen.
"Wir können das nicht länger aussitzen"
Rudde: Aber wie soll das funktionieren, wenn per se einige Staaten weiter sagen, wir sind da einfach nicht dabei? Oder anders gefragt: Muss man sich von so einer gesamteuropäischen Lösung vielleicht doch verabschieden?
Lehmann: Ja, in der Tat stehen die Zeichen nicht besonders gut für eine gesamteuropäische Lösung, aber andererseits glaube ich, wäre es falsch, wäre es immer noch falsch, sich zum jetzigen Zeitpunkt von diesem Anspruch zu verabschieden, weil wir haben zum jetzigen Zeitpunkt gesamteuropäische Lösungen, das heißt, wir würden bis hinter die bisherige Regelung zurückkehren. Die Innenkommissarin Johansson hat gesagt, dass es in den Sondierungen für dieses Maßnahmenpaket, was jetzt vorgeschlagen wird, dass es dort zumindest Kompromissbereitschaft bei einigen Mitgliedsstaaten gab. Die Asylantragszahlen sind seit 2015 auch um die Hälfte gesunken, und ich denke, wir sind jetzt in einer Situation, wo klar sein sollte, wo den Regierungen klar sein sollte, wir können das nicht länger aussitzen. Entweder wir reformieren es jetzt, oder Zeitpunkt kommt wieder, wo die Asylantragszahlen hochgehen und die Einigung noch schwieriger wird.
"Mehr Zuständigkeiten für die EU-Asylagentur wäre sehr ambitioniert"
Rudde: Sie haben gerade das gesamte Maßnahmenpaket angesprochen, und auch wenn die umstrittene Dublin-Verordnung da ein wichtiger Punkt ist, gibt es ja noch andere Sachen, die Ursula von der Leyen zumindest schon mal skizziert hat: legale Fluchtwege, mehr legale Fluchtwege, die Situation in Herkunftsländern oder Drittstaaten an Europas Grenzen verbessern, Rückführungen enger mit Asylverfahren koppeln. Was können da entscheidende Aspekte sein?
Lehmann: Ich glaube, die Kommission muss sich im Wesentlichen zwei Fragen stellen, nämlich einmal, legt sie jetzt nur kleine Verbesserungen vor, ändert aber nichts an den geltenden Grundprinzipien, oder versucht, das ganze System völlig umzustellen, also zum Beispiel viel mehr Zuständigkeiten für die Europäische Union zu schaffen? Zum Beispiel die Verfahren in die Hände von einer EU-Asylagentur zu legen, das wäre eine sehr ambitioniertere Form.
Rudde: Sehen Sie das kommen?
Lehmann: Ich sehe das im Moment nicht kommen. Ich glaube, es wird eher bei einem Klein-Klein bleiben, wo man das bisherige System verbessert. Die zweite strittige Frage ist in der Tat, wie viel macht man gemeinsam oder wie viel wird man immer den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit einräumen, auch einzeln auszuscheren.
"Wir schaden dem Standing der Europäischen Union"
Rudde: Wenn es diese Klein-Klein-Lösung geben sollte, die Sie gerade angesprochen haben, bedeutet das dann nicht im Grunde, dass irgendwann ein zweites Moria irgendwo kommen wird?
Lehmann: Absolut. Ich glaube – das hatte ich ja auch gerade gesagt –, der Zeitpunkt ist gekommen, wo wir weg müssen von dem Klein-Klein, denn man darf nicht vergessen, wir schaden dem Standing der Europäischen Union massiv. Die bisherige Situation hat dafür gesorgt, dass viel Porzellan zerschlagen wurde in den Arbeitsbeziehungen, dass es eine vergiftete Stimmung teilweise gegeben hat. Es ist eigentlich ein Zustand, der nicht mehr haltbar ist, und jetzt ist der Zeitpunkt mit der neuen Kommission, dass es einen anderen Anspruch geben muss.
Rudde: Ihr Stichwort Standing würde ich gerne aufgreifen: Ursula von der Leyen hat sich ja auch auf die Fahnen geschrieben, das globale Standing der Europäischen Union zu verbessern. Inwiefern spielt da der Migrationsstreit negativ mit rein?
Lehmann: Ich glaube, das darf man nicht unterschätzen. Es gab Presseberichte, wonach Angela Merkel in einer Fraktionssitzung berichtet hat, dass ausgerechnet der chinesische Präsident Xi ihr die Menschenrechtssituation an den Außengrenzen vorgehalten hat. Das kennen wir von anderen autoritären Staaten: Auf Kritik wird mit Gegenkritik reagiert, nach dem Motto, man sollte zunächst vor der eigenen Tür kehren. Die EU schadet also ihrer Fähigkeit, sich für Menschenrechts-, sich für Rechtsstaatsthemen anderswo einzusetzen, massiv mit der bisherigen Situation.
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