Wenn eine CD im Jahr 2019 die Überschrift trägt "FREE AMERICA!", dann wird man sofort hellhörig. Spielt dieser Titel – zu übersetzen mit "Befreit Amerika!", vielleicht auch nur mit "Freies Amerika!" - etwa auf die aktuelle politische Situation in den USA an? Ganz auszuschließen ist dies nicht, denn im Beihefttext ist gleich von Ideen die Rede, die "bis heute debattiert" würden: Einheit, Freiheit und Demokratie.
Doch die neue Aufnahme der Boston Camerata stellt Musik aus einer längst vergangenen Epoche vor, aus der Zeit, als die Vereinigten Staaten unabhängig wurden. Der Untertitel der CD, die unter der Leitung von Anne Azéma gerade erschienen ist, lautet: "Early Songs of Resistance and Rebellion — Frühe Lieder von Widerstand und Rebellion".
Musik: Thomas Augustine Arne/Robert Treat Paine (Text), Rise Columbia!
Aus der heimlichen britischen Nationalhymne "Rule Britannia" von Thomas Augustine Arne wurde in Nordamerika "Rise Columbia! - Steig empor, Columbia, mutig und frei" – mit Columbia waren die jungen USA gemeint.
Kampfesmut und Gottergebenheit
Auf dem Cover der neuen CD der Boston Camerata wird die Frage gestellt: "Die Vereinigten Staaten von Amerika, ein gelobtes Land?" Viele Bürger der jungen Republik empfanden dies so und die Lieder der Aufnahme spiegeln dies wider. Sie feiern die Unabhängigkeit von den Engländern, die Bereitschaft zum Kampf und die neu gewonnene Versammlungsfreiheit. Zugleich rufen sie die Menschen dazu auf, zusammenzustehen, ihre Sünden zu bekennen und ihr Schicksal, insbesondere die Armut, anzunehmen.
Die Mehrzahl der präsentierten Stücke hat einen geistlichen Inhalt, aber auch wenn weltliche Ereignisse besungen werden, wird am Ende gern dem Schöpfergott gehuldigt. So wie es in dem Lied von Andrew Law der Fall ist, das die Schlacht von Bunker Hill besingt, einem frühen Wendepunkt im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg.
Musik: Andrew Law, Bunker Hill
Sensibles Annähern an volkstümliche Gesänge
Die Boston Camerata versammelt auf ihrer neuen CD amerikanische Musik aus dem späten 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Einige Lieder werden mit Instrumentalbegleitung vorgetragen und auch eine Handvoll kleiner Märsche sind zu hören. Doch den überwiegenden Teil der fast 30, durchgehend kurzen Kompositionen singen die sechs Sängerinnen und Sänger des Ensembles a cappella.
Und sie nähern sich dem Repertoire sehr sensibel. Zwar sind die Stücke meist noch in ihrer Entstehungszeit notiert worden, dennoch knüpfen sie an Traditionen der Volksmusik an.
Nicht professionelle Komponisten haben die Lieder geschrieben, sondern Handwerker oder Prediger, die autodidaktisch an die Musik herangingen. Sie setzten ihre Werke harmonisch sehr einfach und nicht selten gegen die etablierten Regeln der westlichen Kunstmusik. Oft nahmen sie auch ältere Vorlagen zu Hilfe, die aus England mit in die Neue Welt hinübergewandert waren. Deshalb muten diese Werke leicht archaisch an und erinnern an europäische Musik aus dem Mittelalter und der Renaissance.
Für moderne Berufsmusiker besteht die Herausforderung darin, die Stücke möglichst ungekünstelt und natürlich aufzuführen – auch wenn man hört, dass die Interpreten gut ausgebildete Stimmen besitzen.
Die Boston Camerata löst diese Aufgabe souverän, wobei ihr zu Hilfe kommt, dass die Kompositionen bei aller formaler Einfachheit oft sehr bewegende Melodien haben und eine große spirituelle Kraft entfalten.
Langjährige Beschäftigung mit dem Repertoire
Zudem ist das Ensemble sehr erfahren in dieser Musik, denn sein ehemaliger Leiter Joel Cohen hat schon vor vier Jahrzehnten angefangen, sich neben der Alten Musik aus Europa mit ihr zu beschäftigen. Das Programm der neuen CD hat Anne Azéma erarbeitet, die die Camerata seit elf Jahren leitet.
Musik: Anonymus (Slave Songs, New York 1867), My Body Rock ’Long Fever
Dies war Joel Frederiksen mit einem anonymen Spiritual, das in New York in einer Sammlung von "Sklavenliedern" veröffentlicht wurde. Es soll im Staat South Carolina aufgezeichnet worden sein und ist damit eines der wenigen Stücke auf der "Free America!"-CD, das nicht aus dem Nordosten der USA stammt.
Da Anne Azéma das Programm um den Unabhängigkeitskampf gegen die Engländer herum aufgebaut hat, ist die geographische Beschränkung verständlich – auch wenn Käufer der Platte dadurch weitgehend auf Lieder von Siedlern in den Südstaaten oder von Afroamerikanern verzichten müssen.
Gewissermaßen an deren Stelle haben die Produzenten einige Songs aus einer Tradition gesetzt, mit der sich die Boston Camerata schon lange befasst: Musik der Shaker.
Spirituals der "Shaker"
Die Mitglieder dieser religiösen Gruppierung lebten zölibatär in Dörfern. Inzwischen sind sie so gut wie ausgestorben, sie sind aber bis heute für ihre formal strengen und handwerklich hochwertigen Möbel berühmt.
In starkem Kontrast zur einfachen Lebensführung der Shaker standen ihre spirituell aufgeheizten Gottesdienste. Die feierten sie ganz ohne Instrumente, aber mit rituellen Tänzen. Die ekstatischen Bewegungen der Mitglieder in den Versammlungen brachten ihnen den Namen "The Shakers" ein. Viele ihrer Spirituals sangen sie ohne Text nur auf Silben – sie empfanden die Melodien als direkt von Gott eingegebene spirituelle Geschenke.
Bei den pazifistischen Shakern waren Männer und Frauen ebenso gleichberechtigt wie Weiße und Schwarze. Die Sklavin Patsy Williamson wurde von den Shakern von Pleasant Hill in Kentucky freigekauft und sie entschied sich, in der Gemeinschaft zu bleiben. Von ihr stammt das Lied "Pretty Home — Schönes Zuhause".
Musik: Sister Patsy Williamson, Pretty Home (Shaker Song) und Otis Sawyer (Editor), Sanctum Te (Shaker Song)
Die neue CD der Boston Camerata bietet einen aufschlussreichen Überblick über die Musik in der Neuenglandregion der USA, nachdem diese ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten. Spannend ist dabei der Kontrast: Politische Songs werden vom damals üblichen Instrumentarium Pfeifen und Trommel begleitet, auf der anderen Seite stehen a cappella vorgetragene geistliche Lieder, die im Zusammenhang mit christlichen Erweckungsbewegungen entstanden sind.
Hingebungsvoller a capella-Gesang
Die Ensembleleiterin Anne Azéma hat für das außergewöhnliche Programm einen idealen Aufnahmeort gefunden, einen ehemaligen Getreidespeicher in der französischen Region Limousin. Nicht ganz so perfekt wie der Klang der CD ist das Booklet, das nur englische und französische Texte enthält. Außerdem liefert Azéma in ihrem einführenden Essay keinerlei Informationen zu den Shakern.
Entscheidend bleibt aber die Musik! Und die lässt gut jene Inbrunst nachvollziehen, mit der die amerikanischen Siedler von ihrer neu gewonnenen Freiheit im "gelobten Land" gesungen haben müssen.
Musik: Anonymus (Slg. Sacred Harp), Hebrew Children und Anonymus (Trad.), Captain Robert Kidd
Free America!
Early Songs of Resistance and Rebellion
Werke von Jeremiah Ingalls, Andrew Law, William Billings, Patsy Williamson u.a.
The Boston Camerata
Ltg.: Anne Azéma
Harmonia Mundi France EAN: 3149020938256
Veröffentlichungsdatum in Deutschland: 13. September 2019
Early Songs of Resistance and Rebellion
Werke von Jeremiah Ingalls, Andrew Law, William Billings, Patsy Williamson u.a.
The Boston Camerata
Ltg.: Anne Azéma
Harmonia Mundi France EAN: 3149020938256
Veröffentlichungsdatum in Deutschland: 13. September 2019