Bettina Klein: Aufgepasst: jetzt wird es mathematisch, aber auch demokratietheoretisch und grundsätzlich, um nicht zu sagen grundgesetzlich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beschäftigt sich heute mit unserem Wahlrecht in mündlicher Verhandlung; ein Urteil wird erst in einigen Wochen oder Monaten erwartet. Worum geht es? – Um Überhangmandate und die sogenannte negative Stimmengewichtung, also im Grunde einen bestimmten Aspekt unseres Wahlrechts. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Auswirkungen bereits 2008 als verfassungswidrig deklariert, die Bundesregierung hatte sich lange für eine Überarbeitung Zeit gelassen, die nun ihrerseits in Karlsruhe auf dem Prüfstand steht. SPD, Grüne und mehr als 3000 Bürger hatten jetzt dagegen geklagt.
Am Telefon sind wir jetzt verbunden mit Professor Martin Morlok, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler aus Düsseldorf. Ich grüße Sie, Herr Morlok.
Martin Morlok: Guten Tag, Frau Klein.
Klein: Wir konnten es im Beitrag gerade hören: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes hat die Verhandlung begonnen mit Kritik an den Parteien. Trifft diese Kritik zurecht alle Parteien Ihrer Meinung nach?
Morlok: Also zunächst einmal muss man schon sagen, dass die Entscheidung, dass das geltende Wahlgesetz verfassungswidrig sei, ja schon in der vorherigen Legislaturperiode getroffen wurde, und schon die damalige Große Koalition hätte die Gelegenheit gehabt, das zu machen, und eine Große Koalition wäre auch eine ideale Situation gewesen, das Wahlrecht zu ändern. Insofern trifft es durchaus alle Parteien. Was diese Legislaturperiode angeht, so hat die jetzige Mehrheit natürlich Monate, ja eineinhalb Jahre lang nichts getan, um dann hopplahopp den jetzigen Gesetzentwurf vorzulegen.
Klein: Lässt sich denn genau analysieren, ob und welche parteipolitischen Interessen bei Union und FDP eine Rolle spielten, das Gesetz einerseits so zu reformieren, wie sie es getan haben, und bei SPD und Grünen andererseits, jeweils mit ihren Vorschlägen dagegenzuhalten und das auch mit einer Klage in Karlsruhe zu manifestieren? Wem nützt was, oder ist das unabhängig von ganz engem parteipolitischem Eigennutz zu sehen?
Morlok: Nein, das ist sicher nicht unabhängig von engerem parteipolitischem Eigennutz, und ehe ich direkt auf Ihre Frage komme, muss man festhalten, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik das Wahlgesetz nicht im Einklang mit der Opposition geändert wurde, und das ist, glaube ich, schon ein Bruch unserer politischen Kultur. Das Wahlrecht verteilt ja politische Machtchancen und da sollte die aktuelle Mehrheit nicht einseitig dran fummeln.
Jetzt die Frage, wer profitiert davon. Das Entscheidende scheint mir nicht das negative Stimmgewicht zu sein. Das ist spektakulär, aber eigentlich ein Randphänomen. Viel wichtiger sind die Überhangmandate. Und wenn der Prozessvertreter der Bundesregierung gerade vorgetragen hat, aufgegeben hat das alte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nur das negative Stimmgewicht zu beseitigen, so ist das richtig. Aber die drängende Frage, ob die Überhangmandate nicht verfassungswidrig sind, die steht ja im Raum. Und wenn wir nicht mehr drei, sondern fünf oder sechs Parteien haben, die in den Bundestag kommen oder jedenfalls gute Chancen haben können, dann gewinnt man einen Wahlkreis vielleicht mit 35 Prozent, und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Überhangmandate geben wird, sehr viel größer. Und es kann nicht sein, dass im Ergebnis der Bundestag eine Mehrheit aufweist gegen eine Mehrheit der Zweitstimmen. Das wäre eine Verkehrung des Wählerwillens, die sehr viel dramatischer ist als das Randphänomen des negativen Stimmgewichtes.
Klein: Verstehe ich Sie richtig, Herr Professor Morlok, dass das Bundesverfassungsgericht möglicherweise dahin gehend urteilen wird, die Überhangmandate abzuschaffen und die negative Stimmengewichtung beizubehalten, oder ist die damit automatisch dann auch erledigt?
Morlok: Also wenn Überhangmandate nicht mehr auftauchen, dann gibt es auch kein negatives Stimmgewicht mehr.
Klein: Vielleicht schauen wir noch mal auf den konkreten Fall, weil ich glaube, Überhangmandate, das ist vielen Leuten inzwischen ganz deutlich, wie die zustande kommen. Aber diese negative Stimmengewichtung, vielleicht doch noch mal ein Wort dazu. Die ergibt sich ja im weitesten Sinne und allgemein formuliert aus der Verrechnung von Erst- und Zweitstimmen, und dann kann es passieren, dass eine für eine Partei abgegebene Zweitstimme im Ergebnis mit dazu führt, dass die Partei weniger Sitze im Parlament bekommt. Können Sie mal ein einfaches Beispiel geben, wann tritt der Fall ein und wie funktioniert das?
Morlok: Also die Komplikation ist eine doppelte. Wir haben Erst- und Zweitstimmen und wir haben unterschiedliche Landeslisten, und die Kombination dieser beiden Besonderheiten unseres Wahlrechts führt zum negativen Stimmgewicht. Nehmen wir an, in einem Land - sagen wir Sachsen, weil dort das ja aufgetaucht ist – hat eine Partei eine bestimmte Zahl von Überhangmandaten. Und wenn nun sie weniger Zweitstimmen bekommt, dann bedeutet das, dass sie ein Überhangmandat mehr bekommt, weil nämlich die Zweitstimmen die Erstmandate nicht mehr kompensieren. Was passiert nun mit den Zweitstimmen aus Sachsen? Man schaut nun, in welchem anderen Land ist die Landesliste der jeweiligen Partei am nächsten dran an einem Mandat, und in diesem Fall bekommt dann also dieselbe Partei in Sachsen ein Überhangmandat mehr. Das wird aber nicht kompensiert, sondern in einem anderen Land bekommt sie noch ein Listenmandat.
jetzt so ungerecht?
Klein: Und was ist daran
Morlok: ... , dass ich mit weniger Stimmen im Ergebnis mehr Mandate bekomme.
Klein: Aber das ist ja grundsätzlich der Fall, solange es Überhangmandate im Grunde genommen gibt, und zwar unabhängig davon, wie das bei Landtags- oder Bundestagswahlen ausgestaltet ist.
Morlok: Ja also dieses negative Stimmgewicht taucht eben auf, weil ich die verschiedenen Landeslisten hinterher separat bediene, und diejenige Landesliste, die relativ in derselben Partei am besten dasteht, die bekommt ein Mandat. Und ein Verlust in einem Land an Zweitstimmen führt dort zu einem Überhangmandat, aber zu gleicher Zeit zieht die Liste in einem anderen Land um eine Stimme mehr, und das ist schon ein merkwürdiger Effekt, dass also etwa 5000 weniger Stimmen zu einem Gewinn von einem Sitz führen.
Klein: Wenn Sie sagen, die Überhangmandate gehören abgeschafft, wäre das eine ausreichende Vereinfachung unseres ja offenbar doch relativ komplizierten Wahlsystems?
Morlok: Also wir haben ein kompliziertes Wahlsystem und wenn man an der einen Stelle was verbessern will, handelt man sich möglicherweise an der anderen Stelle einen Nachteil ein. Das muss man einfach so sehen. Man kann die Überhangmandate schlicht dadurch beseitigen, dass es Ausgleichsmandate gibt, dass die Proportionalität wieder hergestellt wird, und dann gilt eben die Wahlrechtsgleichheit, jeder Wähler hat gleich viel Mandatsverschaffungsmacht und jede Partei braucht für ein Mandat gleich viele Sitze. Mit Überhangmandaten ist es etwa so, dass eine Partei, die viele Überhangmandate hat, mit 65.000 Stimmen einen Sitz bekommt, und eine andere Partei, die braucht 69.000 Stimmen. Entsprechend ist das Stimmgewicht des einzelnen Wählers eben auch kleiner. Nur der Vorschlag der SPD, dass man Ausgleichsmandate einführt für Überhangmandate, der führt natürlich zu einer Vergrößerung des Bundestages, und da ist die Frage, will man das – das bezeichnet man abschätzig als Aufblähung -, ist einem die Wahlrechtsgleichheit so viel wert, dass man sagt, das nehmen wir in Kauf.
Klein: Und Sie würden sagen, wir sollten das in Kauf nehmen?
Morlok: Also ich bin der deutlichen Auffassung, dass die Wahlrechtsgleichheit das Wichtigste ist in unserer Demokratie und wenn das ein paar Millionen mehr kostet, dann ist das der Preis der Demokratie und der Preis der Wahlrechtsgleichheit.
Klein: Herr Morlok, abschließend: Wie wahrscheinlich ist es, dass das Bundesverfassungsgericht jetzt selbst dieses Wahlrecht festlegt und formuliert? So ein bisschen geisterte die Idee ja durch die öffentliche Debatte. Könnte es dazu kommen?
Morlok: Zunächst einmal ist das ja Sache des Gesetzgebers. Unterstellt einmal, das jetzige Wahlrecht wird für verfassungswidrig erklärt, dann wäre der Gesetzgeber wieder dran. Aber man muss ja eben sehen, dass wir die nächsten Bundestagswahlen in eineinhalb Jahren bereits haben, und wenn der Gesetzgeber sich lange genug Zeit lässt und wieder was Verfassungswidriges macht, dann kommt es nicht mehr vor der Wahl zu einer verfassungsmäßigen Korrektur.
Klein: Und dann darf Karlsruhe ruhig eingreifen, sagen Sie?
Morlok: Und dann wird Karlsruhe auch eingreifen, das haben die ja auch schon signalisiert. Ich könnte mir vorstellen, wenn das wirklich jetzt verworfen wird, dass man eine kurze Frist gibt und sagt, nach Ablauf dieser Frist sagen wir was.
Klein: Ist das demokratietheoretisch völlig unproblematisch, wenn das Bundesverfassungsgericht dann selbst ein Gesetz praktisch erlässt?
Morlok: Nein, natürlich nicht. Aber wir haben hier ja die Besonderheit, dass die aktuelle Mehrheit die Erfolgschancen für die nächste Wahl bestimmen kann, und in dieser Situation ist das Verfassungsgericht auch in der Vergangenheit zu stärkeren Eingriffen bereit gewesen – auch eine Frage der Kontrollintensität. Es gibt ja auch Vertreter, die die jetzige Regelung rechtfertigen und sagen, Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Aber das Gericht sagt – und ich glaube eben zurecht -, wenn es um die Regeln der Machtverteilung geht, ist die Kontrolle des Verfassungsgerichtes stärker und gegebenenfalls müssen die auch selbst auf den Plan treten.
Klein: Die Meinung und Einschätzung von Professor Martin Morlok, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler an der Uni Düsseldorf. Ich bedanke mich, Herr Morlok, für das Gespräch.
Morlok: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am Telefon sind wir jetzt verbunden mit Professor Martin Morlok, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler aus Düsseldorf. Ich grüße Sie, Herr Morlok.
Martin Morlok: Guten Tag, Frau Klein.
Klein: Wir konnten es im Beitrag gerade hören: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes hat die Verhandlung begonnen mit Kritik an den Parteien. Trifft diese Kritik zurecht alle Parteien Ihrer Meinung nach?
Morlok: Also zunächst einmal muss man schon sagen, dass die Entscheidung, dass das geltende Wahlgesetz verfassungswidrig sei, ja schon in der vorherigen Legislaturperiode getroffen wurde, und schon die damalige Große Koalition hätte die Gelegenheit gehabt, das zu machen, und eine Große Koalition wäre auch eine ideale Situation gewesen, das Wahlrecht zu ändern. Insofern trifft es durchaus alle Parteien. Was diese Legislaturperiode angeht, so hat die jetzige Mehrheit natürlich Monate, ja eineinhalb Jahre lang nichts getan, um dann hopplahopp den jetzigen Gesetzentwurf vorzulegen.
Klein: Lässt sich denn genau analysieren, ob und welche parteipolitischen Interessen bei Union und FDP eine Rolle spielten, das Gesetz einerseits so zu reformieren, wie sie es getan haben, und bei SPD und Grünen andererseits, jeweils mit ihren Vorschlägen dagegenzuhalten und das auch mit einer Klage in Karlsruhe zu manifestieren? Wem nützt was, oder ist das unabhängig von ganz engem parteipolitischem Eigennutz zu sehen?
Morlok: Nein, das ist sicher nicht unabhängig von engerem parteipolitischem Eigennutz, und ehe ich direkt auf Ihre Frage komme, muss man festhalten, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik das Wahlgesetz nicht im Einklang mit der Opposition geändert wurde, und das ist, glaube ich, schon ein Bruch unserer politischen Kultur. Das Wahlrecht verteilt ja politische Machtchancen und da sollte die aktuelle Mehrheit nicht einseitig dran fummeln.
Jetzt die Frage, wer profitiert davon. Das Entscheidende scheint mir nicht das negative Stimmgewicht zu sein. Das ist spektakulär, aber eigentlich ein Randphänomen. Viel wichtiger sind die Überhangmandate. Und wenn der Prozessvertreter der Bundesregierung gerade vorgetragen hat, aufgegeben hat das alte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nur das negative Stimmgewicht zu beseitigen, so ist das richtig. Aber die drängende Frage, ob die Überhangmandate nicht verfassungswidrig sind, die steht ja im Raum. Und wenn wir nicht mehr drei, sondern fünf oder sechs Parteien haben, die in den Bundestag kommen oder jedenfalls gute Chancen haben können, dann gewinnt man einen Wahlkreis vielleicht mit 35 Prozent, und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Überhangmandate geben wird, sehr viel größer. Und es kann nicht sein, dass im Ergebnis der Bundestag eine Mehrheit aufweist gegen eine Mehrheit der Zweitstimmen. Das wäre eine Verkehrung des Wählerwillens, die sehr viel dramatischer ist als das Randphänomen des negativen Stimmgewichtes.
Klein: Verstehe ich Sie richtig, Herr Professor Morlok, dass das Bundesverfassungsgericht möglicherweise dahin gehend urteilen wird, die Überhangmandate abzuschaffen und die negative Stimmengewichtung beizubehalten, oder ist die damit automatisch dann auch erledigt?
Morlok: Also wenn Überhangmandate nicht mehr auftauchen, dann gibt es auch kein negatives Stimmgewicht mehr.
Klein: Vielleicht schauen wir noch mal auf den konkreten Fall, weil ich glaube, Überhangmandate, das ist vielen Leuten inzwischen ganz deutlich, wie die zustande kommen. Aber diese negative Stimmengewichtung, vielleicht doch noch mal ein Wort dazu. Die ergibt sich ja im weitesten Sinne und allgemein formuliert aus der Verrechnung von Erst- und Zweitstimmen, und dann kann es passieren, dass eine für eine Partei abgegebene Zweitstimme im Ergebnis mit dazu führt, dass die Partei weniger Sitze im Parlament bekommt. Können Sie mal ein einfaches Beispiel geben, wann tritt der Fall ein und wie funktioniert das?
Morlok: Also die Komplikation ist eine doppelte. Wir haben Erst- und Zweitstimmen und wir haben unterschiedliche Landeslisten, und die Kombination dieser beiden Besonderheiten unseres Wahlrechts führt zum negativen Stimmgewicht. Nehmen wir an, in einem Land - sagen wir Sachsen, weil dort das ja aufgetaucht ist – hat eine Partei eine bestimmte Zahl von Überhangmandaten. Und wenn nun sie weniger Zweitstimmen bekommt, dann bedeutet das, dass sie ein Überhangmandat mehr bekommt, weil nämlich die Zweitstimmen die Erstmandate nicht mehr kompensieren. Was passiert nun mit den Zweitstimmen aus Sachsen? Man schaut nun, in welchem anderen Land ist die Landesliste der jeweiligen Partei am nächsten dran an einem Mandat, und in diesem Fall bekommt dann also dieselbe Partei in Sachsen ein Überhangmandat mehr. Das wird aber nicht kompensiert, sondern in einem anderen Land bekommt sie noch ein Listenmandat.
jetzt so ungerecht?
Klein: Und was ist daran
Morlok: ... , dass ich mit weniger Stimmen im Ergebnis mehr Mandate bekomme.
Klein: Aber das ist ja grundsätzlich der Fall, solange es Überhangmandate im Grunde genommen gibt, und zwar unabhängig davon, wie das bei Landtags- oder Bundestagswahlen ausgestaltet ist.
Morlok: Ja also dieses negative Stimmgewicht taucht eben auf, weil ich die verschiedenen Landeslisten hinterher separat bediene, und diejenige Landesliste, die relativ in derselben Partei am besten dasteht, die bekommt ein Mandat. Und ein Verlust in einem Land an Zweitstimmen führt dort zu einem Überhangmandat, aber zu gleicher Zeit zieht die Liste in einem anderen Land um eine Stimme mehr, und das ist schon ein merkwürdiger Effekt, dass also etwa 5000 weniger Stimmen zu einem Gewinn von einem Sitz führen.
Klein: Wenn Sie sagen, die Überhangmandate gehören abgeschafft, wäre das eine ausreichende Vereinfachung unseres ja offenbar doch relativ komplizierten Wahlsystems?
Morlok: Also wir haben ein kompliziertes Wahlsystem und wenn man an der einen Stelle was verbessern will, handelt man sich möglicherweise an der anderen Stelle einen Nachteil ein. Das muss man einfach so sehen. Man kann die Überhangmandate schlicht dadurch beseitigen, dass es Ausgleichsmandate gibt, dass die Proportionalität wieder hergestellt wird, und dann gilt eben die Wahlrechtsgleichheit, jeder Wähler hat gleich viel Mandatsverschaffungsmacht und jede Partei braucht für ein Mandat gleich viele Sitze. Mit Überhangmandaten ist es etwa so, dass eine Partei, die viele Überhangmandate hat, mit 65.000 Stimmen einen Sitz bekommt, und eine andere Partei, die braucht 69.000 Stimmen. Entsprechend ist das Stimmgewicht des einzelnen Wählers eben auch kleiner. Nur der Vorschlag der SPD, dass man Ausgleichsmandate einführt für Überhangmandate, der führt natürlich zu einer Vergrößerung des Bundestages, und da ist die Frage, will man das – das bezeichnet man abschätzig als Aufblähung -, ist einem die Wahlrechtsgleichheit so viel wert, dass man sagt, das nehmen wir in Kauf.
Klein: Und Sie würden sagen, wir sollten das in Kauf nehmen?
Morlok: Also ich bin der deutlichen Auffassung, dass die Wahlrechtsgleichheit das Wichtigste ist in unserer Demokratie und wenn das ein paar Millionen mehr kostet, dann ist das der Preis der Demokratie und der Preis der Wahlrechtsgleichheit.
Klein: Herr Morlok, abschließend: Wie wahrscheinlich ist es, dass das Bundesverfassungsgericht jetzt selbst dieses Wahlrecht festlegt und formuliert? So ein bisschen geisterte die Idee ja durch die öffentliche Debatte. Könnte es dazu kommen?
Morlok: Zunächst einmal ist das ja Sache des Gesetzgebers. Unterstellt einmal, das jetzige Wahlrecht wird für verfassungswidrig erklärt, dann wäre der Gesetzgeber wieder dran. Aber man muss ja eben sehen, dass wir die nächsten Bundestagswahlen in eineinhalb Jahren bereits haben, und wenn der Gesetzgeber sich lange genug Zeit lässt und wieder was Verfassungswidriges macht, dann kommt es nicht mehr vor der Wahl zu einer verfassungsmäßigen Korrektur.
Klein: Und dann darf Karlsruhe ruhig eingreifen, sagen Sie?
Morlok: Und dann wird Karlsruhe auch eingreifen, das haben die ja auch schon signalisiert. Ich könnte mir vorstellen, wenn das wirklich jetzt verworfen wird, dass man eine kurze Frist gibt und sagt, nach Ablauf dieser Frist sagen wir was.
Klein: Ist das demokratietheoretisch völlig unproblematisch, wenn das Bundesverfassungsgericht dann selbst ein Gesetz praktisch erlässt?
Morlok: Nein, natürlich nicht. Aber wir haben hier ja die Besonderheit, dass die aktuelle Mehrheit die Erfolgschancen für die nächste Wahl bestimmen kann, und in dieser Situation ist das Verfassungsgericht auch in der Vergangenheit zu stärkeren Eingriffen bereit gewesen – auch eine Frage der Kontrollintensität. Es gibt ja auch Vertreter, die die jetzige Regelung rechtfertigen und sagen, Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Aber das Gericht sagt – und ich glaube eben zurecht -, wenn es um die Regeln der Machtverteilung geht, ist die Kontrolle des Verfassungsgerichtes stärker und gegebenenfalls müssen die auch selbst auf den Plan treten.
Klein: Die Meinung und Einschätzung von Professor Martin Morlok, Politikwissenschaftler und Staatsrechtler an der Uni Düsseldorf. Ich bedanke mich, Herr Morlok, für das Gespräch.
Morlok: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.