Archiv

Politikwissenschaftler Jan Völkel
Flüchtlingsabkommen mit Ägypten wäre "Verzweiflungstat"

Die Zahl der Flüchtlinge, die in Europa ankommen, ist gesunken - die Zahl derjenigen, die im Mittelmeer ertrinken, aber nicht. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz will deshalb auch mit Ägypten ein Abkommen zur Rückführung von Migranten schließen. Zum Schutz der Flüchtlinge werde das aber nicht beitragen, sagte der Politikwissenschaftler Jan Völkel im DLF.

Jan Völkel im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Drei Männer sitzen am 22.09.2016 an der ägyptischen Küste bei Rosetta und blicken aufs Meer.
    Von Ägypten aus starten inzwischen immer mehr Flüchtlinge, wenn sie übers Meer nach Europa wollen. (AFP/MOHAMED EL-SHAHED)
    Seiner Meinung nach gibt es nur einen einzigen Weg zu verhindern, dass weiterhin so viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken - nämlich indem die EU legale Fluchtwege schafft. Jan Völkel forderte, auch Flüchtlingen die Möglichkeit zu geben, ohne Visum ein Flugzeug nach Europa zu nehmen, um dort dann Asyl zu beantragen. "So hätte man die Zahl der Toten im Mittelmeer in kürzester Zeit sehr radikal gesenkt."
    Der Politikwissenschaftler von der Cairo University räumte ein, dass diese Lösung "angesichts der aufgeheizten Atmosphäre" in Deutschland und anderen Mitgliedsländern der EU "in keinster Weise realistisch" sei. Deshalb versuche die EU, mit den Regierungen in Nordafrika zu kooperieren. Eine "Verzweiflungstat", so Völkel. Denn wenn es darum gehe, Menschenrechte zu schützen, seien diese Länder nicht ausreichend verlässlich.
    Mit der Türkei wurde vereinbart, dass sie Flüchtlinge, die von ihrem Staatsgebiet aus auf griechische Inseln geflohen sind, zurücknimmt. Im Gegenzug sagte die EU ihrerseits zu, die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei finanziell zu unterstützen. Laut Völkel wär ein solcher Pakt mit Ägypten auch deshalb schwierig, weil der Einsatz der Mittel vor Ort kaum kontrolliert werden könnte.
    Erst vor zwei Tagen war vor der Küste Ägyptens ein Flüchtlingsboot mit bis zu 600 Insassen gekentert. Mehr als 160 Menschen konnten gerettet werden - 115 Leichen wurden geborgen. Immer noch werden viele Menschen weiter vermisst.

    Das Interview in voller Länge:
    Sarah Zerback: Der Landweg nach Europa ist für Flüchtlinge mittlerweile weitgehend versperrt. Der Seeweg von Libyen ist extrem gefährlich. Deshalb setzen auf dem Weg nach Europa immer mehr Menschen auf Ägypten als Alternative, zumal sich die Krise vor Ort weiter verschärft und auch viele Ägypter in die Flucht treibt.
    Jeder zehnte Migrant, der in der EU ankommt, beginnt seine Reise hier, und oft endet die Überfahrt mit dem Tod. Erst in dieser Woche ist ein Boot mit Hunderten Menschen an Bord gekentert. Und so reift der Plan, mit Kairo ein ähnliches Abkommen zu schließen, wie es die EU mit der Türkei bereits geschlossen hat. Dafür eingesetzt hat sich jetzt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, und das ist keine Premiere.
    Zugehört hat der Politikwissenschaftler Jan Völkel von der Universität Kairo. Guten Tag, Herr Völkel.
    Jan Völkel: Guten Tag.
    Zerback: Wir haben es jetzt gerade im Beitrag gehört: Schlepper bekämpfen, illegale Migration, verhindern, dass Menschen ertrinken. Das klingt doch erst mal nach einer guten Idee. Ist es das Ihrer Ansicht nach auch?
    Völkel: Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive man ein solches Abkommen betrachtet. Aus Sicht der Regierungen mag das sehr lukrativ sein, weil es keine Alternativen momentan gibt. Das heißt, es gibt eine Alternative, die aber politisch sich nicht durchsetzen lässt. Das wäre die Öffnung der Grenzen und der Zugang von sicheren Wegen in die EU. Damit würde man die Zahl der Opfer auf dem Mittelmeer rapide senken. Aber das kann sich ja jeder selber vorstellen, dass dies auch angesichts des momentanen Klimas in Europa nicht möglich ist.
    Ägypten habe recht gut ausgebautes Staatswesen
    Das heißt, was bleibt ist die Idee, mit den südlichen Nachbarländern am Mittelmeer zu kooperieren. Das ist nichts Neues, das haben wir schon seit 10, 15 Jahren, diese Idee. Dass es nicht funktioniert, ist zu befürchten, und aus Sicht der Flüchtlinge, also Menschen auf der Suche nach einem verbesserten Leben, wird es sicher nur Nachteile bringen.
    Zerback: Was glauben Sie steckt dahinter? Die Unterbringung der Flüchtlinge im Land ist ja, gelinde gesagt, nicht optimal. Wie ist die Situation aktuell für die Menschen von dort? Wir hören ganz selten was aus Kairo.
    Völkel: Wir müssen natürlich sagen, dass Ägypten innerhalb Afrikas immer noch ein recht gut funktionierendes Land ist und ein recht gut ausgebautes Staatswesen hat. Das heißt, Menschen kommen aus Eritrea, aus Nigeria, aus dem Tschad, also aus Ländern, wo die Situation deutlich schlechter ist.
    Dennoch muss man sagen: Selbst für die durchschnittliche ägyptische Bevölkerung ist die Situation extremst schwer, sodass die Versorgung von Flüchtlingen in einem Land wie Ägypten unter allen Möglichkeiten bleiben würde, was wir in Europa hätten. Sodass man sagen müsste: Wenn ein Abkommen geschlossen wird mit der ägyptischen Regierung, in dem dann festgeschrieben wird, dass Menschenrechte zu beachten sind, dass Mindeststandards einzuhalten sind, dann ist doch eher zu befürchten, dass das auf dem Papier stehen bleibt, aber in der Realität in keiner Weise umgesetzt wird.
    Das geht hin bis zu Missbrauch von Flüchtlingen auf privater Ebene oder auch in Gefängnissen. Wir haben etliche Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die für Ägypten, Libyen und vergleichbare Länder hier Erschreckendes aufgedeckt haben, und da ist nicht absehbar, dass sich das, durch welches Abkommen auch immer mit der Europäischen Union irgendwie zum Besseren ändern würde.
    Zerback: Missbrauch von Macht auf der unteren und mittleren Ebene
    Zerback: Und vielleicht durch eine verschärfte Gesetzeslage? Wir haben es auch gerade kurz von unserer Brüssel-Korrespondentin gehört. In den nächsten Wochen soll ja ein Gesetz ins Parlament kommen, das erstmals illegale Migration und Menschenschmuggel kriminalisiert. Was halten Sie denn davon?
    Völkel: Das ist eine zwiespältige Sache, ähnlich wie das gesamte Konzept eines Abkommens. Gesetzesverschärfung in Ägypten heißt zunächst mal nicht viel in der Realität. Natürlich gibt es Gesetze, die dies und das verbieten. Es ist aber dann die Frage, wie diese Gesetze umgesetzt werden, und das kann sehr unterschiedlich sein. Oftmals werden ägyptische Aktivisten beispielsweise verhaftet, obwohl sie nicht mal gegen ein Gesetz verstoßen haben, und viele Ägypter, vor allen Dingen die, die zum Regime gehören, mögen völlig straffrei davonkommen, selbst wenn sie gegen Gesetze verstoßen.
    Das heißt, auch hier ist die Sache: Was auf dem Papier steht, ist das eine; was in der Realität praktiziert wird, ist das andere.
    Fest steht, dass der ägyptische Staat, man muss es so sagen, vor allen Dingen auf mittlerer Ebene und unterer Ebene in seinen Sicherheitsapparaten offensichtlich nicht ausreichend gut funktioniert. Das heißt, es wird immer Missbrauch von Macht geben auf der unteren und mittleren Ebene, und das ist auch zu befürchten mit Blick und insbesondere mit Blick auf die Flüchtlinge, die aus subsaharischen Ländern meistens, oder aus Syrien und anderen arabischen Ländern durch Kairo ihren Weg nach Europa suchen.
    Zerback: Wenn wir jetzt an so einen möglichen Deal zwischen der EU und Ägypten denken, dann soll da ja auch viel Geld fließen. Da ist im Moment von acht Milliarden Euro die Rede. Würde das Geld dann in solchen Strukturen überhaupt bei denjenigen ankommen, die es brauchen?
    Das Geld könnte in den Behörden verschwinden
    Völkel: Ich befürchte, nein. Die Details stehen natürlich noch nicht fest. Es ist ja bislang nur eine Idee. Aber das sieht man auch bei dem vergleichbaren Türkei-Abkommen, wo es um drei Milliarden Euro als Größenordnung geht. Da ist völlig unklar, dass von europäischer Seite wirklich hinterher kontrolliert werden kann, wie das Geld eingesetzt wird, auch nach welchen Maßstäben dann Flüchtlinge ausgesucht werden, die auf regulärem Wege nach Europa gebracht werden können.
    Ich befürchte und kann es natürlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht belegen, aber ich befürchte, wenn acht Milliarden Euro fließen würden, dass das nicht verlässlich meinetwegen in die Unterstützung von Flüchtlingsarbeit hier vor Ort geht, sondern irgendwo in den Behörden, in den Autoritäten verschwindet und dann meinetwegen zu ganz anderen Zwecken auch eingesetzt werden kann.
    Man muss sich klar machen: Das zentrale dominierende Element der ägyptischen Politik, des ägyptischen Staates ist das Militär. Das heißt, wenn hier acht Milliarden Euro für Flüchtlingskooperation nach Ägypten bezahlt werden würden, müsste davon ausgegangen werden, dass damit vor allen Dingen militärische Einheiten gestärkt werden, und Grenzschutz in Ägypten wird ja vom Militär überwiegend gemacht.
    Ob das im Sinne einer europäischen Friedenspolitik, einer Entspannungspolitik auch für die Region insgesamt gut ist, das wage ich sehr zu bezweifeln.
    "Es ist eine harte diplomatische Verhandlungsschiene"
    Zerback: Wir erleben das ja auch schon in den letzten Monaten. Da hat Kairo ja massiv die Marine verschärft, den Einsatz, hält damit, wenn man so will, Europa Flüchtlinge vom Leib. Ist es da nicht legitim, auch eine finanzielle Unterstützung zu fordern?
    Völkel: Ja, auch das ist natürlich eine zwiespältige Sache. Auf der einen Seite hat der ägyptische Staat seine ordentlichen Aufgaben zu erfüllen. Küstenschutz gehört dazu. Auf der anderen Seite versucht man, natürlich auch die Europäische Union unter Druck zu setzen. Auch das hat man im Falle der Türkei sehr schön gesehen.
    Bevor so ein Abkommen geschlossen wird, wird hart verhandelt, der Preis wird in die Höhe getrieben, dies und das wird noch mit hineingenommen, auch wichtige Elemente werden ausgelassen, zum Beispiel bestimmte Bevölkerungsgruppen, die dann nicht betroffen wären. Es ist eine harte diplomatische Verhandlungsschiene.
    Und was dann letztlich tatsächlich fließt und was dann umgesetzt wird, das ist immer die zweite Frage nach so einem Abkommen, und da haben wir in vergleichbaren Fällen ganz unterschiedliche Ergebnisse. Manche Regierungen kooperieren sehr gut mit der Europäischen Union und manche Regierungen auch gar nicht, obwohl jeweils ein entsprechendes Abkommen abgeschlossen wurde.
    "Mittelfristig sind mehr Todesopfer zu befürchten"
    Zerback: Sie sprechen den Vergleich mit der Türkei an. Martin Schulz hat ja heute noch mal betont, dass eine solche Zusammenarbeit ja möglich ist, das zeigt der Türkei-Deal, und zwar ohne eigene Prinzipien aufzugeben. Hat er recht?
    Völkel: Nein. Ich glaube, er hat da nicht recht. Es ist eher ein Argument, was man hinsichtlich der deutschen Innenpolitik, der europäischen Innenpolitik momentan verwenden möchte zu sagen, das Abkommen funktioniert. Es funktioniert, wenn man sich nur die Zahlen von Menschen betrachtet, die von der Türkei Richtung Europa gehen. Die sind ja tatsächlich stark abgefallen. Das heißt, aus der Türkei kommen deutlich weniger Menschen nach Europa.
    Gleichzeitig hat aber so eine Art Verdrängung eingesetzt, dass zum Beispiel aus Syrien, von der syrischen Küste, der libanesischen Küste und auch hier von Ägypten zunehmend Menschen sich auf den Weg machen, die dann versuchen, die Türkei zu umgehen und direkt Richtung Griechenland oder vor allem Richtung Italien sich auf den Weg zu machen. In der Konsequenz heißt das - und das sieht man auch in den Statistiken, die wir dieses Jahr haben: Die Zahl der Ankommenden in Europa geht zurück.
    Die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer bleibt aber gleich, oder - und das ist momentan zu befürchten - wird sogar den Rekordwert des vergangenen Jahres übertreffen, weil die Wege durchs Meer einfach länger werden, weil die Verhältnisse prekärer werden und (das darf man nicht vergessen) dieser Verdrängungswettbewerb auch das Schmugglerwesen attraktiver macht, weil für die organisierten Schmuggler natürlich höhere Erlöse zu erzielen sind, wenn nicht die kurzen Wege genommen werden können, sondern verlängerte Wege genommen werden müssen.
    Es ist also zu befürchten, dass die Zahlen mittelfristig nicht niedriger werden, aber dafür der Aufwand für jeden einzelnen Flüchtling ins Enorme steigt und damit auch mehrere Todesopfer zu befürchten sind.
    Menschenrechtsschutz werde in Ägypten "nicht verlässlich umgesetzt"
    Zerback: Und wie könnte man da Ihrer Meinung nach herangehen, sowohl die Schlepper zu bekämpfen als auch - und das ist natürlich ein großes Fass, was wir da aufmachen - die Flüchtlingskrise sonst stoppen? Was haben Sie da für Ideen?
    Völkel: Man muss sich ehrlich klar machen, was möchte man. Möchte man die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer reduzieren, oder möchte man Europa vor weiteren Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, abschotten. Wenn man das Letztere möchte, dann sollte man auf diese Abschreckungsstrategie setzen und es den Flüchtlingen so schwer wie möglich machen, hineinzukommen. Das heißt dann, dass man Menschenleben in Kauf nimmt in Höhe von Tausenden von Menschen jedes Jahr.
    Wenn man Flüchtlinge schützen möchte, wenn das wirklich das primäre Ziel der europäischen Politik ist, dann wäre die einzige, wirklich funktionierende Möglichkeit nach meiner Ansicht, dass man sagt, wir öffnen legale Fluchtwege. Das heißt zum Beispiel, so wie jeder deutsche Staatsbürger einfach ein Flugzeug besteigen kann und wo hinzufliegen, ohne sich vorher um ein Visum kümmern zu müssen in den meisten Fällen.
    Würde man auch Flüchtlingen die Möglichkeit geben, mit einem regulären Flugticket beispielsweise ein Flugzeug von Kairo oder von Khartum oder von wo auch immer nach Europa zu nehmen, die Menschen kommen an und beantragen dann einen Asylantrag vor Ort, damit hätte man die Zahl der Todesopfer im Mittelmeer innerhalb kürzester Zeit sehr radikal gesenkt.
    Aber - und das habe ich vorhin schon gesagt - das ist innenpolitisch angesichts der momentan aufgeheizten Situation, der Atmosphäre in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern aus meiner Sicht in keinster Weise realistisch.
    Und damit haben wir dieses Dilemma, dass die Europäische Union, die Regierungen, ich sage mal, verzweifelt versuchen, mit hiesigen Regierungen zu kooperieren. Aber die hiesigen Regierungen sind halt nicht ausreichend verlässlich, wenn es darum geht, Menschenrechtsschutz, auch überhaupt die Abkommen umzusetzen. Das ist wirklich eine Verzweiflungstat und es ist unklar, ob es letztlich zum Erfolg führen wird.
    Zerback: Der Politologe Jan Völkel von der Universität Kairo. Besten Dank für Ihre Einschätzungen.
    Völkel: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.