Jasper Barenberg: Die CDU wird in Sachsen-Anhalt wohl weiter den Regieru
ngschef stellen. Auch Ministerpräsidentin Malu Dreyer kann in Rheinland-Pfalz ihr Amt für die SPD verteidigen. Und doch sind sowohl Christ- als auch Sozialdemokraten nach diesem Wahltag schwer angeschlagen. Zwei eindeutige Sieger gibt es gleichwohl: In Baden-Württemberg triumphiert der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die AfD zieht mit zweistelligen Ergebnissen in alle drei Landtage ein.
Aus Magdeburg zugeschaltet ist uns der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Uni Halle-Wittenberg. Schönen guten Tag, Herr Holtmann.
Everhard Holtmann: Schönen guten Tag, Herr Barenberg.
Barenberg: Lassen Sie uns vielleicht mit der AfD beginnen, dem Sieger des gestrigen Abends. Die Partei hat noch besser abgeschnitten, als ohnehin erwartet. Wie erklären Sie sich das?
Holtmann: Ausdruck dessen ist ja, dass die AfD aus dem Reservoir der Nichtwähler in einem bemerkenswert hohen Maße hat Wähler, heutige Wähler oder gestrige Wähler gewinnen können, und da kommen wohl, weil es sich ja in einem hohen Maße um eine Gefühlslage handelt, die den Weggrund für die AfD-Stimmen dann auch kennzeichnen, zwei Punkte zusammen.
Wir haben in den Umfragen schon in den Vorjahren messen können, dass es eine doch verbreitete Stimmung von Unzufriedenheit, genereller Unzufriedenheit mit Politik und dem politischen Betrieb gibt und dass sich das in Sonderheit bei bisherigen Nichtwählern zu Boden gesetzt hat. Und auf der anderen Seite: Dazu kommt dann praktisch wie eine Art Mehltau, der sich darüber legt, der aktuelle Verdruss, das aktuelle Unverständnis über die Flüchtlingspolitik, wie sie mit der Bundespolitik identifiziert ist. Aus diesen beiden Quellen speist sich offensichtlich das Motiv, dass gerade in Sachsen-Anhalt so sehr viele ehemalige Nichtwähler oder bisherige Nichtwähler dann sich auf den Weg an die Wahlurnen gemacht haben und die AfD gewählt haben.
Barenberg: Wenn es so ist wie Sie sagen und sich da viel Unzufriedenheit, Verdruss und Enttäuschung manifestiert, dann kennen wir ja aus der Vergangenheit das Phänomen, dass das dann für eine Wahl gut ist und dann erweist sich das als eine politische Eintagsfliege. Jetzt sagen viele, in diesem Fall wird das anders sein. Wird es anders sein?
"Politik muss Reizthema Flüchtlinge behandeln"
Holtmann: Ja, ich wäre auch vorsichtig. Wir haben ja auch in Sachsen-Anhalt einen gewissen Vorläufer gehabt 1998 bei den Landtagswahlen. Wie aus dem Nichts hat die damals ja rechtsextreme DVU den Einzug in den Landtag geschafft und ist dann im Grunde genommen auch sehr schnell wieder verschwunden, auch aus dem Bewusstsein ihrer ehemaligen Wählerinnen und Wähler. Aber man muss abwarten. Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht in einem völlig identischen Maße. Man muss abwarten. Ich denke, die Chancen, dass die AfD sich auf absehbare Zeit im deutschen Parteiensystem regional jetzt und möglicherweise auch im Bund wird festsetzen können, hängen davon ab, hängen entscheidend davon ab, inwieweit es umgekehrt der Bundespolitik, der von derzeit ja einer Großen Koalition geführten Bundespolitik gelingt, dieses Reizthema Flüchtlinge so zu behandeln, dass der AfD der Boden entzogen wird, dass eine Stimmung entsteht, die nicht mehr davon ausgeht, da gibt es eine Art Handlungsblockade, eine Art Unvermögen der regierenden Politik, sondern wo eine Stimmung sich ausbreitet, die da sagt, trotz aller Schwierigkeiten, es ist in der Tat zu schaffen. Deutschland ist ein ökonomisch sehr reiches und stabiles Land und wir müssen nur die Konzepte auch zusammenbinden und dann entsprechend vermitteln.
Barenberg: Heißt das auch, wenn Sie so sehr auf die Flüchtlingspolitik und die Probleme, die sich daran knüpfen, rekurrieren, dass die AfD mit anderer Programmatik, die sich ja erst langsam abzeichnet, Stichwort Atomkraft wieder einführen, dass sie mit solch anderer Programmatik dann so etwas nicht kompensieren könnte, wenn das Flüchtlingsthema nicht mehr so ein Reizthema ist?
Holtmann: Ja dann käme es zumindest zu einem, sagen wir mal, sachpolitischen Austausch ganz unterschiedlicher Positionen. Es ist ja ganz bemerkenswert. Die Wahlforscher haben gestern ja auch herausgefunden, dass das Thema soziale Gerechtigkeit, im Grunde genommen ein klassisches Thema der SPD, für die Wählerinnen und Wähler der AfD von hoher Bedeutung ist. Wenn man nun aber genauer hinschaut - und da komme ich noch mal zu den von Ihnen angeschnittenen sachpolitischen Forderungen der AfD, die ja im Wahlprogramm da sind und die ein bisschen hinter dem Vorhang der Flüchtlingsagitation verschwunden sind -, da taucht doch ein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit auf, was mit dem bisherigen traditionellen Deutungsmuster, wie es Die Linke auch entsprechend repräsentiert, in Wettbewerb tritt. Vereinfacht gesagt: Bei der AfD geht es darum und auch bei den AfD-Sympathisanten, die sehen es so: Soziale Gerechtigkeit bedeutet vor allen Dingen eine angemessene Verteilung zwischen auf der einen Seite den Deutschen und den Einheimischen und auf der anderen Seite den Zuwanderern zu kommen, während das klassische Verständnis von sozialer Gerechtigkeit abhebt auf, jetzt sehr platt gesagt, den Unterschied zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen Arbeit und Kapital. Und in diesem Bereich sind dann auch die möglicherweise strittigen Punkte angesiedelt, denn dann wird man auch die AfD mit ihren Forderungen stellen können, die da heißen: Abschaffung des Mindestlohns beispielsweise, Abschaffung der Erbschaftssteuer und dergleichen mehr. Das ist die sachpolitische Diskussion, die, wenn sich der Nebel der Flüchtlingsagitation ein wenig durchdringen lässt, eigentlich angemessen ist.
"SPD hat nach wie vor den Status einer Volkspartei"
Barenberg: Beim Stichwort soziale Gerechtigkeit sind wir natürlich auch bei einem weiteren Verlierer gestern: der SPD. Da dachte man ja immer, Umfrageergebnisse von ungefähr 25 Prozent, weiter nach unten kann es für die Sozialdemokraten nicht gehen. Jetzt nach diesem Desaster in zwei von drei Bundesländern, kann man sagen, müssen wir uns darauf einstellen, dass die SPD sich als Volkspartei langsam verabschiedet?
Holtmann: Für den Status der Volkspartei spielen ja mindestens drei Faktoren eine Rolle. Da ist auf der einen Seite die Breite der Wählerbasis. Da könnte man in der Tat diese Zweifel erheben. Dann aber doch auch die soziale Zusammensetzung der Mitgliederschaft und schließlich auch die entsprechende Bandbreite des eigenen Programms, und mindestens bei letzten beiden Positionen hat die SPD wie auch die CDU meines Erachtens nach wie vor den Status einer Volkspartei. Aber sie muss schauen, das wird nicht einfach sein, dass sie ihre Profilunschärfen, die sie zwischen CDU auf der einen Seite und der AfD jetzt auf der anderen Seite (hinzu kommen in Baden-Württemberg auch die sehr starken Grünen), die sie gewissermaßen eingeklemmt hat, da ihr eigenes Profil zu entwickeln. Das wird nicht leicht sein, aber vielleicht wäre ein Weg, dass man auf diese konträren Deutungsmuster der sozialen Gerechtigkeit abhebt. Denn auch der SPD, auch übrigens von den Wahlberechtigten in Sachsen-Anhalt, werden ja, wurden gestern auch diese Kernkompetenzen im Bereich soziale Gerechtigkeit durchaus noch zugebilligt. Da muss die Partei dann auch offensiv werden und sie muss es wahrscheinlich auch mit dem nicht einfachen Vorsatz verbinden, die ihr längst abhanden gekommene Wirtschaftskompetenz zurückzugewinnen.
Barenberg: Lassen Sie uns noch auf die Union, insbesondere auf die CDU natürlich nach der schweren Niederlage gestern schauen. Ist das eigentlich eine Niederlage für die Kanzlerin, oder nicht aus Ihrer Sicht?
Holtmann: Das gestrige Votum für die AfD ist ja in einem hohen Maße von der Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik der Berliner Regierung geleitet. Es dominiert eine bundespolitische Gefühlslage und so gesehen ist auch die Bundespolitik zweifellos gefordert. Aus meiner Sicht kann man den Akteuren der Großen Koalition, der Kanzlerin nur nachdrücklich ans Herz legen, ein Integrationskonzept für die Bewältigung der Zuwanderung, der Flüchtlingsproblematik vorzulegen, welches die beiden bisher getrennt behandelten Komponenten der angemessenen Sorge für Asylbewerber und Flüchtlinge einerseits und der ebenso angemessenen Sorge für sozial benachteiligte, für sozial schwache Schichten im Lande andererseits zusammenzuführen. Das kann man ja und an der finanziellen Situation kann und muss so was in der Bundesrepublik auch nicht scheitern. Denn es wäre ganz gefährlich, wenn sich der Eindruck festsetzen würde, die einen werden finanziert auf Kosten der anderen.
Barenberg: Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann heute hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen und Analysen, Herr Holtmann. Danke für Ihre Zeit.
Holtmann: Bitte schön.
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