Thielko Grieß: Beim Thema Islamischer Staat lautete eine Meldung von heute Vormittag, heute früh, unter Berufung auf das US-Militär, dass der Islamische Staat im Irak und in Syrien zusehends an Boden verliere. Aber das gilt nicht für einen anderen Staat, in dem er sich festgesetzt hat, das gilt nicht für Libyen, ein Staat ohne funktionierende Regierung. Stattdessen gibt es da zwei rivalisierende Regierungen mit Machtansprüchen und etliche Clans. Und in diesem Chaos ist es dem IS gelungen, die Küstenstadt Sirte zu erobern, und zusätzlich greift der IS seit einigen Tagen einen Ölhafen in der Nähe von Sirte an. Und ich bin jetzt verbunden mit Wolfgang Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Lacher, guten Tag!
Wolfram Lacher: Guten Tag!
Grieß: Sie forschen seit etlicher, seit einiger Zeit, geraumer Zeit über Libyen. Wer stellt sich dem IS eigentlich in diesen Küstenorten noch entgegen?
Vielzahl der Milizen macht es dem IS schwer
Lacher: Libyens Territorium ist ja in zahlreiche lokale Einflussbereiche zersplittert. Das heißt, in jeder Stadt, in jeder Region gibt es politische Kräfte und bewaffnete Akteure, lokale Milizen, die lokal großen Einfluss haben und teilweise auch lokal miteinander im Konflikt stehen. Das heißt, auch die Einheiten, die sich jetzt beim Ölexportterminal von Sidra in den Weg stellen, sind eben solche lokale Milizen. Diese Milizen sind Kräfte, die die Ausbreitung des IS generell erschweren, denn der IS muss sich in jeder Stadt wieder neu den lokalen Besonderheiten anpassen und lokale Gruppen entweder kooptieren oder bekämpfen. Und das dauert.
Grieß: Ist das eine Situation, die der in Syrien ähnelt?
Lacher: Nein, denke ich nicht, denn es fehlen die großen Bruchlinien in diesen Konflikten in Libyen. Wir haben es mit Konfliktlinien zu tun, die sehr viel lokalisierter sind, und auch bewaffneten Akteuren, die sehr viel lokalisierter sind. Wir haben beispielsweise keine Zentralregierung mehr wie in Syrien, die als zentraler Akteur in diesem Konflikt agiert. Und wir haben auch nicht die sunnitisch-schiitische Bruchlinie in Libyen.
Grieß: Ist Libyen längst der neue Rückzugsraum geworden für den IS, wenn es jetzt enger wird für den IS in Syrien und im Irak?
Marginaler Akteur in Libyen
Lacher: Generell ist es natürlich schon so, dass der Staatszerfall nach der Revolution und der Intervention von 2011, das heißt also der Zentralmacht des Staates, die Entstehung zahlreicher Milizen, dass all das auch einer Anzahl dschihadistischer Gruppen, aus denen dann wiederum die libyschen Ableger des IS hervorgegangen sind, auch Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet haben. Aber trotzdem muss man auch sagen, der IS ist in Libyen immer noch ein marginaler Akteur, wenn auch einer, der tendenziell am Wachsen und am Expandieren begriffen ist.
Grieß: Es hat vor Weihnachten im Dezember in Italien, in Rom eine Konferenz gegeben, die dem Ziel diente, eine Einheitsregierung zu bilden. Wir räumen ganz offen ein, dass wir vor drei Wochen schon einmal mit Ihnen gesprochen haben hier im Programm, Herr Lacher. Damals haben Sie gesagt, diese Einheitsregierung, die da jetzt durchgepeitscht werden soll, so haben Sie es genannt, hat geringe Chancen, hat wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Bleiben Sie bei dieser Einschätzung?
Lacher: Momentan wird da sehr viel verhandelt. Viele politische Akteure in Libyen sind dabei, auszutesten, ob sie Teil dieser Regierung sein wollen und können, welchen Anteil sie an dieser Regierung bekommen. Das heißt also, ob die Bildung dieser Regierung gelingt und welche Unterstützung sie von wichtigen politischen Kräften im Land hat, ist im Moment noch sehr, sehr unklar.
Grieß: Gibt es denn jetzt unter dem Eindruck des Vordringens des Islamischen Staates an der Küste oder an Küstenteilen Libyens eine Alternative?
Lacher: Eine Alternative zu ...?
Grieß: Zu dem Versuch, eine Einheitsregierung zu bilden, auch unter westlichem Druck oder westlicher Hilfestellung, wenn man das so nennen darf.
Lacher: Nein. Im Prinzip gibt es zur Bildung einer Einheitsregierung keine Alternative. Die Frage ist nur, welche Unterstützung die Regierung im Land hat und ob sie als eine westliche Marionette angesehen wird von weiten Teilen der öffentlichen Meinung. Denn eine Regierung, die diesen Stempel trägt, wird kaum Fortschritte im Kampf gegen den IS machen können.
Grieß: Wenn wir auf Syrien schauen, auf den Irak schauen, was wir häufig ja tun, täglich tun, dann ist viel die Rede von militärischen Interventionen, die ja stattfinden. Ist das für Libyen auch eine notwendige Denkoption?
Internationale Truppen würden nicht weiterhelfen
Lacher: Ich glaube, wenn man von internationalen Interventionen im Sinne von Truppen in Libyen selbst spricht, dann ist das kein gangbarer Weg. Das wird auf sehr negative Reaktionen in Libyen stoßen, und das wäre kontraproduktiv. Man hat aber von internationaler Seite in Libyen natürlich sehr große Probleme hinsichtlich der Kräfte, die man im Land unterstützen kann im Kampf gegen den IS, denn, wie Sie schon sagten, die letzten anderthalb Jahre gab es in Libyen zwei Regierungen und zwei Parlamente, die sich gegenseitig die Legitimität absprachen, die wiederum keine direkte Kontrolle über die Milizen ausübten. Jetzt befinden wir uns in der Übergangsphase. Es ist noch nicht klar, ob die Bildung der Einheitsregierung gelingt, und selbst wenn diese Regierungsbildung gelingt, dann hat diese Regierung zunächst einmal immer noch keine Truppen. Also die Einheiten, in deren Händen sich die Waffenarsenale befinden und die den IS tatsächlich bekämpfen können, sind allesamt Milizen, und wenn man diese Einheiten international unterstützt, dann unterstützt man Akteure in den Machtkämpfen in Libyen, die sich dann gegenseitig bekämpfen.
Grieß: Sagt Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik hier bei uns im Deutschlandfunk. Danke schön, Herr Lacher!
Lacher: Danke Ihnen auch!
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