Für Gros wäre ein kritischer Punkt dann erreicht, wenn auch in diesem Jahr wieder eine Million oder mehr Flüchtlinge nach Deutschland kämen und die Bundesregierung sich gezwungen sähe, die deutschen Grenzen flächendeckend zu kontrollieren. "Dann wäre Schengen tot", sagte der Direktor des Center for European Policy Studies in Brüssel. "Denn man kann sich kein Schengen ohne Deutschland vorstellen, wie man sich auch keinen Euro-Raum ohne Deutschland vorstellen kann."
Derzeit funktioniert der Schengen-Raum laut Gros aber noch zu 95 Prozent, weil an den Grenzen nur punktuell kontrolliert werde. Solange Deutschland daran nichts ändere, könne Schengen gerettet werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel habe Recht mit ihrer Einschätzung, dass die Flüchtlingskrise an den EU-Außengrenzen gelöst werden müsse. Erst wenn die Zahl der Flüchtlinge, die über Griechenland und die Balkan-Route nach Europa kommen, im Vergleich zu 2015 auf ein Drittel sinke, würden die punktuellen Grenzkontrollen in Europa nicht mehr gebraucht, meinte Gros.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt Professor Daniel Gros, Politikwissenschaftler am Center for European Policy Studies, einem Thinktank in Brüssel. Schönen guten Tag, Herr Gros!
Daniel Gros: Guten Tag!
Armbrüster: Herr Gros, können wir sagen, ist das Schengen-Abkommen schon Geschichte?
Gros: Nein, Schengen-Abkommen funktioniert zu 90, 95 Prozent weiter. Es gibt punktuelle Kontrollen, und die sind das große politische Problem zur Zeit. Ich glaube auch nicht, dass sie bald zurückgefahren werden können, aber ich glaube, das wirkliche Problem ist an der Außengrenze da. Da hat die Bundeskanzlerin recht.
Armbrüster: Lassen Sie uns noch kurz bei Schengen bleiben, da hat der niederländische Premierminister Rutte in dieser Woche gesagt, es bleiben noch sechs Wochen Zeit, um Schengen zu retten. Hat er da übermäßig dramatisiert, hat er da übertrieben?
Gros: Das ist sicher eine Dramatisierung, ich habe ähnliches zur Euro-Krise gehört, damals ging es auch ein paar Wochen um der Euro wäre gescheitert. Nein, so dramatisch ist es nicht. Real ist es noch so, dass die Kontrollen, die bisher stattfinden, sehr punktuell sind, aber es stimmt schon, das System kommt an seine Grenzen, es knirscht. Bisher kann es die Last noch tragen, aber nicht mehr sehr lange. Das stimmt schon.
Armbrüster: Warum denn nicht mehr sehr lange, was könnte dann passieren?
Noch kann Schengen gerettet werden
Gros: Wenn es so weitergehen würde wie letztes Jahr, dass Millionen an Flüchtlingen kommen, dann wäre wohl vor allen Dingen Deutschland gezwungen, flächendeckend Kontrollen wieder einzuführen, und dann wäre natürlich Schengen tot, denn man kann sich kein Schengen ohne Deutschland vorstellen, wie man sich auch keinen Euroraum ohne Deutschland vorstellen kann. Das ist immer die entscheidende Frage: Führt Deutschland flächendeckende Kontrollen ein oder nicht. Solange Deutschland dies nicht tut, kann Schengen, glaube ich, gerettet werden.
Armbrüster: Aber ist es nicht schon ein fatales Signal für dieses Abkommen, wenn jetzt mehrere Staaten seit Wochen, seit Monaten an ihren Grenzen kontrollieren, auch wenn sie dies punktuell tun, weil eigentlich hatte dieses Abkommen mal im Sinn, dass solche Kontrollen abgeschafft sind, dass das Geschichte ist?
Gros: Genau. Man muss allerdings dazu sagen, dass in dem Abkommen von vornherein die Möglichkeit da war, punktuell wieder und auch temporär begrenzt einzuführen, das macht übrigens die Schweiz jedes Jahr, wenn Davos stattfindet. Das ist also juristisch gesehen nichts so Außergewöhnliches.
Armbrüster: Aber jetzt haben wir es möglicherweise mit zwei Jahren zu tun, wenn diese Berichte stimmen.
Gros: Genau, es stimmt schon, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann, und ich glaube auch, diese Kontrollen werden nur so lange weiter behalten werden müssen, solange über Griechenland und die Balkanroute noch Hunderttausende einströmen. Wenn man diesen Strom eindämmen kann auf vielleicht die Hälfte oder einen Drittel der Zahlen, die wir letztes Jahr hatten, dann, glaube ich, wird man diese Kontrollen nicht mehr brauchen.
Armbrüster: Wie groß ist denn Ihrer Einschätzung nach das Interesse in den Schengen-Staaten noch, an diesem Abkommen festzuhalten, oder gibt es da – wir haben das gerade auch vom Europaabgeordneten Richard Sulik gehört – sozusagen eine Haltung, die sagt, na gut, Schengen ja oder nein, das ist jetzt auch nicht so wichtig, viel wichtiger sind andere Errungenschaften wie beispielsweise der gemeinsame Markt?
Die Wirtschaft in den meisten Staaten hält an Schengen fest
Gros: Es ist ganz klar, dass der gemeinsame Markt viel besser funktioniert, wenn es Schengen gibt. Es gab einen Grund, warum man Schengen eingeführt hat damals, und das war nicht nur wegen der politischen Symbolik, sondern vor allen Dingen auch, weil die deutschen Spediteure, die deutschen Industrie mit den langen Wartezeiten an der Grenze sehr unzufrieden war. Es ist also ganz klar, dass besonders die kleinen Länder, die so eng wirtschaftlich verflochten sind, durch eine Aufhebung des Schengen flächendeckend einen großen wirtschaftlichen Verlust erleiden würden. Deswegen ist ja auch die Wirtschaft in den meisten Staaten strikt dagegen, Schengen aufzuheben.
Armbrüster: Aber wir können festhalten, der europäische Markt hat auch schon funktioniert, bevor dieses Abkommen Mitte der 90er-Jahre in Kraft gesetzt wurde.
Gros: Ganz klar, man kann sich einen Markt mit Grenzkontrollen vorstellen. Großbritannien ist in dem Markt, aber nimmt nicht an Schengen teil, aber weil wir jetzt schon 20 Jahre lang Schengen gehabt haben, hat es zu einer Integration geführt, auch just-in-time-delivery, also Sachen, die gerade rechtzeitig zur Fabrik gebracht werden, all das müsste wieder zerschlagen werden, und dann gäbe es am Anfang schon erhebliche Kosten.
Armbrüster: Diese Verunsicherung, die wir da jetzt spüren, diese Grenzkontrollen in vielen europäischen Ländern, diese Grenzkontrollen, die wieder eingeführt wurden – da hören wir jetzt häufig Stimmen, die sagen, das alles liegt an der deutschen Flüchtlingspolitik, an Angela Merkels Linie in dieser Flüchtlingspolitik. Sie hat diese Menschen quasi eingeladen und deshalb machen diese Menschen sich auf den Weg durch halb Europa, um jetzt nach Deutschland zu kommen. Was ist dran an dieser Ansicht?
Die Bereitschaft, Deutschland zu helfen, ist sehr gering
Gros: Da ist sicher etwas dran, und da liegt es vielleicht nicht so sehr an Maßnahmen, die in Deutschland getroffen wurden, sondern eher an dem Bild, was Angela Merkel gegeben hat, was durchaus sehr sympathisch war und ist, nämlich das wörtlich Flüchtlinge willkommen sind. Nun haben sich deswegen zu viele auf den Weg gemacht, und deswegen denken viele in Europa, es ist vor allen Dingen die Schuld von Angela Merkel, und das ist natürlich etwas, was sie nicht einfach wieder zurückdrehen kann. Dieses Genie ist sozusagen aus der Flasche entwichen, und ich glaube auch nicht, dass man sich vorstellen kann, dass jetzt Deutschland und Angela Merkel plötzlich sagt, Flüchtlinge sind bei uns nicht mehr willkommen, wenn es sich um wirkliche Flüchtlinge handelt, dann nur sehr konkrete Maßnahmen, um zu sagen, an der Außengrenze müssen wir sicherstellen, dass wirklich nur die reinkommen, die wirkliche Flüchtlinge sind.
Armbrüster: Aber würde nicht nach dieser Sichtweise Angela Merkel das Problem deutlich entschärfen, wenn sie sagen würde, Flüchtlinge sind ab jetzt nicht mehr willkommen, weil dann würden sich auch nicht mehr so viele Menschen auf den Weg machen?
Gros: Genau, das ist das, worauf viele Politiker außerhalb von Deutschland hoffen, dass Angela Merkel in der Öffentlichkeit die Linie Seehofer vertritt und nur ein sehr kaltes Bild zeigt, aber das ist natürlich für sie politisch unmöglich, denn dadurch würde sie sagen, ich habe einen großen Fehler gemacht, und deswegen glaube ich, dass da etwas verlangt wird, was so nicht geliefert werden kann.
Armbrüster: Wenn ich Sie dann richtig verstehe, Herr Gros, dann hat sich die Kanzlerin im Laufe dieser Flüchtlingskrise in Europa extrem unbeliebt gemacht.
Gros: Sie hat sich vielleicht nicht unbeliebt gemacht, aber sie hat sich etwas aufgehalst, was in vielen anderen Ländern jetzt als ein rein deutsches Problem angesehen wird, und deswegen ist die Bereitschaft, Deutschen auch zu helfen, sehr, sehr gering, und deswegen ist es auch so schwierig, eine europäische Lösung hinzubekommen.
Die Interessenlage Frankreichs ist eine andere
Armbrüster: Früher gab es in solchen Krisensituationen dann immer das deutsch-französische Tandem, da hat man dann den Kanzler und den französischen Präsidenten gesehen in solchen schweren Situationen, wo es irgendwie nicht weiterging, die sind dann gemeinsam aufgetreten und haben irgendeine Initiative verkündet. Warum fehlt das jetzt komplett? Warum gibt es da überhaupt keinen Schulterschluss mehr?
Gros: Weil die Interessenlage in diesem Fall wirklich ganz anders ist, nicht so sehr konträr, nur auf ganz verschiedene Gebiete gerichtet ist: In Frankreich kommen relativ wenig Flüchtlinge an, in Frankreich ist nur die Frage, wie kann man die öffentliche Sicherheit, wie kann man den Terrorismus bekämpfen, währenddessen es Deutschland umgekehrt um die große Zahl der Flüchtlinge geht. Deswegen ist die Sichtlage der beiden Regierungen vollkommen anders. In Frankreich gibt es nur ein Thema, das ist, den Terrorismus zu bekämpfen, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, und alles andere tritt demgegenüber in den Hintergrund. Deswegen ist die französische Regierung einfach nicht in der Lage, Deutschland auch in dieser Situation zu helfen.
Armbrüster: Wir haben jetzt in den kommenden Wochen zwei entscheidende Daten: Einmal eine Geberkonferenz für Syrien in London Anfang Februar und anschließend noch mal einen EU-Gipfel, der sich mit dieser verfahrenen Lage beschäftigen soll. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich diese Krise danach entschärfen wird?
Gros: Sie wird sich sicher nicht sofort danach entschärfen. Man muss allerdings auch sehen, dass ein Teil der Welle, die 2015 nach Deutschland geschwappt ist, daher kam, dass alle europäischen Länder, auch Deutschland, ihre finanzielle Hilfe für die Flüchtlingslager in der Türkei, in Jordanien, Libanon gekürzt hatten um fast die Hälfte. Da hat man sich durch falsche Sparsamkeit etwas eingebrockt, was hinterher dann sehr viel kostspieliger war. Wirklich worauf es ankommt in der kurzen Frist ist, wie jetzt die neue Hilfe von Frontex in Griechenland, in der Ägäis vor Ort umgesetzt wird. Das wird nicht am grünen Tisch in London oder in Brüssel entschieden, sondern vor Ort, vor den Inseln in Griechenland, und wenn dort jetzt mehr patrouilliert wird, wenn dort mehr eingegriffen wird, dann könnten sich die Flüchtlingsströme doch erheblich verringern.
Armbrüster: Daniel Gros war das vom Center for European Policy Studies in Brüssel, einer europapolitischen Denkfabrik dort. Vielen Dank, Herr Gros, für Ihre Zeit!
Gros: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.